COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 17. Juni 2013, 19.30 Uhr Beschämendes Tauziehen Wenn die Vergangenheit Geld kostet Von Barbara Zillmann Musik O-Ton 1 Antje Vollmer Es war ein Rechtsstaat, in dem Unrecht passierte, und im System Heimerziehung passierte Unrecht über einzelnes Vergehen hinaus. In mancher Hinsicht haben wir's mit unserem Runden Tisch viel schwerer als die, die - sagen wir mal - NS- Zwangsarbeit behandeln oder Stasi-Unrecht. Denn da konnte man immer sagen, das war ein Unrechtsregime. Aber dass die Bundesrepublik über die Bundesrepublik sagt, in Teilen ist da so viel Unrecht passiert, das ist rechtlich ganz schwierig. Autorin: Antje Vollmer, Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung. O-Ton 2 Christine Bergmann Die, die sich an uns gewendet haben, und das waren ja sehr viele und überwiegend welche, bei denen der Missbrauch Jahrzehnte zurückliegt, berichten alle von der Erfahrung eben, dass sie versucht haben, Hilfe zu finden, das Thema anzusprechen, und es keiner hören wollte. Autorin: Christine Bergmann, Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung. O-Ton 3 Volker Beck Es ist natürlich ein politisches Gerangel, wo einerseits die ethischen und moralischen Verpflichtungen ein Argument sind, aber die Argumente des Finanzministeriums, wie viel das den Steuerzahler kostet, auch immer ein Argument in diesem Ziehen und Zerren sind. Autorin: Volker Beck, Bundestagsabgeordneter der Grünen zur Auseinandersetzung um die Ghettorenten. Sprecher vom Dienst: Beschämendes Tauziehen - Wenn die Vergangenheit Geld kostet Ein Feature von Barbara Zillmann. Musik unter O-Ton weg O-Ton 4 Volker Beck Und das beginnt am ersten Tag mit der Einführung des Bundesentschädigungsgesetzes, das ja nicht mit den Stimmen von Adenauers Koalition verabschiedet werden konnte, sondern nur, weil die sozialdemokratische Opposition damals ausgeholfen hat, mit wenigen Abgeordneten der Koalition ein Versprechen, das Adenauer international gegeben hat, auch dann gesetzgeberisch in Deutschland umzusetzen, und so setzt sich das dann fort. Autorin: Das Bundesentschädigungsgesetz regelte in der frühen Bundesrepublik, wer als Verfolgter des Nationalsozialismus eine Entschädigung erhalten konnte. Im Oktober 1953 verabschiedete der 1. Deutsche Bundestag die Urfassung, mit hauchdünner Mehrheit, unter internationalem Druck. Der SPD Abgeordnete Adolf Arndt ahnte, was in der Folgezeit passieren würde: die kleinliche Auslegung des Gesetzes, die Verschleppung der Anträge durch Gerichte und Behörden. Er appellierte - freilich vergebens - für eine Präambel zum Bundesentschädigungsgesetz: Zitator: Dieses Gesetz ist großherzig so auszulegen und anzuwenden, dass sein Vollzug im Höchstmaß die Wiedergutmachung als sittliche Aufgabe und rechtliche Schuld erfüllt. Autorin: Wiedergutmachung als "sittliche Aufgabe" und "rechtliche Schuld" des neuen Staates - das mögen im Jahr 1953 nur wenige Deutsche so empfunden haben. O-Ton 5 Beck Dass man für seine Soldaten, selbst die in der SS gekämpft haben, einstehen muss, das war unbestritten in Deutschland. Dass man denen, die man zu Opfern gemacht hat, auch etwas schuldig ist, das war immer Teil des politischen Streits. Autorin: Und ist es bis heute. Egal, ob es sich dabei um scheinbar längst Vergangenes oder die jüngste Geschichte handelt. Drei Beispiele haben die Öffentlichkeit in letzter Zeit beschäftigt: Das sogenannte "Ghettorentengesetz", der Hilfsfonds für ehemalige Heimkinder, und die Unterstützung für Opfer von sexuellem Missbrauch. Medienwirksam wurden Programme verkündet, doch bei den Betroffenen kam bis jetzt zu wenig an. Was macht es so schwer, ihnen nach langer Zeit der Ignoranz großzügig entgegenzukommen? Ob eine Wiedergutmachung in Gesellschaft und Politik eine Chance hat, hängt stark vom Zeitgeist ab, sagt Günter Saathoff. O-Ton 6 Günter Saathoff Wenn das im politischen Alltag zwischen Fraktionen des Bundestages nicht mit einem gemeinsamen eindeutigen Willen verbunden ist oder auch die Beamten des zuständigen Ministeriums diesen Willen nicht mittragen, gibt es häufig in den Formulierungen von Gesetzen Formelkompromisse, das heißt Formulierungen bei denen nicht klar erkennbar ist, was das Gewollte ist und damit auch ein großer Gestaltungsraum für die nachgeordneten Behörden gegeben ist - ein Gesetz entweder opferfreundlich oder opferunfreundlich auszulegen oder von Gerichten klären zu lassen, was der Gesetzgeber gemeint haben könnte. Autorin: Günter Saathoff ist Vorsitzender der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft und kennt die Klippen der Entschädigungspolitik. Sie liegen oft im Kleingedruckten. weiter O-Ton 7 Saathoff In den Formulierungen selber wird man feststellen, das gilt für viele Gesetze, das gilt auch für außerrechtliche Regelungen, dass das Ressentiment quasi schon die Feder geführt hat, und dann muss man für das Feld der sogenannten Wiedergutmachung feststellen, dass es zunächst und über die Jahrzehnte hinweg das Ziel war, den Kreis der Berechtigten möglichst eng zu fassen. Autorin: Dazu dienen Ausschlusskriterien und Nachweispflichten. Ein kompliziertes Antragsformular, eine Fristsetzung, die Forderung nach Belegen und Dokumenten, die es oft nicht mehr gibt. Betroffene lässt das manchmal resignieren, andere erleben die Entscheidung nicht mehr. Musik Das zeigt auch die jahrzehntelange Auseinandersetzung um das Ghettorentengesetz von 2002, eines der letzten Kapitel in der Entschädigungspolitik der Nazi- Vergangenheit. Zitator: Wir haben im Ghetto gearbeitet, der jüdische Ältestenrat hat das Geld bekommen, man hat die Sozialabgaben abgezogen und gezahlt wurde nach Berlin. Auf der einen Seite hat man uns getötet und umgebracht, auf der anderen Seite hat man unsere Sozialgelder nach Berlin geschickt. Autorin: Erzählt Uri Chanoch im Dezember 2012 vor Abgeordneten des deutschen Bundestages. Er ist Vertreter der Holocaust-Überlebenden in Israel und möchte erklären, wie es im Ghetto tatsächlich war. Denn zehn Jahre nach Verabschiedung des Ghettorentengesetzes warten viele Antragsteller immer noch auf Entschädigung. Zunächst sollten nur jene etwas bekommen, die ohne Zwang und gegen normales Entgelt für die Nazis arbeiteten. Hatten Menschen, die von den Nazis in Ghettos eingepfercht wurden eine Wahl? Für den 13jährigen Uri Chanoch ging es 1941 ums Überleben: Zitator: Chanoch Ich habe mich gemeldet bei den Deutschen als Eilbote - ich wusste, wer nicht arbeitet, wird getötet. Alle wollten arbeiten. Man hat doppelte Portion zu essen bekommen. Autorin: Wie andere Hochbetagte saß Uri Chanoch in Israel vor Fragebögen der Deutschen Rentenversicherung mit Ja-Nein-Fragen. Wer Ja ankreuzte, wo nach Formen des Zwangs gefragt wurde, erhielt eine Ablehnung. Solche Arbeit sei im Übrigen über die Zwangsarbeiterentschädigung abgegolten worden. Auch wer Brot oder Heizmaterial als Lohn erhielt, ging leer aus. Anderen glaubte man nicht, weil sie in früheren Entschädigungsakten ihre Ghettoarbeit unerwähnt gelassen hatten, oder weil ein bestimmtes Ghetto im Internet nicht zu finden war. Richter Jan-Robert von Renesse über die Beweislast im deutschen Recht: O-Ton 8 Renesse Also es gib in jedem Verfahren den Grundsatz, dass derjenige, der etwas will, etwas begehrt die Tatsachen, auf die er sich stützt, belegen und beweisen muss. Für die Opfer der Shoa gibt es eine Beweiserleichterung, übrigens auch für andre, die besagt, dass sie die Tatsachen glaubhaft machen müssen. Also sie müssen sie nicht so beweisen, wie in einem Strafverfahren, wo mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Beweis zu führen wäre, sondern es ist eine Glaubhaftmachung, das bedeutet, es müssen mehr Umstände dafür als gegen das sprechen, was die Betroffenen geltend machen. Autorin: Jan Robert von Renesse ist Berufungsrichter am Sozialgericht des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf seinem Schreibtisch landeten die Briefe von ehemaligen Ghettoarbeitern. Ihre Anträge waren abgelehnt worden, weil Gerichte und Rentenversicherung oft "nach Aktenlage" entschieden hatten, in historischer Unkenntnis und auf der Basis etablierter Rechtsbegriffe, die eigentlich untauglich waren. Auch wurde zunächst Bezug genommen auf das Reichsversicherungsgesetz" des NS-Staates. Von Renesse hatte nun zu prüfen, ob den Klägern, im Sinne des Ghettorentengesetzes, dennoch eine Rente zusteht. Er suchte Indizien zugunsten der Opfer. O-Ton 9 Renesse Man braucht Details, Einzelheiten und Begebenheiten, die einem plastisch vor Augen treten lassen, was die Betroffenen nun erlebt hatten. Die haben ja in der Regel nichts als die eintätowierte Nummer auf dem Arm als Beweis, befinden sich also in schuldloser Beweisnot, das einzige in Anführungszeichen "Beweismittel" ist die eigene Erinnerung. Und dann geht's darum, die persönliche Glaubwürdigkeit in die Waagschale zu werfen. Autorin: Dabei hat auch das Gericht die Pflicht, gründlich zu recherchieren und den Betroffenen "rechtliches Gehör" zu verschaffen, möglichst durch persönliche Anhörung. Aber was konnte man tun, wenn die Antragsteller, vielfach Juden aus Israel, nie wieder deutschen Boden betreten wollten, oder zu alt und krank dazu waren? Man konnte zum Beispiel um Rechtshilfe ersuchen, also ein ausländisches Gericht beauftragen. Jan Robert von Renesse entschied sich, persönlich nach Israel zu fahren. Er nahm Historiker und psychologische Gutachter mit, um vor Ort in Zusammenarbeit mit israelischen Fachleuten eine Entscheidung herbeizuführen. O-Ton 11 Renesse Und im Ergebnis hat es natürlich auch in vielen, sogar in den meisten Fällen zu einer Aufklärung des Sachverhalts geführt, die vermeintlichen Widersprüche, die sich aus den schriftlichen Akten ergeben, die konnten wir aufklären, und als am Ende dann auch die Behörde in diesen Terminen anwesend war, haben eigentlich in den meisten Fällen diese Beweiserhebungen dazu geführt, dass wir ne einvernehmliche Regelung gefunden haben, vor Ort noch. Autorin: Eigentlich ein Glücksfall der Justizgeschichte. 90 Prozent der Anträge waren zunächst abgelehnt worden - mehr als die Hälfte sind inzwischen positiv beschieden oder werden nochmals geprüft. Die ehemaligen Ghettoarbeiter bekommen im Durchschnitt 200 Euro monatliche Rente. Das Bundessozialgericht revidierte 2009 die alten Entscheidungsgrundlagen und stärkte den Opfern den Rücken. Doch im Bundestag erhielt die Sache der Ghettorenten noch einmal einen Rückschlag. Sie sollen nun nicht ab 1997 rückwirkend gezahlt werden, wie im Gesetz vorgesehen, sondern erst ab 2005 - nach einer juristischen Gepflogenheit der Rentenversicherung. Ersparnis: zirka 125 Millionen Euro. Musik als Trenner Historische Einsicht und Verantwortung aus freien Stücken? Fehlanzeige, meint Günther Saathoff, und das nicht nur in Deutschland. O-Ton 12 Saathoff Es ist vielmehr typisch, dass man versucht, das zu verleugnen, zu verdrängen, zu negieren auf den verschiedensten Ebenen - Autorin: In Politik und Amtsstuben hätten Eliten aus früheren Systemen oft noch lange die Deutungshoheit. Doch irgendwann gebe es einen "Point of no return". Dabei können verschiedene Faktoren zusammenkommen: ein Generationenwechsel, eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die Emanzipation von Opfergruppen, oft aber auch der politische Druck von außen. So habe erst das Ende des Kalten Krieges dazu geführt, dass die osteuropäischen Zwangsarbeiter eine Chance hatten, in den USA zu klagen - und Deutschland dadurch unter Druck zu setzen. Musik Auch innenpolitische Druckwellen können ein Thema in den Fokus rücken - wie zum Beispiel die Situation der Heimkinder in den 50er bis 70er Jahren. Voraus ging eine lange, zähe Zeit der Aufklärung von unten, mit Stimmen einzelner, die kaum gehört wurden. Über den Petitionsausschuss des Bundestages gelang es schließlich, Aufmerksamkeit in Politik und Medien zu finden. Ein Runder Tisch wurde einberufen. Ehemalige Heimkinder berichteten über Missstände in staatlichen Heimen und kirchlichen Einrichtungen, über Demütigungen und Prügel und die Folgen, mit denen sie heute noch zu kämpfen haben. O-Ton 13 Hügel Ich würde mich, glaub ich, eher umbringen als mich in irgendein Pflegeheim zu begeben. Und ich merk das schon, ja, alleine solche Institution zu betreten, ich zeig es natürlich nicht, ich zeig ganz schnell Fluchttendenzen, also da spielt sich ne Menge ab, ich fang an zu schwitzen, mein Herz fängt an zu rasen, und es dauert verdammt lange, bis man wieder zur Ruhe kommt - und ich will es einfach nicht! Ich will es nicht, dieses Gefühl - ich empfand es ja auch wie ein Gefängnis - möchte ich einfach nicht mehr haben. Und ich hab auch n Recht darauf, das nicht mehr zu haben, dieses Gefühl. Autorin: Ika Hügel Marshall ist 66. Ihr Vater war ein schwarzer amerikanischer Soldat. Die Mutter gab dem Drängen des Jugendamtes nach und brachte sie mit sieben Jahren in ein christliches Heim: dunkelhäutige, uneheliche Kinder wie sie seien dort besser aufgehoben. Für das Mädchen begann ein Martyrium: sie wurde gedemütigt, misshandelt, zur Arbeit gezwungen. O-Ton 14 Hügel Ich bin dann oft einfach geschlagen worden mit dem Argument, n Teufel steckt in mir. Ich hab einfach oft Prügel bekommen und wusste nicht warum. Autorin: Vor 3 Jahren wurde der Hilfsfonds für ehemalige Heimkinder beschlossen. Bei Kirchen, Bund und Kommunen hatte Antje Vollmer, die Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung 120 Millionen Euro zusammengebracht, für Menschen aus westdeutschen Kinderheimen. Für den Fonds Ostdeutschland kamen später noch einmal 40 Millionen hinzu. Bis zu 10.000 Euro für jedes Heimkind sollten zur Verfügung stehen - zur Linderung von Folgeschäden aus der Heimerziehung. Bei Ika Hügel Marshall ist noch nichts davon angekommen. Sie hat an den Fonds vor allem einen Wunsch: Sie möchte 10.000 Euro für spätere ambulante Pflegekosten ansparen, um nie wieder in ein Heim zu müssen. O-Ton 15 Hügel Also wenn sie entschädigen, dann sollten sie halt ne gewisse Summe halt einfach überweisen und uns oder mir das zumindest überlassen, wie ich das anlege und wenn es um Pflege geht, dass ich nicht ins Heim muss und sie könnten uns jetzt endlich mal vertrauen. Atmo/ O-Ton 16 a Kösters - Hügel: (blättert in Akten.) also 1952 bin ich dort ins Heim gekommen - Kösters: da gibt es ja Leistungsrichtlinien, aber die müssen ja auch interpretiert werden, ... Autorin: Im Januar 2012, als die Beratungsstellen für ehemalige Heimkinder öffneten, war Ika Hügel Marshall zum ersten Mal bei der Berliner Anlaufstelle und hat ihren Wunsch vorgetragen. Manuel Kösters ist seitdem der persönliche Berater von Ika Hügel Marshall. Sie ist dankbar, dass er ihr zuhört, glaubt und mit ihr über Lösungen nachdenkt. Das Problem: es gibt in der Regel keinen Geldbetrag zur freien Verfügung, sondern nur sogenannte Sachleistungen. Das sind Therapien, orthopädische Möbel, Fahrtkosten oder soziale Hilfen. O-Ton 16 b Kösters Auffällig ist dabei, dass anscheinend der Fonds jetzt öfter in Lücken einspringen muss, wo andere Sozialleistungen nicht mehr dafür aufkommen, das ist dann eher dann teilweise eine etwas traurige Entwicklung. Autorin: Frau Hügel aber hat ihre Therapien längst selber bezahlt, ihre einfachen Möbel und ihre orthopädischen Schuhe ebenfalls. Sie könnte sich auch einen Herzenswunsch erfüllen, sagt Manuel Kösters, etwas, das sie sich nie leisten konnte. Dafür allerdings muss sie einen Antrag stellen, einen Kostenvoranschlag und eine Begründung einreichen - das rührt an alte Wunden: kein eigenes Geld zu haben, es nur unter Kontrolle ausgeben zu dürfen. O-Ton 17 Hügel Da bin ich überhaupt nicht zu bereit. Da bin ich - echt - nicht - zu - bereit, das zu belegen. Und entweder sie machen das oder sie machen's nicht, aber ich bin nicht bereit, mich auf der Ebene nochmal zu erniedrigen, das mach ich einfach nicht. Autorin: Die einzige direkte Zahlung, die der Fonds zulässt, sind Rentennachzahlungen für Zeiten, in denen Heimkinder unversichert arbeiteten. Bei Ilka Hügel waren es 13 Monate. Die Bundesverwaltungsstelle des Fonds, das "Amt für zivilgesellschaftliche Aufgaben", vermeldet in diesen Tagen stolz, dass etwa ein Viertel der Leistungen des Fonds bereits ausgezahlt seien, 30 Millionen Euro vor allem an Rentennachzahlungen. Ika Hügel bekam noch nichts. Warum? Manuel Kösters kommt mit der Arbeit nicht nach. Er darf individuelle Wünsche umsetzen, und am Ende auch Leistungen auszahlen. Aber viel Zeit vergeht damit, die richtigen Argumente zu finden, um "oben", bei der Fondsverwaltung in Köln, mit den Anträgen durchzukommen. Denn jeder Sessel, jeder Kochtopf und jede Reise müssen gleichsam aus den Erlebnissen im Heim begründet werden. Ika Hügel Marshall hat nach über einem Jahr noch keinen Euro bekommen. Ihr Wunsch nach Pflegegeld ist bisher nicht in Erfüllung gegangen. Allerdings könnte sie selbst eine Zusatzpflegeversicherung abschließen, empfiehlt der Berater, wozu es dann - eventuell - einen einmaligen Zuschuss aus dem Fonds geben könnte. Doch sie fühlt sich überfordert, mit einer Versicherung einen passenden Vertrag auszuhandeln. Bei dem sie dann laufend einzahlen müsste. Bei einer Rente von 600 Euro ein Problem. O-Ton 20 Hügel Wie geh ich damit um - also ich merk, dass ich da sehr müde bin, das also wirklich zu tun. Dass ich jetzt so hinterherlaufen muss, ich find es n bisschen demütigend ehrlich gesagt. Erneut demütigend. Autorin: So hat der Fonds für ehemalige Heimkinder zwei Seiten. Einerseits ist eine feste Summe vorhanden und kann verteilt werden. Die Beratungsstellen helfen bei der Beschaffung von Dokumenten und ebnen pragmatische Wege. Anderseits sind die Konditionen oft lebensfremd. Und Betroffene erhalten durch den Fonds keinen Rechtsanspruch auf Entschädigung, sondern nur eine freiwillige, von der Gesellschaft "gespendete" Leistung. Von einer Gesellschaft, die sich nach Jahrzehnten endlich zu den Verfehlungen in der Heimerziehung bekennt. Musik Weitaus schwieriger ist es, Aufklärung und Entschädigung für Opfer durchzusetzen, wenn es um Taten geht, die bis in die Gegenwart hinein gedeckt und verdrängt werden. O-Ton Trailer: Das bleibt ein Geheimnis zwischen uns, hat er gesagt, nachdem er mich missbraucht hatte. Das Schweigen hat mich ein Leben lang zum Opfer gemacht. Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter. Autorin: Im März 2010 richtete die Bundesregierung einen Runden Tisch "Sexueller Kindesmissbrauch" ein und berief die ehemalige Familienministerin Christine Bergmann als Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des Missbrauchs. Eine Telefonhotline für Betroffene wurde geschaltet. Tausende riefen dort an, manch einer oder eine sprach zum ersten Mal über den im kirchlichen, staatlichen oder familiären Umfeld erlebten sexuellen Missbrauch. Viele meldeten sich in den Medien zu Wort. Den inzwischen meist erwachsenen Opfern wurden im Jahr 2010 finanzielle Mittel versprochen. Johannes Wilhelm Rörig bemüht sich als Nachfolger Christine Bergmanns darum, Hilfen und vor allem eine intensive Aufklärung voranzubringen. Er kann seine Enttäuschung über manches nicht verhehlen. O-Ton 21 Rörig Immer dann, wenn wir an Verantwortungsträger, an die Personen herangehen, die uns bei der Umsetzung unserer Vorhaben unterstützen können, ist oft doch zu spüren, dass wir Abwehr und Verdrängungsmechanismen hervorrufen, und manchmal hab ich den Eindruck, dass viele hoffen, dass das Thema irgendwann wieder von der Tagesordnung verschwindet und keine Aktivität erforderlich ist - Autorin: Auch persönlich fühlt sich der Ministerialdirigent mit Sitz im Familienministerium manchmal wie Sisyphus. O-Ton 22 Rörig Das frustriert, da geht man manchmal abends nachhause und fragt sich, wofür engagiere ich mich überhaupt und wofür mach ich die Arbeit, aber langfristig hoff ich einfach, dass sich die Sensibilität in der Gesellschaft so verstärkt, dass auch die Verantwortungsträger und- innen in Politik und Gesellschaft sich noch viel mehr für das Thema engagieren. Autorin: Er fordert, dass alle Parteien sich in ihrem Wahlprogramm verbindlich dazu bekennen. Das Gerangel um die Finanzierung eines Fonds für Missbrauchsopfer ließ das Projekt vor kurzem beinahe platzen. Bund, Länder und Institutionen wie Kirchen und Sportvereine konnten sich nicht auf ein Konzept einigen. Erst durch die Aussicht auf einen Imageschaden für die Regierung und ihre drei zuständigen Ministerinnen, kam Anfang Mai eine Teil-Lösung zustande, gerade noch rechtzeitig vor Ende der Legislaturperiode. Aber: Allein der Bund zahlt seinen Anteil in den Hilfsfonds für Opfer familiären Missbrauchs, die meisten Bundesländer zögern noch und die Institutionen suchen eigene Lösungen. Für Sabine Andresen ein Armutszeugnis. Sie ist Erziehungswissenschaftlerin an der Goethe-Uni in Frankfurt am Main, Stellvertretende Vorsitzende im Deutschen Kinderschutzbund und Vorsitzende im Fachbeirat des unabhängigen Missbrauchsbeauftragten. O-Ton 23 Andresen Es ist natürlich beschämend, wie sich die Bundesländer verhalten bei dem Fonds für unterstützende Systeme Betroffener jetzt der Gewalt in Familien - hier ist der Bund in Vorleistung gegangen und die Länder zaudern. Und man fragt sich, was für ein Verantwortungsbewusstsein dann damit verbunden ist. Autorin: Manuela Schwesig, SPD-Politikerin und Sozialministerin in Mecklenburg Vorpommern, hat mit am Runden Tisch gegen Missbrauch gesessen. MV wird als erstes Bundesland eine Million Euro in den Fonds einzahlen. Eine Geste gegenüber den Opfern. Aber die Ministerin nimmt die anderen Bundesländer auch in Schutz. Es gebe ein Jahr nach Ende des Runden Tisches immer noch kein nachhaltiges Hilfekonzept von Seiten der Regierung. Dazu müssten nämlich Gesetze geändert werden. Zum Beispiel zur gesundheitlichen Versorgung. O-Ton 24 Schwesig Wir brauchen natürlich auch gute Beratungsstellen, die da sind für Betroffene, und hier sind auch in vielen Ländern die Situationen für Beratungsstellen nicht gut genug geregelt, - Autorin: In der Tat haben viele erfahrene Beratungsstellen keine zusätzlichen Gelder bekommen, um dem wachsenden Beratungsbedarf zu begegnen, im Gegenteil, viele müssen durch die Sparzwänge der Kommunen um ihre Existenz bangen. Und verantwortliche Institutionen verweigern vielfach eine transparente Aufklärung. O-Ton 25 Andresen Ich glaube, dass das nach wie vor ein Problem ist, dass Institutionen sich auch zu Recht beschädigt fühlen, weil sie Schaden angerichtet haben. Und da stellt sich natürlich für eine Institution die Frage, was bedeutet das für uns in der Zukunft? Können wir weiterexistieren, als freies Internat zum Beispiel. Und ich glaube es wird ganz maßgeblich davon abhängen, dass der Fortbestand und die Qualität einer Institution davon abhängen, daran gemessen wird, dass sie mit den Verheimlichungen aufhört. Dass also nicht der Schutz der Institutionen, und das ist ja was die Betroffenen schmerzhaft erfahren haben, höher gewertet wird als der Schutz des betroffenen Kindes oder Jugendlichen. Autorin: Viele nachhaltige Änderungen bei Prävention und Opferhilfe wurden am Runden Tisch gefordert. O-Ton 27 Andresen Wenn man jetzt eine Bilanz ziehen wollte, eine erst vorsichtige Bilanz, dann sind diese verschiedenen Maßnahmen wie der Runde Tisch, die telefonische Anlaufstelle, Forschungsmittel - im internationalen Vergleich durchaus etwas, was positiv zu bewerten ist. Weil damit verbunden ist ein gesellschaftlicher Diskurs, der auch das öffentliche Bewusstsein verändern könnte. Gleichwohl beobachten wir, und das ist, was die Betroffenen auch zu Recht thematisieren - ein Erlahmen des politischen Willens, das zu tun, was notwendig ist, und was auch angekündigt wurde. Autorin: Sagt die Wissenschaftlerin Sabine Andresen. Nach großer Aufregung in Politik und Medien scheint das Interesse abzuflauen. Die Mühen der Ebene bringen weder Wählerstimmen noch eine hohe Auflage für voyeuristische Geschichten. Auch bei diesem Unrecht gibt es eine tiefsitzende Abwehr, sich schuldig zu bekennen, Verantwortung zu übernehmen. O-Ton 28 Rörig Hier müssen neue politische Prioritäten getroffen werden, und das ist ein schwieriger Prozess. Autorin: Die Debatte um Entschädigung und Hilfen für Missbrauchsopfer unterscheidet sich von der über historisches Unrecht, denn sie trifft deutlicher den Nerv der Gegenwart. Dennoch zeigt sie ähnliche Verleugnungsmuster wie die Entschädigungsdebatten früherer Jahrzehnte. O- Ton 29 Schwesig Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat ganz offensichtlich eine viel größere Dimension, als es viele von uns für möglich gehalten haben. Autorin: Entschädigungsforderungen rufen immer auch Missgunst hervor. Unrecht kann aber nur überwunden werden, wenn "Wiedergutmachung" keine lästige Pflicht ist, die möglichst "kostenneutral" erfolgt und dann wieder vergessen wird. Versöhnung und Aufarbeitung haben eine Chance, wenn das Unrecht, um das es geht, präzise benannt wird. Und wenn die Opfer nicht Bittsteller sind, sondern sich als wichtige Zeugen fühlen können. Um ihr Recht zu bekommen, brauchen sie allerdings nicht nur die Buchstaben alter und neuer Gesetze, sondern auch die Empathie derjenigen, die über ihr Anliegen befinden. O-Ton 30 Ika Hügel Marshall Ich finde, es gibt Sachen, die sind nicht bezahlbar. Autorin: Ilka Hügel Marshall spricht für jene, die sich durch das Hin und Her erneut verletzt fühlen. O-Ton 30 Ich mein, was ist mit all den psychischen Sachen, was ist mit der Quälerei, die man da erfahren hat, was ist mit den ganzen Schlägen, was passiert denn damit, ja? Und ich finde, das sollte Grund für sie sein, einfach ne Summe rauszurücken, ja? und die einfach zur Verfügung zu stellen. Sprecher/in vom Dienst: Beschämendes Tauziehen - Wenn die Vergangenheit Geld kostet Ein Feature von Barbara Zillmann Es sprachen: Eva Kryll und Gerd Grasse Ton: Bernd Friebel Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 Nachtrag: Der Richter Jan-Robert von Renesse, der mit seinem Vorgehen wesentlich zur neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes beigetragen hat, wurde in einen anderen Senat versetzt. "Die Veränderung des Aufgabengebietes von Herrn Dr. von Renesse ist in keiner Weise auf sein fachliches Wirken in den Ghettorentenverfahren zurückzuführen.", hieß es dazu in einer Presseerklärung des Landesozialgerichts Nordrhein-Westfalen. Gegenwärtig läuft ein Disziplinarverfahren gegen Richter Renesse wegen Schädigung des Ansehens des Gerichts. Die Beteiligten äußern sich dazu nicht. 1