Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 16. Oktober 2010 – 11.05 – 12.00 Uhr Keine Zukunft im Bel Paese – Italien vernachlässigt seine junge Generation mit Reportagen von Nadja Fischer Redakteurin am Mikrophon: Katrin Michaelsen Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Eine junge Italienerin mit dem Wunsch nach Eigenständigkeit: Ich war mir sicher, mit 25 zu heiraten und eine Familie zu gründen. Nie hätte ich gedacht, dass ich mit 33 Jahren noch bei meinen Eltern wohnen würde! Und ein Demograf über Italiens düstere Aussichten: Es ist paradox: Wir haben in Italien so wenige junge Menschen wie nirgendwo sonst in Europa – aber kaum ein anderes Land behandelt sie so schlecht wie wir! Weitsichtige Politiker würden erkennen, dass wir in unsere wenigen Jungen investieren müssten. Jedes Land – auch Italien - braucht die Jungen, um wirtschaftlich wachsen und konkurrenzfähig bleiben zu können. Keine Zukunft im Bel Paese. Italien vernachlässigt seine junge Generation. Gesichter Europas mit Reportagen von Nadja Fischer. Am Mikrofon Katrin Michaelsen. Italien mag ein Land sein, das die Kinder, die „Bambini“ liebt. Doch die Zukunft dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen sieht nicht rosig aus: Jeder vierte ist arbeitslos. Und wer Arbeit hat, muss sich mit Löhnen zufrieden geben, die zu den niedrigsten in Europa gehören. Von einer Festanstellung wagt kaum ein junger Italiener mehr zu träumen: es werden überwiegend Zeitverträge abgeschlossen. Laut der Gewerkschaft CGIL waren im Jahr 2008 siebzig Prozent aller neuen Arbeitsverträge „a singhiozzo“, zu deutsch: so kurz wie ein Atemzug, also zeitlich befristet. „Precari“ nennen die Italiener diese Angestellten auf Zeit. „Precario“ – das bedeutet „instabil“ und „unter schwierigen Bedingungen“. Denn Zeitarbeiter werden nicht nur schlecht bezahlt, sie sind de facto auch ohne sozialen Schutz. 13 Prozent der Italiener sollen nach Schätzungen der Regierung „precari“ sein, Tendenz steigend. Denn es sind vor allem die jungen Italienerinnen und Italiener, die unter der Wirtschaftskrise leiden. Valeria Roggero ist 33 Jahre alt. Die studierte Ökonomin hat sich auf Mikrokredite spezialisiert. Seit zwei Jahren arbeitet sie in Rom für einen Verein, der solche Kleinkredite vermittelt – an Leute, die dringend Geld brauchen, es von den Banken aber nicht bekommen. Zur Kundschaft gehören viele Ausländer, aber auch junge Italiener kommen in das knapp 15 Quadratmeter große Büro. Tag für Tag ist Valeria Roggero mit ihren finanziellen Nöten konfrontiert und setzt alles daran, eine Lösung zu finden. Nur – sie selber ist nicht besser dran. Reportage 1: Valeria Roggero – Das Leben einer precaria Wann er mit dem Geld rechnen könne, fragt der Mann aus dem Kongo, der einen Kleinkredit von 3000 Euro beantragt und soeben die letzten notwendigen Dokumente vorbeigebracht hat. Bis spätestens Ende Woche, versichert ihm Valeria Roggero und begleitet ihn zur Tür. Ein Händedruck, ein paar aufmunternde Worte. Die blonde, leicht mollige Frau trifft auch nach einem langen Arbeitstag den richtigen Ton. Valeria Roggero setzt sich an den Tisch und füllt am Computer ein Formular aus. Sie lächelt zufrieden. Wenn mir die Arbeit nicht gefallen würde, wäre ich nicht mehr hier … bei diesen Arbeitsbedingungen…. Valeria Roggero hat keinen Vertrag. Sie arbeitet schwarz, und das seit zwei Jahren. Ich erhalte nur eine Spesenvergütung. Anfangs waren das 200 Euro im Monat, jetzt sind es 600 Euro. Aber auch mit 600 Euro kann ich nicht leben… Mit Freunden ausgehen, das liegt nur ab und zu drin. Und die teuren Kontaktlinsen bezahlen mir meine Eltern. Die Leute, die wegen Krediten zu mir kommen, verdienen alle mindestens 900 Euro, und manche, die schon etwas älter sind, haben sogar eine Festanstellung. Sie sind fast alle besser dran als ich. Ein Universitätsabschluss in Ökonomie, ein Master mit Spezialisierung auf Mikrokredite, Auslandseinsätze für die UNO. Valeria Roggeros Curriculum lässt sich sehen. Und doch hangelt sich die heute 33-Jährige seit 10 Jahren von einem Zeitvertrag zum Nächsten. Ist sie vielleicht zu wählerisch? Anfangs suchte ich tatsächlich nur in meinem Spezialgebiet einen Job – also im Bereich der Mikrokredite. Als ich nichts fand, war ich aber bereit zu Kompromissen. Ich fand schliesslich Arbeit in einer Kleider-Firma: Meine Aufgabe war es, Kleider-Bestellungen in eine Datenbank einzugeben. Eine schrecklich monotone Arbeit, für die man natürlich keinen Studienabschluss braucht. Dass auch dieser Job befristet und schlecht bezahlt war, sei ihr nur recht gewesen. So musste sie ihm keine Träne nachweinen, sagt Valeria lachend, fährt ihren Computer herunter und packt einen Stapel Unterlagen in ihre Tasche. Es ist halb Acht. Feierabend. Jetzt nehmen wir die U-Bahn B bis zum Bahnhof Termini, dann die U-Bahn A fast bis zur Endstation. Eine Stunde dauert das - jeden Abend…. Um halb Neun Uhr abends ist Valeria zuhause – am anderen Ende der Stadt. Vor 15 Jahren war ich mir sicher, mit 25 zu heiraten und eine Familie zu gründen. Nie hätte ich gedacht, dass ich mit 33 Jahren noch bei meinen Eltern wohnen würde! Valerias Mutter steht am Herd und dünstet Zucchini an. Der Vater sitzt am Küchentisch und blättert in einer Zeitung. In einer Ecke läuft der Fernseher. Die 33-jährige Tochter immer noch zuhause - für die Eltern ein Traum? Sie geniesse das schon, gibt die Mutter unumwunden zu und schüttelt die Bratpfanne mit den Zucchini. Wir versuchen auch, unserer Tochter Mut zu machen, darauf zu vertrauen, dass sie es schafft. Sie ist jung und hat – wie alle Jungen - so viel zu bieten! Zu unserer Zeit war es normal, fest angestellt zu sein. Dieser Vorstellung hängen wir immer noch nach…. Ich weiss aber, dass das heute ein Traum ist. Es gibt fast nirgendwo mehr unbefristete Verträge – nicht einmal beim Staat oder bei den Banken. Für Valeria ist es schön, abends nach Hause zu kommen und mit Jemandem plaudern zu können. Sie bringt ihre Tasche in ihr Zimmer. Auf dem Schreibpult steht ein gerahmtes Foto von ihr und ihrem Freund, auf dem Bett liegt ein grosser, grüner Stoff-Frosch. Ehrlich gesagt plane ich aber im Moment, mir endlich eine Wohnung für mich alleine zu suchen. Ich will diesen Schritt endlich machen. Und Valeria verrät, dass sie wahrscheinlich schon bald im Auftrag einer Finanzgesellschaft Mikrokredite vergeben wird. Die Chancen stünden gut, dass sie schon bald keine „precaria“ mehr sei, sagt Valeria Roggero und strahlt. Der Vertrag mit der Finanzgesellschaft ist vorerst auf ein Jahr befristet, kann aber verlängert werden, wenn ich genügend Mikrokredite verkaufe. Ich habe einen Vertrag als freie Mitarbeiterin und werde 900 Euro netto verdienen. Vermittle ich mehr als fünf Mikrokredite im Monat, erhalte ich drei Prozent Umsatzbeteiligung. Klar – falls das Geschäft nicht läuft, kann mich die Firma jederzeit rauswerfen. Aber soweit kommt es hoffentlich nicht. Ein Vertrag ohne jegliche Sicherheit, ohne bezahlte Ferien und Krankheitstage - zu Recht ein Grund zur Hoffnung? Ich weiss, es wird eine Schufterei, aber immerhin habe ich einen Vertrag und arbeite nicht mehr schwarz. Und 900 Euro Grundlohn, so Valeria, das seien immerhin 300 Euro mehr, als sie heute verdiene. Dass eine Einzimmerwohnung auch in der Peripherie Roms mindestens 600 Euro kostet, schreckt Valeria einstweilen nicht ab. Zu gross ist die Hoffnung, endlich auf eigenen Beinen stehen zu können. In Italien zieht der Nachwuchs spät von zuhause aus. Jeder dritte Italiener zwischen 30 und 34 Jahren lebt noch bei den Eltern. Eine Generation von unfreiwilligen Nest-Hockern. Ohne sicheren Job, ohne genügend Geld. Den Schritt in ein eigenständiges Leben trauen sich viele nicht zu. Besonders die jungen italienischen Männer gelten als verunsichert und zögerlich. Für Pier Luigi Celli war klar: seinem Sohn sollte es nicht so ergehen. Nun ist Pier Luigi Celli nicht irgendwer, sondern der Generaldirektor der renommierten römischen Privatuniversität LUISS. Er gab seinem Sohn den ausdrücklichen Rat: Verlasse nicht nur Dein Zuhause, sondern am besten auch gleich Italien. Eine Aufforderung, die Pier Luigi Celli nicht allein als reine Privatangelegenheit verstand. Er schrieb seinem Sohn einen Brief, der in der Tageszeitung „La Repubblica“ veröffentlicht wurde: BRIEF 1 Mein Sohn, bald wirst Du Dein Universitätsstudium abschliessen. Alles hat bestens geklappt. Ich habe Dir nichts vorzuwerfen. Gerade deshalb erfüllt es mich mit so viel Bitterkeit, Dir das Folgende zu sagen: Dieses Land ist kein Ort, in dem man voller Stolz bleiben kann. Schau Dich um: Italien ist zerrissen und zerstritten. Es dominiert ein ungesunder Individualismus. Unsere Gesellschaft ist bereit, Werte wie Solidarität und Ehrlichkeit an den Meistbietenden zu verkaufen, um als Gegenleistung unrechtmässige Privilegien zu erhalten oder einen Karrieresprung zu machen, auch wenn er noch so unverdient ist. Du wirst auf Personen stossen, die vielleicht mal Taxifahrer waren. Dann aber aus unerfindlichen Gründen plötzlich im Direktorium einer Firma sitzen. Oder gar einen hohen Posten in einem staatlichen Energieunternehmen erhalten, obwohl sie keine Ahnung von Gas und Elektrizität haben. Ein gutes Zeugnis zu haben zählt in diesem Land wenig. Mit schwerem Herzen muss ich Dir darum raten: Geh ins Ausland. Geh in ein Land, wo Aufrichtigkeit, Respekt und Leistungsbereitschaft Werte sind, die noch etwas zählen. Du wirst auch dort kein Paradies vorfinden. Und Du wirst an Heimweh leiden und - so hoffe ich - hin- und wieder an Deine Eltern denken. Aber ich wünsche Dir, dass Du es dort schaffst, das zu erreichen, worauf Du Dich während Deines ganzen Studiums vorbereitet hast. Italien verdient Dich nicht. Wir wollten dieses Land ändern, aber wir haben es nicht geschafft. Ich weiss, was Du mir nun antworten wirst. Du wirst mir sagen, dass alles, was ich gesagt habe, wahr sei, dass auch Du angewidert seiest von all dem, aber dass Du, gerade deswegen, nicht aufgeben willst. Ich weiss nicht, ob ich mich wegen Deiner Beharrlichkeit sorgen oder freuen soll. Wie auch immer, mein Sohn: Bereite Dich vor. Du wirst in jedem Fall viel leiden. In Liebe - Dein Vater Tatsächlich kehren immer mehr junge Italiener ihrem Land den Rücken, suchen ihr Glück im Ausland. Und wählen damit einen Weg, den bereits ihre Großelterngeneration gegangen ist. Italien war über Jahrzehnte ein Auswanderungsland, erst in den 80er und 90 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte diese Tendenz gebremst werden. Heute sind es nicht mehr die ungelernten Arbeiter, die das Bel Paese verlassen, sondern die gut Ausgebildeten. Weil sie davon überzeugt sind, nur im Ausland eine Arbeit zu finden, die auch ihrer Qualifikation entspricht. Italien ist drauf und dran, seine zukünftige Elite zu verlieren – und hat das lange nicht gemerkt. Wie viele Junge den Schritt in die Fremde gemacht haben, weiß niemand genau. Offizielle Zahlen gibt es keine. Geschätzt wird, dass in den letzten zehn Jahren über 200.000 Universitätsabgänger Italien verlassen haben. Mit jeder Familie, die eine Tochter, einen Cousin oder einen Bruder im Ausland hat, rückt die neue Emigration stärker ins Bewusstsein der italienischen Öffentlichkeit. „Radio24“, der Radiosender der liberalen Mailänder Wirtschaftszeitung „Il sole 24 ore“, widmet der neuen Emigrationswelle seit Anfang Jahres eine eigene Sendung. Reportage 2: Emigration – Für viele der einzige Ausweg „Junge Talente“ heisst die Sendung, die jeden Samstag um 15 Uhr auf Radio24 zu hören ist. Untertitel: Stimmen aus der Emigration. Als ich Italien verliess, weinte mein Opa und sagte zu mir: Ich bin doch einst ausgewandert, damit Ihr heute nicht mehr gehen müsst. Wir sind nicht gegangen, weil wir die Welt sehen wollten. Hätte man uns in Italien gefördert, wäre uns nicht in den Sinn gekommen auszuwandern. Moderator Sergio Nava – selber erst 35 Jahre alt - lässt in seiner Sendung Altersgenossen zu Wort kommen - per Telefon. Die meisten jungen Talente melden sich aus dem Ausland. Sie haben Italien definitiv den Rücken gekehrt. Diese Woche erzählt Laura Perin, eine 36-jährige Biologin, wie es sie nach Los Angeles verschlagen hat. Und wie sie dort Karriere gemacht hat. Ich muss sagen: Mein Biologie-Studium an der Universität von Padua war toll. Ich hatte sehr gute Dozenten. Die Probleme begannen erst nachher… Dann nämlich, als sie sich nach dem Studium für eine Doktorats-Stelle beworben habe, erzählt Laura Perin dem Moderator. Ich habe die Stelle tatsächlich erhalten - nicht aber ein Stipendium. Dazu fehlten mir die notwendigen Beziehungen. Beziehungen – ja, die braucht es in Italien leider… Genau.. Meine Familie musste mich notgedrungen weiter unterstützen. Nur: Es gefiel mir in diesem Labor überhaupt nicht: Niemand interessierte sich für mich, jeder dachte nur an sich und der Betrieb war vollkommen hierarchisch organisiert. Ich hatte das Gefühl, dort nicht weiterzukommen. Als Laura Perin die Gelegenheit erhielt, an der Harvard-Universität in Boston ihre Doktorarbeit zu schreiben, zögerte sie darum keine Sekunde. Mit dem Doktorat in der Tasche kehrte sie schliesslich nach Padua ins Labor zurück - und musste feststellen, dass die Professoren sie noch immer links liegen liessen. Ganz anders ein Professor aus Boston: Er bot ihr an, mit ihm ein neues Forschungslabor in Los Angeles aufzubauen. Es sei kein leichter Schritt gewesen, die Heimat zu verlassen – sagt Laura Perin. Doch bereut habe sie ihn nicht. Es war wirklich eine sehr interessante Erfahrung, ein Labor von Null aufzubauen. Es war eine Knochenarbeit. Aber es hat sich gelohnt. Das Labor hat sich etabliert. Wir arbeiten mit Stammzellen und erforschen die Regenerationsmöglichkeit von Nieren. In Italien verschmäht, im Ausland begehrt. Kein Einzelfall. Sergio Nava lässt darum nicht nur Auswanderer zu Wort kommen, sondern listet in einer Rubrik auch freie Stellen im Ausland auf. Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Spanien und die USA - das seien die begehrtesten Ziele – und immer mehr auch China, erzählt Sergio Nava, der sich nach der Sendung einen Kaffee im Plastikbecher gönnt. Nava – schicker Kittel, Jeans - rührt den Zucker um, kneift die Augen zusammen und erzählt dann von seinen Auslandserfahrungen: Er habe mehrere Monate Praktika in Frankreich und Deutschland gemacht. Und dort, im Ausland, sei er zu seiner Überraschung auf eine grosse Gemeinde von italienischen Altersgenossen gestossen. Man sprach in Italien schon seit langem vom Phänomen des „Brain Drain“ und meinte damit das Abwandern von Wissenschaftlern. Dass sich Wissenschaftler ins Ausland begeben, schien normal. Im Ausland wurde mir aber klar, dass längst nicht nur Wissenschaftler emigrieren, sondern auch Anwälte, Ingenieure, Journalisten, Ärzte und Musiker. Nicht, weil sie die Welt erobern wollen. Sondern mangels Zukunftsperspektiven in Italien. Ich begann zu realisieren, dass wir es mit einem Massenphänomen zu tun haben. Dass Hunderttausende junge Italiener ihrer Heimat den Rücken kehren. In seinem Mailänder Büro erhält Nava inzwischen fast täglich Mails von Auswanderern. Fast alle Berichte fielen positiv aus, erzählt Sergio Nava; die Heimat Italien lasse aber viele nicht los. Einige versuchen zurückzukehren, aber viele schaffen es nicht. Viele schreiben mir: ich habe es versucht. Aber die Löhne sind zu tief, die Bewerbungsverfahren sind zu intransparent - In Italien zählt nicht, was Du kannst, sondern welche Beziehungen Du hast, wie Du Dich verkaufst. Hand aufs Herz: Gute Kontakte und das richtige Netzwerk spielen doch überall eine grosse Rolle. Sergio Nava schüttelt dezidiert den Kopf: Es gebe einen zentralen Unterschied: Wer im angelsächsischen Raum, in Mittel- oder Nordeuropa jemanden für einen Job empfehlen will, tut dies auf offiziellem Weg: Er schreibt einen Brief und bürgt mit seinem Namen für die Person. Sollte sich die Person, für die er die Hand ins Feuer gelegt hat, als Fehlbesetzung erweisen, so ist seine Glaubwürdigkeit angeschlagen. Ganz anders in Italien: Hier läuft alles unter der Hand ab. Hier weiss niemand, wer wen wem warum empfohlen hat. Und es weiss darum auch niemand, wer wem welche Gegenleistung schuldet. Gut möglich, dass jemand eine Person für einen Job empfiehlt, weil er bei ihr noch in der Schuld steht. In Italien basiert alles auf dem Austausch von Gefälligkeiten. In Sergio Navas Stimme schwingt Bewunderung mit, als er von einem Freund in den USA erzählt, der in der Personalabteilung einer grossen Firma arbeite. Dort werden alle Mitarbeiter jedes Jahr neu getestet, ob sie noch ins Unternehmen passen. Ein knallhartes Leistungsprinzip, das Nava trotzdem immer noch sympathischer erscheint, als die Vetternwirtschaft in Italien. 85 Prozent der Stellen werden laut der italienischen Handelskammer nicht öffentlich ausgeschrieben, sondern unter der Hand vergeben. Wer nicht die richtigen Beziehungen hat, weiss nicht einmal, wo es Arbeit gibt. Ohne die richtigen Telefonnummern hast Du keine Chance. Und wer längere Zeit im Ausland war, hat häufig erst recht keine Kontakte mehr. Dabei, so Nava, könnten zurückgekehrte Auswanderer Italien vieles bieten. Und wie um dies zu beweisen, wechselt Sergio Nava zum Abschluss des Gesprächs die Sprache. Es ist eine Situation, in der man nur ins Ausland gehen kann… Ich hoffe, dass etwas ändert…. Aber ich habe keine Sicherheit. Zu viel Wechsel ist gebraucht, ein Mentalitätswechsel. BRIEF 2 Sehr geehrter Herr Staatspräsident Napolitano, Ich komme nicht aus Spanien zurück, weil arbeitswillige und engagierte Junge im heutigen Italien keine Gelegenheit erhalten sich zu beweisen. Italien war einmal ein Land, das Produkte auf höchstem Niveau herstellte und von Europa und der ganzen Welt für diese exzellenten Leistungen respektiert wurde. Heute sind wir - wenn überhaupt - nur noch in einzelnen Nischensektoren ein Vorbild. Ich könnte mir vorstellen zurückzukehren, wenn die Politiker und Unternehmer sich ernsthaft dafür einsetzten, dass in Italien eine neue Ära der Exzellenz anbricht, in der junge Talente nicht einfach billige Arbeitskräfte sind, sondern ein strategisches Kapital, in das man investiert. Michele Lanzinger, 35 Jahre alt, Manager und Unternehmer in Spanien. Jeder fünfte Italiener zwischen 15 und 29 Jahren hat keinen Ausbildungs - oder Studienplatz, noch geht er einer Arbeit nach. Das bedeutet: 2 Millionen junge Männer und Frauen stehen auf dem Abstellgleis. Italien ist damit führend in Europa. Die Jugendarbeitslosigkeit betrifft ganz Italien. Doch vor allem im Süden sieht es finster aus. In Kampanien, der Region Neapels, sind 38 Prozent der Jugendlichen ohne Job. Kampanien ist eine Region mit wenig schmeichelhaften Superlativen: die Schwarzarbeit ist weit verbreitet, außerdem finden sich nirgendwo sonst so viele Gemeinden, die von der neapolitischen Mafia, von der Camorra, durchsetzt sind. Es gibt aber auch nirgendwo sonst so viele Fernsehcastings und Schönheitswettbewerbe – Hoffnung für viele Mädchen und junge Frauen, den Sprung aus der Armut zu schaffen. Castellammare di Stabia liegt eine halbe Auto-Stunde südlich von Neapel entfernt. Eine der größten Schiffswerften Italiens steht hier, sie ist jedoch von der Schließung bedroht. Bekannt ist Castellamare di Stabia auch für sein Thermalbad. Durch den Park des Thermalbades zieht sich an diesem Abend ein Laufsteg. Für das Finale des Schönheitswettbewerbs „Miss Ondina Sport“ – die „Sportnixe des Jahres“ Reportage 3: Wo es keine Hoffnung gibt, wachsen die Träume in den Himmel UNO TRE CINQUE SETTE NOVE… OTTO DIECI Der Choreograf – Pferdeschwanz, offenes Hawaii-Hemd – bläut den Mädchen ein letztes Mal die wichtigsten Schritte für den Auftritt ein. Die Mädchen tragen noch Jeans und T-Shirts. Nur Nummernschildchen weisen sie als Teilnehmerinnen des Schönheitswettbewerbs aus. Nummer 37 beisst sich auf die noch ungeschminkten Lippen, Nummer 12 nestelt unablässig an ihren Haaren. Ich heisse Antonietta…., ich bin die Nummer 12, bin 16 Jahre alt und mache in Neapel eine Ausbildung als Schneiderin. Ich träume aber davon, als Fotomodell zu arbeiten. Und vielleicht auch aus ihrem Heimatort Torre Annunziata wegzukommen – einem Vorort Neapels, wo die Camorra alles beherrscht - auch den Arbeitsmarkt. Auch ich würde gerne als Fotomodell arbeiten - oder als „Velina“ im Fernsehen auftreten. Das ist der Traum von uns allen. Aber es ist halt schwierig, in diese Welt reinzukommen. Und wenn es nicht klappen sollte mit der Model-Karriere? Ich wäre auch gerne Kinderärztin, oder Anwältin…. Aber auch mit solchen Berufen ist es hier im Süden nicht einfach. Es gibt hier kaum Arbeit. Da muss man schon nach Mailand ziehen. In Neapel gibt es einfach nichts. Dann geht’s los. Eine technische Panne. Alles nochmals von vorne, bitte – da capo. Fürs lokale Fernsehen, das die Show aufzeichnet. Die Mädchen sind nicht mehr wieder zu erkennen. Geschminkt, frisiert, in goldenen Bikinis und Sandalen tänzeln die 40 Konkurrentinnen über den Laufsteg. Die Jurymitglieder blicken streng und machen geschäftig Notizen, die Eltern, Grosseltern und Geschwister im Publikum strahlen vor Stolz. Mir gefällt es, meine Tochter auf der Bühne zu sehen. Das ist ein Traum – als ob ich sie im Fernsehen sähe. Meine Tochter ist für mich ein Star. In der hintersten Stuhlreihe sitzt ein junger Mann, den die Präsentation der lokalen Schönheiten weniger zu packen scheint. Er hat sich an der Bar soeben Wasser und Chips geholt. Massimiliano Virgilio ist quasi aus beruflichem Interesse hier. Der 31-jährige Journalist und Autor hat vor kurzem eine Art Tagebuch veröffentlicht über die Faszination der Neapolitanerinnen und Neapolitaner für das Showbiz. Und über Erwartungen, die enttäuscht werden. Die Gewinnerinnen solcher Wettbewerbe haben in der Regel keine Zukunft. Sie werden enttäuscht – und ihre Familien verlieren viel Geld. Denn eine Tochter auf den Laufsteg vorzubereiten, kostet viel Geld. Um den Fotografen, Model-Kurse und Make-Up zu bezahlen, müssen sich die Familien häufig verschulden. Und hier in der Region von Neapel heisst das meistens: Sie leihen sich Geld bei der Camorra – zu Wucherzinsen von 50 und mehr Prozenten. Das zerstört ganze Familien. Auch vom Erfolg als Sänger träumten in Neapel viele, erzählt Massimiliano Virgilio weiter. Schliesslich habe die Stadt eine lange Volksliedtradition. „Neomelodici“ – also die „Neuen Melodischen“: So werden die jungen Sängerinnen und Sänger genannt, die an diese alte Tradition anknüpfen und im neapolitanischen Dialekt die Liebe besingen – unterlegt von elektronischen Beats. Es gibt Tausende und Abertausende von solchen Sängerinnen und Sängern. Sie kommen meist aus Elendsvierteln Neapels. Und auch sie nehmen schon mal 20‘000 Euro bei der Camorra auf, um eine CD herauszugeben, die dann trotzdem kaum je weiter als im eigenen Häuserblock verkauft wird. Im besten Fall können Neomelodici an Hochzeitsfeiern oder in Einkaufszentren auftreten – aber damit lassen sich die Schulden nicht abzahlen. Ein Teufelskreis, aus dem die jungen Sängerinnen und Sänger nicht mehr herausfinden. Massimiliano Virgilio nimmt einen Schluck Wasser und wirft einen Blick auf die Bühne, wo das Moderatoren-Team zum wiederholten Mal den Sponsoren dankt. Der Schönheitswettbewerb soll auch die lokale Wirtschaft ankurbeln. Die Wirtschaft Kampaniens ist schwach. Geradezu grotesk wirken in Anbetracht der Armut die protzigen Shoppingzentren, die in der Region wie Pilze aus dem Boden schiessen und zu den Grössten der Welt gehören. Die Einkaufszentren sind häufig mit Geldern der Camorra gebaut und dienen dieser als Geldwaschanlage. Für die Jungen Kampaniens, so Massimiliano Virgilio, seien sie beliebte Treffpunkte. Ein Junger in Marcianise, einer Camorra-Hochburg im Umland von Neapel, hat es schwer. Es gibt dort nichts – kaum Kinos, kein Theater, kein soziales Leben. Das macht die Shoppingzentren für die Jungen so attraktiv: Sie sind dort in Sicherheit, können gratis parken und durch teure Modeboutiquen schlendern – auch wenn sie kaum je etwas kaufen können. In den Shoppingzentren finden auch Tanzabende statt, Schönheitswettbewerbe und Fernseh-Castings. Diese Zentren füllen eine kulturelle Leere. Auf der Bühne präsentieren sich die jungen Frauen inzwischen in betont kurzen Cocktailkleidern und schwingen lasziv die Hüften. Massimiliano Virgilio ärgert sich, wenn Leute vorschnelle Urteile fällen über die angeblich so oberflächlichen Mädchen, die einzig ihren Körper zur Schau stellen wollten. In Süditalien, so Massimiliano Virgilio, gebe es kaum Zukunftsperspektiven. Da müssten die Jungen alles versuchen, um sich eine Zukunft zu erkämpfen. Kürzlich schrieb die Gemeinde Neapel 534 unbefristete Verwaltungs-Stellen aus –zur Eignungsprüfung erschienen Tausende. Häufig sind das die gleichen Jungen, die man wenig später an Fernseh-Castings oder Schönheitswettbewerben sieht. Die meisten kommen weder in die Verwaltung noch ins Fernsehen. Das Unglück hier ist manchmal wirklich total. BRIEF 3 Sehr geehrter Herr Staatspräsident Napolitano, Ich kehre nicht zurück, weil ich mich nach fünf Jahren in Schottland zuhause fühle. Meine ursprüngliche Heimat ist mir hingegen fremd geworden. In Italien fehlt nicht nur Geld für die Forschung - ein grosses Problem ist auch die Mentalität. In Italien musste ich mich ständig gegen andere wehren, die an mir vorbeidrängeln wollten. In Grossbritannien erhalte ich, was mir zusteht - meinen Platz in der Schlange am Postschalter genauso wie Anerkennung in der Universität. Ich käme womöglich nach Italien zurück, wenn die Italiener aufhörten zu denken, es sei verdienstvoll, seine Ziele statt mit Leistung mit Schlauheit zu erreichen. Paolo Besana, 35 Jahre alt, Forscher in Grossbritannien. Italien war einmal ein Land mit vielen Kindern. Doch das Bild von der italienischen Mamma, die ihre zahlreichen Kinder im Griff hat, gehört mittlerweile in die Rubrik Nostalgie. Die Realität im Jahr 2010 sieht so aus, dass Italien das Land der Kinderlosigkeit ist. Mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa. Mit den wenigsten jungen Männern und Frauen unter 25. Das heisst: Das politische aber auch soziale Gewicht dieser Generation wird immer kleiner, wenn es darum geht, die ohnehin knappen finanziellen Mittel zu verteilen. Einen Beweis dafür liefert das Bildungssystem, das bereits jetzt am Boden liegt. Und doch ist die Regierung immer weniger bereit, in die Bildung zu investieren. Italien gehört damit zu den Schlusslichtern in Europa. Nur die Slowakei gibt noch weniger aus. Eine verhängnisvolle Entwicklung für jeden einzelnen Jugendlichen und für das ganze Land. Davon ist Alessandro Rosina überzeugt. Als Professor für Demografie ist die italienische Bevölkerungsentwicklung sein tägliches Geschäft. Alessandro Rosina unterrichtet an der größten Privatuniversität des Landes, an der „Università cattolica di Milano“. Die Hochschule ist in einem ehemaligen Kloster im Zentrum Mailands untergebracht. Reportage 4: Alessandro Rosina – Düstere Aussichten für das Land Italien Alessandro Rosina sitzt auf einer Bank im ehemaligen Klostergarten und liest eine Zeitung. Hornbrille, Dreitagebart, schlaksiger Körper – der Mann könnte als Student durchgehen, trüge er nicht einen beigen Leinenanzug, der ihn von den Studierenden in Jeans und Pullovern unterscheidet. Alessandro Rosina ist 40 Jahre alt und scheint der Beweis dafür, dass junge, fähige Menschen es an italienischen Hochschulen zu etwas bringen können. Von wegen, kontert Rosina. Das stimmt leider überhaupt nicht. Die Universität ist ein Paradebeispiel für Gerontokratie – wie die ganze italienische Führungsklasse. Verglichen mit anderen Ländern ist unsere Elite viel älter, sie ist im Schnitt um die 60 Jahre alt. Und ganz der Statistiker und Demograf, legt Alessandro Rosina mit einer weiteren Zahl nach: Professoren unter 40 Jahren gibt es in Italien halb so viele wie im europäischen Schnitt. Doppelt so häufig gibt es hierzulande hingegen Professoren, die über 60 Jahre alt sind. Alessandro Rosina hat mit 36 Jahren den Wettbewerb für den Professorenposten an der katholischen Universität gewonnen – und die Professur tatsächlich erhalten. Das sei keineswegs selbstverständlich, meint Rosina und fügt an, dass auch er von Vetternwirtschaft und intransparenten Bewerbungsverfahren ein Lied singen könne. Bereits als junger Studienabgänger hatte er den Wettbewerb für eine andere Professur gewonnen. Der Wettbewerb wurde jedoch kurzerhand annulliert und der Posten einem anderen, älteren Bewerber zugeschanzt. In den hohen und unendlich langen Korridoren der Universität sitzen Studentinnen und Studenten in Gruppen am Boden und werfen einen letzten Blick auf ihre Bücher. Es ist Prüfungszeit. Alessandro Rosina blickt kurz auf seine Uhr und fährt dann ungefragt fort, die Lage der Jungen in Italien zu sezieren. Es ist paradox: Wir haben in Italien so wenige Junge wie sonst nirgendwo in Europa – aber kaum ein anderes Land behandelt sie so schlecht wie wir! Weitsichtige Politiker würden erkennen, dass wir in unsere wenigen Jungen investieren müssten, zum Beispiel in unser marodes Bildungssystem, damit sie – wenigstens qualitativ – mit den Jungen im Ausland mithalten können. Jedes Land – auch Italien - braucht die Jungen, um wirtschaftlich wachsen und konkurrenzfähig bleiben zu können. Alessandro Rosina ist ein belesener Mann. Sein Bürotisch quillt über mit Papier und Büchern. An der Wand des kleinen Büros hängen Fotos von zwei kleinen Kindern und Plakate von Veranstaltungen, an denen Rosina mitgewirkt hat. Ein grosses Poster zeigt ein Hochzeitspaar – Erinnerung an eine Tagung zum Thema „die italienische Familie“. Die Familie ist die grosse Ressource der italienischen Gesellschaft: Sie kompensiert alle Mängel – insbesondere natürlich die fast inexistente Sozialhilfe. Wer arbeitslos wird, wendet sich an seine Eltern. Ebenso, wer mit seinem dürftigen Lohn nicht über die Runden kommt oder wer für sein Kind keinen Hort findet. Ohne die Familie würde dieser Staat kollabieren. Alessandro Rosina setzt sich an seinen Schreibtisch, schiebt einen Stapel Bücher zur Seite und mit dem Zeigefinger die Brille auf seiner Nase zurecht. Er konstatiert: Die Solidarität zwischen den Generationen spiele nur innerhalb der Familienbande - ausserhalb der Familie sei sie inexistent. Nichts mache das deutlicher als das Beispiel der horrend hohen Staatsschulden, die heute bei 118 Prozent des Bruttoinlandprodukts lägen. In einem Land, wo die Solidarität zwischen den Generationen spielt, würden die älteren Generationen ihre Privilegien niemals auf Kosten der Jungen verteidigen. Genau dies ist aber hierzulande in den letzten 30 Jahren passiert. Statt auf Wachstum zu setzen und zu sparen, haben die Politiker immer mehr Schulden gemacht – und den nachkommenden Generationen eine riesige Schuldenlast vererbt. Und damit nicht genug: Auf dem Buckel der Jungen wurde schliesslich auch der Arbeitsmarkt flexibilisiert. Paradoxerweise, so Rosina, war es die linke Prodi-Regierung, die 1997 die befristeten Arbeitsverträge einführte. In Italien waren schon damals mehr Junge arbeitslos als im europäischen Schnitt. Die neuen, befristeten Verträge sollten Arbeitgeber dazu bringen, mehr Studienabgänger anzustellen; sie sollten für eine befristete Zeit Studienabgänger beschäftigen und testen können - dies zu tiefen Löhnen und praktisch ohne Sozialabgaben. Die Jungen umgekehrt sollten so die Möglichkeit erhalten, an verschiedenen Orten erste Berufserfahrungen zu sammeln. In einem zweiten Schritt sah man damals vor, das staatliche soziale Auffangnetz auszubauen, damit ein Junger nach Beendigung einer befristeten Stelle nicht ohne jegliche Hilfe auf der Strasse steht. Dieser zweite Schritt wurde aber nie in Angriff genommen. Und niemand – auch nicht die Gewerkschaften – forderten ihn je ein. Die Gewerkschaften verteidigten lieber die Renten der Alten. Für die Jungen setzte sich niemand ein. Bleibt die Frage, warum sich diese Generation nicht selber gewehrt hat. Alessandro Rosina erklärt sich das Schweigen damit, dass sie vom grundlegenden Wandel im Arbeitsmarkt überrumpelt worden sei. Hinzu komme, dass der tägliche Existenzkampf die ohnehin individualistische Tendenz dieser Generation noch verstärkt habe. Ein deutlich grösseres Interesse für die Gemeinschaft attestiert Rosina der nächsten Generation, den heute 25-Jährigen, die mit Internet aufgewachsen sind, sich dort ganz selbstverständlich in Gruppen zusammentun und für ihre Anliegen kämpfen. In diese neue Altersgruppe setzt Alessandro Rosina seine Hoffnung. Die Politikergeneration von heute wird in 10-15 Jahren abtreten - aus demografischen Gründen: Sie ist dann schlicht zu alt. Gerade weil so lange alles blockiert war, könnte der Generationenwechsel dann sehr radikal ausfallen. Das wird eine riesige Chance für die heute 25-Jährigen. Sie könnten das Land grundlegend erneuern. Vorausgesetzt natürlich, dass sie es auch wirklich ändern wollen: dass sie in die Jugend investieren, dass sie in Italien endlich das Leistungsprinzip einführen und den Klientelismus bekämpfen… Sonst wird trotz Generationenwechsel der Niedergang Italiens weitergehen. Alessandro Rosina blickt abermals auf seine Uhr und steht auf. Auch er wird heute noch Studentinnen und Studenten prüfen müssen – über die besorgniserregende Entwicklung der italienischen Bevölkerung. Schmiergeldaffären, mediale Schmutzkampagnen, partei-interne Streitereien. Seit Monaten dreht sich die italienische Politik im Kreis. Die Regierung scheint nur mit sich selbst beschäftigt zu sein – Ungeachtet der Wirtschaftskrise und ungeachtet der desolaten Lage vieler Italienerinnen und Italiener. Die „Associazione 360“ - der „Verein 360“ will die verkrustete italienische Politlandschaft aufbrechen. Seine jungen Sympathisanten kommen aus der „Partito Democratico“. Der demokratischen Mitte-Links Partei. Der Verein gibt sich aber betont eigenständig und will unabhängig von politischen Präferenzen sein. Der Einladung des Vereins zu einer Konferenz über die Probleme Süditaliens sind 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gefolgt. Sie treffen sich in Paestum, einem kleinen Ort südlich von Salerno, wo sonst Touristen die Überreste altgriechischer Tempel bewundern. Doch - die jungen Italiener widmen sich ganz der Gegenwart. Ihre Themen: Jugendarbeitslosigkeit, Umweltdelikte und die Mafia. Reportage 5: Wenn Junge ihre Zukunft selber in die Hand nehmen Nur noch eine halbe Stunde bis zum Beginn der Großveranstaltung. Eine Frau mit langen, rötlichen Haaren erteilt letzte Anweisungen. Während sie spricht, wirft sie immer wieder einen Blick auf ihr Handy. Die ganze Organisation ist handgestrickt… hoffen wir, man merkt es nicht zu sehr! Handgestrickt? Davon ist nichts zu spüren. Monica Nardi hetzt zwar - trotz engem Rock und Stöckelschuhen - über die Bühne; doch die 32-jährige Direktorin des Vereins wirkt nicht, als überlasse sie etwas dem Zufall. Alles andere als improvisiert ist auch der Ort, an dem die Konferenz stattfindet: Ein Vier-Sterne-Hotel mit üppig-barockem Dekor. Keine Spur von Lagerstimmung. Monica Nardi verzieht ihre schmalen Lippen zu einem Lächeln. Hier trafen sich tatsächlich auch schon die alten Herren der etablierten Politik. Wir sind ebenfalls hier, weil es gar nicht so viele Veranstaltungsorte für 500 Leute gibt. Aber die jungen Camp-Teilnehmer übernachten natürlich nicht hier, sondern in einer günstigen Herberge, die viel netter und jugendlicher ist als dieses Hotel hier… In der Eingangshalle des Luxushotels weisen bunte Plakate den Weg zur Süditalien-Konferenz. Das Parteiemblem des „Partito democratico“ fehlt indes. Wir verzichten bewusst auf sämtliche politische Embleme. Denn wir wollen anders politisieren: Wir wollen über Inhalt reden, langfristig denken und uns nicht von der politischen Aktualität vereinnahmen lassen. Basta ! – das reicht, flüstert Monica Nardi mit einem charmanten Lächeln und eilt Richtung Konferenzsaal. Dort sitzen inzwischen mehrere Hundert Männer und Frauen zwischen 20 und 35 Jahren auf Plastikstühlen. Ein Videoclip eröffnet die Konferenz: Bilder von Süditalien – von paradiesischen Olivenhainen und Helden des Südens wie den beiden ermordeten Anti-Mafia-Richtern Falcone und Borsellino. Bilder aber auch von monströsen Mafia-Betonruinen und elenden Wohnquartieren. Dann verschwinden die Teilnehmer in verschiedenen Workshops: Eine Arbeitsgruppe widmet sich der fehlenden Sozialhilfe, eine andere beschäftigt sich mit dem Exodus der jungen Süditaliener nach Norditalien bzw. ins Ausland. Das Ziel: Greifbare Vorschläge. Entscheidend ist, dass die Jungen nicht zum x-ten Mal enttäuscht werden. Darum ist es wichtig, möglichst konkrete Forderungen zu formulieren. Zum Beispiel: Professoren sollen mit 65 in Pension müssen. Oder: Dozenten sollen nur noch von unabhängigen Gremien gewählt werden. Diese Strategie hat dem Verein 360, den es erst seit drei Jahren gibt, einen Achtungserfolg beschert: Die Abgeordnetenkammer des Parlaments griff vor einigen Monaten einen Vorschlag des Vereins auf: Die Parlamentarier verabschiedeten ein Gesetz, das jungen Italienern im Ausland die Rückkehr in die Heimat erleichtern soll – dank niedrigeren Steuern. Hat Monica Nardi mit diesem Erfolg gerechnet? Nein, das kam total überraschend. Wir wissen alle, wie gross die Gräben zwischen, ja sogar innerhalb der Parteien sind. Dass letztlich Parlamentarier links wie rechts für unseren Gesetzesvorschlag stimmten, kam völlig unerwartet.…. Ein „Auto blu“ – ein dunkelblauer Dienstwagen mit Chauffeur fährt vor und ein grosser, grauhaariger Mann steigt aus. Es ist Pierferdinando Casini, Präsident der Zentrumspartei UDC, und Stargast des „Sud Camps“. Ganz der gewiefte Politfuchs, nutzt Casini die Aufmerksamkeit der Jungen, um eine halbe Stunde lang eloquent und demonstrativ seine Distanz zu Ministerpräsident Berlusconi zu zelebrieren – zu jenem Berlusconi also, mit dem er in der Vergangenheit schon zwei Mal in der Regierung sass. Freche, unbequeme Rückfragen aus dem jungen Publikum bleiben aus. Hätten die Jungen dem Spitzenpolitiker, dem Exponenten der alten Politikkaste nicht mehr auf den Zahn fühlen müssen? Nein, findet diese 25-jährige Teilnehmerin. Was die Politik viel zu wenig macht, ist Zuhören. Hier in diesem Land schreien sich die gegnerischen Politlager immer nur an. Es gibt kaum parteiübergreifende Lösungen. Wir Jungen wollen das aber. Und dafür braucht es eine neue Gesprächskultur. Wir haben heute bewiesen, dass wir das können. Auch Monica Nardi, die sich vor dem Hotel eine Zigarettenpause gönnt, ist zufrieden mit dem Auftritt Casinis. Anders Politik zu machen heisst für sie auch, ideologische Gräben überwinden und gemeinsame Positionen suchen. Und ganz wichtig: immer wieder über die Landesgrenze hinausschauen. Die italienische Politik ist so verkümmert, dass sie kaum je über Europa diskutiert. Sie fragt sich auch nie selbstkritisch, wo sie oder wo Italien versagt hat. Über beides haben wir jetzt aber begonnen zu diskutieren. Für Italien, das sich gerne selber zelebriert, ist schon das das sehr ungewöhnlich. Monica Nardi zieht an ihrer Zigarette und verschränkt die Arme. Nach einer kurzen Pause meint sie: Ja, manchmal sei Italien zum Verzweifeln. Ich werde wütend, wenn ich sehe, wie viele meiner Freundinnen und Freunde hier in Italien keine Zukunft haben. Unsere Generation wurde verraten, das ist so. Die Generation unserer Eltern hat gelebt wie Raubtiere. Sie hat das Land geplündert – ohne Rücksicht auf uns. Aber ich kann nicht glauben, dass sie das mit böser Absicht getan hat. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre konnte das Land zum ersten Mal nach dem 2. Weltkrieg die Früchte des wirtschaftlichen Erfolges geniessen. Sie tat das sehr konsequent. Es ist aber sinnlos, heute nach den Schuldigen von damals zu suchen. Monica Nardi wird am Telefon verlangt. Ihr Gesicht hellt sich wieder auf. Sie muss zurück zur Arbeitsgruppe, die sich mit der neuen Emigrationswelle befasst. Übrigens, sagt sie zum Schluss: Das Gesetz, das in der Abgeordnetenkammer so überraschend Zustimmung fand, muss noch vom Senat gutgeheissen werden.. Eigentlich hätte es dort schon längst behandelt werden sollen. Doch die Politiker in Rom sind wieder einmal zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Monica Nardi zuckt mit den Schultern und drückt die Zigarette aus. Wir wissen nicht, ob und wann der Senat über das Gesetz diskutieren wird. Erst muss sich klären, ob die gegenwärtige Regierung überlebt. Keine Zukunft im Bel Paese. Italien vernachlässigt seine junge Generation. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Nadja Fischer. Musikauswahl und Regie Babette Michel. Am Mikrofon war Katrin Michaelsen.