Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 20. November 2010 / 11.05 – 12.00 Uhr Heroin auf Rezept - Drogenpolitik in der Schweiz Eine Sendung von Knut Benzner Musikauswahl: Knut Benzner Redaktion: Katrin Michaelsen Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – „Ursprünglich waren die offenen Szenen ein Versuch, den Kontakt mit den Drogenabhängigen herzustellen, Wir haben dann gesehen, das war der Fall in Bern und in Zürich, die zwei Orte, wo die offene Szene am meisten geduldet war, dass dieser versuch nicht erfolgreich war.“ „Unser Fokus ist, wir wollen die Leute unterstützen in einem verantwortungsbewussten Umgang mit Psychotropischen Substanzen. Das heißt, wenn man Verantwortung für sich nehmen will, muss man wissen, was man tut, und wir sagen den Leuten, was sie tun, denn sie wissen häufig nicht, was sie schlucken.“ „Heroin auf Rezept“ - Gesichter Europas über ?Drogenpolitik in der Schweiz. Am Mikrofon ist Knut Benzner. Literatur: „Ganz plötzlich sah ich die Töne, die wie Sonnensysteme sich ausdehnten und zusammenzogen und wieder ausdehnten, bis sie platzten. Das Urteil des Paris begann zu schwanken. Nun hatte unversehens er den Apfel in der Hand, die rote, alles überstrahlende Sonne, den Feuerball. Ich sah mit zusammengekniffenen Augen das weiße Fleisch des Raumes, süchtig und suchterzeugend, ein rundes, schwarzes Loch – sah meine Pupillen in den Pupillen des Jungen gespiegelt. Fiel hinein. Tat tvam asi. Alter ego. Der, die das andere Ich. Walter Vogt, Zürich 1985. REPORTAGE 1: Zürich, Stampfenbachstrasse, Freitagmittag. Ein dreistöckiges Haus, weißgrau getüncht, grüne Fensterläden. Stadtkreis 6, Zentrum nah, gehobene Wohnlage. Die Poliklinik Zokl 2, Zürcher Opiatkonsumlokal 2, eine Einrichtung der Arud, der Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen. 1991 von Ärzten und Drogenfachleuten gegründet – ein privater und gemeinnütziger Verein mit vier Polikliniken im Großraum Zürich. Das, was da gerade, gesichert durch eine Glasscheibe mit Schuber – wie in einer Bank -, das, was da gerade verabreicht wird, sind Herointabletten. „Herointabletten, Tabletten, ja.“ Daneben: Die Ausgabe der Nadeln. „Es gibt orangene, es gibt schwarze, es gibt violette, das sind diese verschiedenen Längen und Kanülendicken, die´s da gibt je nach dem ob auch intravenös oder in den Muskel gespritzt wird ob eher eine tiefe Vene angezielt wird oder eine oberflächliche.“ Adrian Kormann, Zürcher, 41, ledig, ärztlicher Leiter des Zokl 2, ein Zentrum für Heroin gestützte Behandlung und somit Patienten, die mit Heroin substituiert werden. Das heißt, ihnen wird die Droge in reiner Form angeboten. 160 Patienten, 30 Mitarbeiter. Kormann kennt den Platzspitz noch, diesen Park hinter dem Landesmuseum, mitten in Zürich, die ehemals offene Drogenszene. „Ich hab´ das als Student im Prinzip angefangen mit Schadens mindernden Maßnahmen, Spritzentausch, erste Hilfe und so, und bin jetzt im Moment eigentlich vor allem psychiatrisch zuständig für die Betreuung dieser Leute.“ Liberal und flexibel bei fast durchgehenden Öffnungszeiten, die Patienten sind mit Foto im Computer erfasst der Computer errechnet die nächste mögliche Dosis und sichert so, dass keine Überdosierungen geschehen. Etwa zehn Personen im Injektionsraum. Links eine Frau, sie zieht ihre Jacke wieder an. Adrian Kormann: „Auf der rechten Seite haben wir einen Patienten von uns, der bei einem Unfall einen Arm verloren hat, er hat nur einen Arm, und spritzt sich jetzt dort, wie´s gerade sehen, in´s Bein, im Moment sucht er eine Vene im Bein und spritzt dort das Heroin.“ Die Frau etwa 45, der Mann Anfang 40. Beide sehen mindestens jeweils 10 Jahre älter aus. „Das ist so, ja. Es sind sicher beides Drogenkonsumenten, die schon seit langer Zeit konsumieren und auch ein hartes Leben hinter sich haben.“ Eine Wendeltreppe hoch. In Kormanns Büro bzw. in die hauseigene Apotheke. „Wir versuchen, unsere Patienten so gut wie möglich auch hausärztlich oder infektiologisch zu behandeln, dies ist quasi das Lager unserer Apotheke, wo wir uns befinden.“ Sie geben Generika ab, Arzneimittel-Kopien, hauptsächlich, sie schauen auf die Wirkung und auf den Preis. Drei Stahlschränke, sieben Fächer pro Schrank. „Viele dieser Medikamente sind Psychopharmaka, oder es sind Medikamente für HIV- und Hepatitis, das sind alle Medikamente, die in der Regel sehr teuer sind, also ich würde sagen, das Lager hier, das sind mehrere 100.000 Franken, das hier lagert.“ Der Heroin-Tresor mit den Opiaten, eine Etage tiefer... „Ja, vielleicht warten Sie schnell, weil ich muss das berechnen, ich weiß nicht genau wie viel Wert dass das hat, also, ähm, das sind, also, wir haben einige Kilogramm Heroin am Lager in spritzbarer Form oder in Tablettenform, Sie können so sagen, dass wir im Einkauf für ein Gramm Heroin vielleicht fünf bis zehn Franken zahlen und ein Gramm auf der Gasse, wobei das ja dann etwa nur 20 Prozent Reinheitsgrad hat, kostet 50 Franken, das heißt, wenn wir jetzt dieses reine Gramm Heroin von uns hochrechnen würden, wäre das auf der Gasse, fünf Gramm das wären etwa 250 Franken, und wir zahlen etwa knapp 10 Franken dafür, also Faktor 25 etwa.“ Ein Franken zurzeit 75 Cent. Oder: Ein Euro 1,33 Schweizer Franken. 250 Franken wären somit 187 Euro. Gesprächszimmer. Einzelgespräche werden angeboten, Gruppentherapien, Steuererklärungen und Auszüge aus dem Schuldenregister bearbeitet, dann ein Raum für die somatischen Mediziner, mit Liege, Adrian Kormann arbeitet seit 2006 hier, kurzes dunkles Haar Brille, kleiner Bauch, geht die Wendeltreppe wieder hinunter... Reto wartet... „Hmm, Gruezi wohl mein Name isch Reto.“ Reto, 40,... „Ja jetzt gehen wir etwas beim Chinesen essen und dann gehen wir zu mir.“ Gehen wir... Der Einarmige fährt auf Rollschuhen an uns vorbei. Reto, langes, sehr langes Haar, mit einem Zopfhalter zusammen gebunden, 1,75 groß, Jeans, Jacke, ein Bier in der Hand, Reto lächelt. Wir sitzen im Auto, nicht beim Chinesen. „Ja, ich habe, heute Morgen habe ich drei Injektionen ? zweihundert Milligramm gehabt und noch zusätzlich sechshundert Milligramm Diacetylmorphin rektal, das sind diese Tabletten, die einem den Pegel geben und dass man zwischendurch nie auf Entzug kommt.“ Wie fühlt er sich? „Ich fühl´ mich gut, ja.“ Reto spritzt selbst. „In den Arm, Unterarm. Zwei Einstiche, ich wechsle manchmal ab, dass die eine Vene sich erholen dann und danach benütze ich wieder die andere.“ Reto spritzt seit sechs Jahren, inklusive einiger Versuche, sauber zu werden. Vorher Kokain und anderes, eigentlich alles. „Und dann war dummer Weise meine erste Injektion im Muskel, aber durch die Jeans, ich wollte nicht sehen, wie die Nadel in die Haut geht und da habe ich einen riesen Abszess bekommen, und da haben sie mir im Zokl, die Ärzte haben mir empfohlen, dass ich lieber unter Kontrolle und unter sauberen Umständen injiziere und nicht zu Hause so so Dreck mach, so bullshit.“ Ein älterer Bruder, gutbürgerliche Familie, Wohnung an der sogenannten Goldküste, das reiche rechte Ufer des Zürichsees. Als Reto 14 war, nahm sein Bruder ihn das erste Mal mit zum Dealen. Schule abgebrochen, bei der Post eine Lehre angefangen, dort über fünf Jahre in großem Stil systematisch Schmuck, der ausgeliefert werden sollte, veruntreut. Beschaffungskriminalität. Knast, an der Langstrasse, dem noch heute öffentlichen Drogenumschlagplatz Zürichs gelebt, ergänzender Arbeitsmarkt, Therapie, Sozialhilfe. Der Bruder, Morphium substituiert, arbeitet bei einer Bank und hat Familie. „Hoy, dasch Daniela, hoppi, o.k. jaja.“ In Retos Wohnung, bzw. in Danielas Wohnung, Daniela ist Retos Freundin. „Ich mach´ jetzt ´n Joint für mich.“ Die Wohnung ist aufgeräumt, Bilder, Zierfigürchen, Engel, Che Guevara, ein Foto von Retos Mutter, Poster, Kifferutensilien, lediglich die vielen Brandflecken im Teppich verwirren, Daniela, 44, malt und muss zum Zahnarzt, Räucherstäbchen riechen. Was macht er den ganzen Tag? „Also ich schlafe viel, ich schlafe sehr viel.“ Letztendlich führt Reto ein geregeltes Leben. „Ja, wenn man sagen kann, dass ich geregelt schlafe, einkaufen gehen und geregelt in´s Programm gehe, kann man sagen, ja ja, das ist geregelt, für mich stimmt es im Moment.“ Daniela kommt. „Mir fällt einfach die Decke auf den Kopf, oder, weil ich nicht´s zu tun habe, der Hund von meiner Schwester, und jetzt geh´ ich heute eben zum Zahn, und wenn das alles in Ordnung ist, versuche ich, sobald wie möglich wieder zu arbeiten, ehrlich, so geht es nicht.“ Sie nimmt ebenfalls Drogen. „Also ich spritze nicht, ich will nur hmmpf schnupfe.“ Reto zündet sich den Joint an: „Willst Du auch mal ziehen?“ Danke. „o.k.“ Er ist ein verträglicher Mensch. „Ja, das, denk´ ich, sagen viele von mir, und können nicht verstehen, können nicht verstehen, dass ich einfach so in dieser Sackgasse hängen blieb, und viele Leute denken, ich hätte mehr, Schatz, ja, viele Leute sagen mir, ich habe die Kapazität, um mehr zu erreichen, aber ich habe auch heute keine Zukunftsvision, ehrlich gesagt, ich, ich leb´ mich so durch´s Leben. Ich habe wirklich kein´ Stress, ich muss mich nur an die Öffnungszeiten halten, von den Shops, von der Abgabestelle, alles andere hab´ ich abgegeben, mit den Rechnungen, hab´ ich meiner Sozialarbeiterin abgegeben, und somit muss ich auch nicht erwarten, dass böse Post kommt und so, ja also, ich kann es nur weiter empfehlen, aber man ... darf auch nichts erwarten dann, oder?“ Literatur Ich weiß, das ist der Tod. Mein ganz konkreter Tod, der Sopran. Donna Musica. Frau Welt. Madame la mort. Man sollte sich selbst hinunterschlucken können - die Zungen, den Gaumen, die Lippen; Kehlkopf, Augen, Nase, das Gehirn - sich hineinzuschlucken vermögen in die eigenen Eingeweide, in das große Hohlorgan, den Darm, dort wo jeder Mann einmal Frau war, und ist, und immer sein darf, in alle Ewigkeit, von dem viele nie etwas wissen, nichts spüren, aber andere erfahren es, weil es krank ist und sich dauernd ins Bewusstsein ruft, als eine grausige grandiose unaufhörliche lebenslängliche todeslängliche astrale galaktische apokalyptische rhythmische Schwangerschaft und Geburt. Der Junge stieß mich an. Kommst du mit? Am liebsten hätte ich gefragt, wo bin ich, wie ein Schiffbrüchiger in einem alten Abenteuerroman. Ich fragte jedoch lieber, was ist die Zeit? Um nicht zu fragen: Wie lange war ich weg - einen Tag, eine Stunde, ein Jahr? Der Junge sagte: Du bist bloß ein bisschen zu. Du hast zuviel von dem Zeug erwischt. Es macht nichts, sagte er. Es gibt Ärgeres. In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre stellten die offenen Drogenszenen Berns, Basels und insbesondere Zürichs in den Augen der Öffentlichkeit eines der brennendsten Probleme der Schweiz dar. Der öffentliche Druck wuchs und führte zu politischen Eingriffen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Der Bund wurde aktiv und setzt seitdem auf die sogenannte Viersäulenpolitik: Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Manche hatten hier tatsächlich gelebt. Am Flussufer waren mehrmals kleine Dörfer aus provisorischen Behausungen entstanden auf diesem kleinen Gelände, und manchmal waren bis zu 3000 Drogenkonsumenten hier. Dealer, offener Handel, kleine und große Kriminelle, Dreck, Diebstahl, Sterbende, Polizei, Sanitäter – und, für einige, Heimat. Das war das Bild, das sich seit den 1980ern im „Needle Park“ bot. Der „Needle Park“? Der Platzspitz, im Herzen Zürichs, unweit des Hauptbahnhofes. Drogenhandel und Drogenkonsum sowie großes Elend inmitten der reichen Schweiz, inmitten Zürichs. Bedenklicher, dunkler und problematischer Ruhm. Alleine 1991 hatte es auf dem Platzspitz 21 Drogentote gegeben. Der Platzspitz war zum Treffpunkt derer geworden, die woanders vertrieben worden waren. Der Platzspitz war von Politik und Polizei toleriert, die Zunahme der Nachfrage erhöhte das Angebot, am 05. Februar 1992 wurde das Areal geschlossen und die offene Drogenszene wanderte nicht einmal einen Kilometer weiter an den stillgelegten Bahnhof Letten. Die Schließung des Lettenareals am 14. Februar 1995 dann führte zu einer bis heute andauernden Wende: Durch das Gesetz geregelte Medikation von Methadon, Heroin und anderem, psychiatrische Begleitung, Aufklärung, ärztlicher Beistand, geschützte Räume für die Drogensüchtigen, Trockenlegung des Marktes, mögliche Abstinenz. Die Drogenpolitik der Schweiz wurde vom ideologischen zum sozialen und medizinischen Gegenstand. Pragmatismus. Das Schweizer Wahlvolk, die Stimmberechtigten, hatten in mehreren Vorlagen so entschieden. REPORTAGE 2 Ruth Dreifuss, 70 Jahre alt, stand von 1993 bis 2002 dem Eidgenössischen Departement des Innern vor. „Hallo, guten Tag.“ Genf. Zwischen Genfer See und Bahnhof. „Im siebten Stock, ich öffne die Türe, ja.“ Frau Dreifuss war die Person, die für die liberale Drogenpolitik verantwortlich war. „Bonjour, vous allez bien?“ Geht ganz o.k.. Sie sieht den Himmel von hier oben, eine offene Küche, auf dem halb ovalen Sofa liegen Stricknadeln und Wolle, Ruth Dreifuss trägt eine schwarze Stola, sie hat schwarzes Haar. „Ich habe keine Drogen-Erfahrung. Außer, hmhm, außer einmal Psilozybin in einem medizinischen, wie sagt man, medizinischen Versuch über Schizophrenie, man hoffte zu dieser Zeit mehr über die Schizophrenie zu erfahren mit Drogen, die ähnliche Zustände produzierten.“ Sie wohnt schon lange in Genf und ist Sozialdemokratin. „Ja, seit immer.“ Gut. „Ich bin auch Atheist.“ Ihre damalige Arbeit: „In dieser Tätigkeit war ich, als ich in die Regierung kam, konfrontiert einerseits mit der Aids-Epidemie, die zu dieser Zeit noch eine tödliche Epidemie war, die viele junge Menschen betroffen hat, und dadurch, auch im Zusammenhang mit Aids, wurde die dann Drogenpolitik weitgehend auch auf die zentrale Ebene gehoben.“ Durch saubere Spritzen, so die erste Überlegung auf tiefem Niveau, wäre die Epidemie in den Griff zu bekommen. Denn bei Fixern übertrug sich der HIV-Virus durch die gemeinsame, die stetig gemeinsame Benutzung der Nadel. Die Schweizer Drogenpolitik der 70er, ausschließlich Repression, Marginalisierung und Kriminalisierung, war gescheitert. „Die Schweiz war ja wirklich ein Land mit einer hohen Inzidenz an Konsum, natürlich meistens, und das war eine Folge der 68´er- Bewegung, mehr ein Kanabis-Konsum, der nicht sehr zur Verelendung der Menschen beitrug, sonder auch einen festlichen Charakter hatte, aber mit der HIV-Ausdehnung, die eben auch diesen Herd hatte der Drogen konsumierenden Menschen, die intravenös Drogen konsumierten, wurde es dann wirklich zu einem Problem der santé publique, ein gesellschaftliches, ein gesundheitliches Problem.“ Die Schweiz ging parallele Wege. Ruth Dreifuss: „Natürlich haben wir die Verfolgung des traffiques, des Verkaufs der Drogen nicht geduldet, aber die Problematik wurde langsam verlagert, oder ergänzt wäre besser, durch die medizinische, sozial-medizinische Betrachtung, und die Priorität wurde in diesem Sinn geändert.“ Schutz der Menschen vor HIV sowie anderen Hepatitis-Krankheiten. Mehr als 15 Abstimmungen auf Gemeinde- Kantons- und Bundesebene führten zu einer Änderung des Betäubungsmittelgesetzes. Mit ausschließlich auf Abstinenz orientierten Institutionen war der Fächer nicht breit genug. Gefahren- und Leidminderung wurden zum festen Bestandteil. „Jetzt über den Widerstand dagegen, der war natürlich da, wir hatten zum Beispiel auf Bundesebene einen Versuch mit einer Volksinitiative und einer Volksabstimmung, die Schweiz als Drogen freies Land als Ziel zu setzen, diese Initiative bekam ungefähr 1/3 Ja-Stimmen und 2/3 Nein-Stimmen, zur selben Zeit gab es auch eine Initiative zur Legalisierung des Drogenkonsums, die bekam auch ungefähr 30 Prozent Ja-Stimmen und 70 Prozent Nein-Stimmen, sodass wir wirklich auch mit den Erfahrungen in den Kantonen sehen konnten, ein Mittelweg ist möglich, ist der Schweizer Bevölkerung zumutbar, und ich ging dann diesen Weg.“ Ruth Dreifuss wurde als die Dealerin der Nation verunglimpft. Die Schweiz ist ein reiches Land – es konnte sich die Kosten, die auf den Bund zukamen, leisten. „Ja, aber unser Programm war nicht kostspielig, die Repression war und ist viel kostspieliger. Als wir das dann eingeführt haben, haben wir es auch ganz automatisch als eine Leistung der Krankenversicherung aufgenommen.“ Etwa 1600 Menschen nutzen das Schweizer Heroin-Programm, Personen, die auf die Methadon-Abgabe nicht mehr ansprachen. In den Fixerstuben, sauber, sicher, mit Fürsorge und Würde, spritzen noch mal so viele Heroin von der Strasse. Kein Zufall, das Zürich Zentrum der zentralen offenen Drogenszene war. „Ja, anfangs der 90er-Jahre war so ein kritischer Spruch, dass auf der einen Seite des Hauptbahnhof der Platzspitz war und auf der anderen die Bahnhofstrasse mit ihren Banken. Das heißt dass natürlich die Schweiz ein Ort ist, wo einerseits die Handelsströme gut funktionieren, auch die illegalen, und andererseits in dieser Zeit auch kriminelles Geld ihre Fluchtstätte finden konnte.“ Die Stadt Zürich musste handeln, weil sie es nicht mehr ertragen konnte: Auf der einen Seite die Banken, auf der anderen die Verelendung. Ruth Dreifuss: „Ja, es war unerträglich. Aber ich muss da vielleicht ein Wort sagen über den versuch der offenen Szene: Als der Drogenkonsum wirklich zu einem gesellschaftlichen Problem wurde, noch mals, verschärft durch die HIV-Infektionen, war es ein bewusster Versuch, die Drogenabhängigen an einem Ort zu sammeln, um ihnen eben eine minimale Betreuung offerieren zu können. Saubere Spritzen, Möglichkeiten, ihre Venen, kaputten Venen zu pflegen, Sauberkeit usw. Das heißt ursprünglich waren die offenen Szenen ein versuch, den Kontakt mit den Drogenabhängigen herzustellen, wir haben dann gesehen, das war der Fall in Bern und in Zürich, die zwei Orte, wo die offene Szene am meisten geduldet war, dass dieser versuch nicht erfolgreich war. Einerseits vielleicht, weil er auch nicht sehr konsequent durchgeführt wurde. In anderen Worten: man hat diese Szene immer in engere Orte gejagt, vom Platzspitz zum Letten, in Bern von der Schanze bis zum Kocherpark, und je enger die Umstände waren, je unkontrollierbar wurde die Szene, weil in diesen großen Versammlungen von Menschen, konnten die kriminellen Organisationen ihren Markt finden. Das wurde auch immer brutaler, ich meine, Dealer schlugen Menschen, die nicht bezahlt oder die Prostitution, auch eine ganz schlimme Prostitution, auch von gutbürgerlichen Menschen, die einfach dort wehrlose Menschen trafen, war wirklich zu einem großen gesundheitlichen, sozialen, gesellschaftlichen und polizeilichen Problem geworden, wir mussten die offenen Szenen schließen.“ Ruth Dreifuss, 1999 der erste weibliche Bundespräsident, arbeitet heute für die World Health Organization. Die Annahme eines Gesetzes zur Legalisierung weicher Drogen, Haschisch und Marihuana, konnte sie nicht durchsetzen. Literatur: Ich verstehe vermutlich nicht alles, sagte sie. Es ist mir ein bisschen zu hoch. Aber ich glaube, ich spüre, wie dir zumute ist. Sie lächelte: Vielleicht ist das auch eine Therapie? Ich rief aus, das sei die beste Therapie der Welt. Nimmst du noch einen? fragte ich. Noch so einen, antwortete sie und deutete auf ihren Tee. Ich bin krankgeschrieben, erklärte sie. Hepatitis B. Beinahe hätte ich gewünscht, nicht an ihrem Tisch zu sitzen. Ich bin nicht ansteckend, sagte sie. Aber der Arzt verbietet mir zu arbeiten, und ich darf nicht trinken. Kein Alkohol. Ich will zwar abkratzen, und ich werde abkratzen, aber nicht auf diese Art - dass meine Leber sich auflöst, sagt mein Doktorchen - flupp!, wie ein Stück Zucker im Tee, im Alkohol. Der Doktor hat mir ein Taggeld verschafft. So gut wie mit meiner Gelb- sucht ging es mir noch gar nie. Die Zusammenarbeit von Polizei, Sozialarbeitern, Ärzten und Wissenschaftlern schuf Ende der 1980er, Anfang der 1990er den Boden für eine andere, für eine pragmatischere Drogenpolitik. Abstinenz ist nicht mehr das alleinige Ziel, Anders als jene Staaten, in denen die Polizei allein den Besitz von Spritzen als Beweis für Drogenkonsum gilt – und der unterstellte Drogenkonsum dann geahndet wird. Die Bundesrepublik Deutschland, die Niederlande und Portugal gehen ähnliche Wege wie die Schweiz, die skandinavischen Länder setzen auf Abstinenz. Entzug, keine Drogen mehr. Offiziell existiert in der Schweiz keine offene Drogenszene mehr – aber es gibt sie. Kokain, LSD, Psilozybin, Mescalin, Haschisch, Marihuana, Ephedrin, Ecstasy. REPORTAGE 3: Samstagabend. Nicht spät, nicht mitten in der Nacht, die Langstrasse in Zürich, Kreis 4. Schmale Strassen, alte Häuser, Besucher, Bars, Bordelle, viel rotes Licht, Menschentrauben, meist junge Leute, vor den Bars, durch die Langstrasse windet sich ein breiter Bus mit Oberleitung. Drogen? „Jaha.“ Kokain? „O.k., hab´ ich.“ Die Polizei fährt Streife, die Bars lärmig, ab und an kommt der Verkehr zum Stehen. Kokain? „Hast Du Cash hier?“ Studenten, Künstler und Akademiker haben den Kreis 4 als Wohnort entdeckt, Seitenstrassen sind verkehrsberuhigt. Vor den Diskotheken wird getrunken. Kokain? „Koki? Ja, moment, komm her.“ Einen Tag später, mittags. Auf dem Platzspitz, zwischen Sihl, Limmat und dem Koloss des Landesmuseums. Hunde sind an der Leine zu führen. Zu erreichen ist der Park über zwei Brücken. Am Ende der einen Brücke ein junges Mädchen, das Haschisch, am Anfang der anderen ein Mann, der Marihuana verkauft. Der Park ist wieder Park, es nieselt, der Park ist leer. In dessen Mitte ein Musikpavillon, vor dem Landesmuseum, an dessen Rückseite, zwei Brunnen. Um sie herum war zu Zeiten des „Needle Park“ ein hoher Zaun, aus Sicherheits- und hygienischen Gründen. Die Drogenabhängigen schnitten ihn mit Drahtscheren immer wieder auf. Wer damals in´s Landesmuseum ging, wurde innen mit der Herrlichkeit der Schweiz und dahinter mit deren Kreuz konfrontiert. Die Polizei kontrolliert neben dem Landesmuseum am take away Dim Sum drei Personen. Ob die Drogenpolitik der Schweiz vorbildlich sei, meint ein Beamter... na ja. Inzwischen hat das junge Mädchen ein wenig Haschisch verkaufen können. „Erst jetzt, für 50. Hat mich gegeben. Tschau, he.“ Sie waren eingesperrt gewesen, die Drogensüchtigen vom Platzspitz, eingezwängt auf diesem gleichschenkligen Dreieck zwischen zwei Flüssen und dem Museum. Zum Bahnhof Letten im Stadtteil Wipkingen ist es nicht weit, die Limmat hinunter. Die Schliessung des Platzspitz verlagerte die offene Drogenszene hierher, nicht mal in das kleine Bahnhofsgebäude, sondern in seine unmittelbare Nähe, unter eine Brücke und auf die Gleise. Unter der Brücke verschönern zwei Sprayer deren Wände. Im Bahnhofsgebäude sitzt eine Bürogemeinschaft. „Also ich kann mich erinnern, dass die Leute noch auf den Gleisen herumgesessen haben.“ Jon Bollmann, Redakteur der Zeitschrift Transhelvetica. Letten kommt von Lehm, weil man hier früher Lehm förderte. Bollmann hat ein paar Fotografien geholt. „Mit einem alten Zug, ein Wagen, den können Sie da vorne noch sehen, die Gleise sind weg, der wird wohl noch ´ne Weile bleiben, der ist mittlerweile zu ´ner Bar umgebaut worden, hier ist im Sommer natürlich neuerdings ´n totaler in-place, wo man sein muss, da sind nur die schönen und kräftigen, gesunden Leute anzutreffen heutzutage.“ Die Stadt Zürich hat Pläne, diese ganze Gegend aufzuwerten. Gentrification. Eine weitere Fotografie: „Da sehen Sie die Treppe, auf der anderen Seite auch mit jeder Menge Junkies. Oder auch die ganzen Leute hier, die rumgestanden haben bzw. was sie dann über Nacht hier gelassen haben, haben die sich halt den Schuss gesetzt, sobald sie was hatten.“ Momentaufnahmen, die Fotos, und eine der Fotografien ist makaber. Jon Bollmann: „Das muss in einem Drogenrausch entstanden sein, ´ne künstlerische Intervention im Rausch, die drei Spritzen kurz nach dem Gebrauch direkt in den Türrahmen rein gesteckt und da kommt noch das Ganze Blut raus und tropft da über den weißen Türrahmen runter.“ Junge Leute. „Junge Leute. Die eigentlich, nicht ersichtlich, warum die in die Drogen abgerutscht sind, aber das ist ja nie ersichtlich.“ Einen Tag später, später Nachmittag. Wieder im Kreis 4, Helvetiaplatz, daneben die Langstrasse. „Jetzt han i aber lang gwartet, hä?“ Im Gasthaus Jägerburg. Es ist zu laut. Nach nebenan, in die Molkenstrasse, in André Bleikers „Andy´s Fishershop“, Anglerbedarf. Renata Tajana ist Quartiervereinspräsidentin der Zürcher Stadtteile Außersihl-Hort, das schließt die Langstrasse ein. 170 Nationalitäten leben im Kreis 4, die Stadt Zürich hatte bereits 2003, um ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessen zu schaffen, die Initiative „Langstrasse plus“ in´s Leben gerufen. Als Quartiervereinspräsidentin ist Renata Tajana Sprachrohr der Bevölkerung gegenüber der Stadt. Bindeglied zwischen den Welten. Im Kreis 4 geboren, ist sie im dritten Amtsjahr, Sekretärin bei einem Chirurgen, Heilig Abend wird sie 49. Tagsüber, weil der Chirurg am Paradeplatz arbeitet, umgeben von Schlipsträgern in blauen Business-Anzügen, Abends von Huren und Dealern oder Huren, die Drogen nehmen, um klar zu kommen und dealen, um ein paar Franken dazu zu machen. „Es hat auch die sogenannten Schlipsträger bei uns. Aber bei uns geht das Gefälle natürlich hinunter bis zu den Obdachlosen.“ Die Umsatzgewinnschöpfung der Prostitution ist enorm. Und wer zahlt bei 8, 9 Prozent Hypothekenzinsen die teueren Wohnungen? Das Milieu. Es gibt Probleme. „Es gibt Probleme, ja.“ Mit dem Strassenstrich. Und mit dem Drogenhandel. Renata Tajana: „Und das ist da, wo wir im Kreis 4 nicht wollen, Sexsalons, die hat´s immer gegeben, die sind akzeptiert da, die gibt es und ist auch von der Bevölkerung, sie wie ich höre, akzeptiert. Nur der Strassenstrich, das wollen wir im Kreis 4 nicht.“ Ausbeuterisch und frauenfeindlich. „Und dann haben wir auch den Drogenhandel. Wo das Letten geschlossen wurde, haben wir ja richtige Missstände gehabt im Kreis 4, also die Dealer auf der Strasse öffentlich, wurde verkauft, sie wurden kontrolliert, aber meistens war es so, dass der Dealer vor den Polizisten wieder auf der Strasse war, das war ein richtiges Katz- und Mausspiel von der Polizei gegenüber den Dealern.“ Es sei, auch dank der erwähnten Initiative „Langstrasse plus“, besser geworden. „Aber vor einer Zeit, wenn man den Coop anschaut, wo man einkaufen kann, der ist mit Polizei und Securitas gesichert, also das ist ein neues Bild.“ André Bleiker, der Angler, schaltet sich ein: „Die Kunden werden angemacht, sie werden provoziert, wenn man was sagt, dann gibt´s Ärger, und auch mit den Ladenbesitzern, die hatten Angst. Also das ist eigentlich das große Problem.“ Aber es gibt schon Polizeipräsenz. „Für mich zu wenig, hahaha.“ Und wie ist für sie das Leben mit den anderen Nationalitäten: „An der Langstrasse selber denk ich mir, wenn ich einen dunkelhäutigen Mann treff´, muss ich auch manchmal schauen, wo muss ich den jetzt einordnen? Ist es ein Dealer, ist es ein Passant, ist es ein Tourist, was dann das schwieriger macht. Aber man hat schon eine gewisse Hemmschwelle und schaut zuerst, was ist das für ein dunkelhäutiger Mann. Man muss aufpassen, dass man wirklich nicht alle in einen Topf hinein wirft, weil Langstrasse ist multikulturell, und natürlich, man darf nicht alle, dunkelhäutig, Drogenpolitik kann man auch nicht machen. Man muss aufpassen, es ist die Familienseite, es ist die Touristenseite und es ist die Dealerseite, man muss aufpassen, dass man wirklich nicht alles in einen Topf schmeißt. Die Dealer sind eigentlich die Schwarz-Afrikaner...“ Ehemals waren es die Libanesen. „...die dunkelhäutigen Menschen, und die Konsumenten sind die Weißen, Schlipsträger unter anderem und und und, das fängt in den untersten Schichten an und hört zu oberst auf. Und je nach dem, wie man mit den Drogen umgeht und sozial sich halten kann, ob man noch berufstätig ist und den Verdienst noch hat, dem sieht man das nicht an, ist aber genau so Konsument da wie ein Junkie, wie wir uns das vorstellen, verfilzt, schlecht gekleidet, armselig, wo das Heroin einkauft.“ Literatur: Der Preis für meine Art zu schreiben ist entschieden zu hoch. Eines Tages werde ich Lähmungen aufweisen, die von Hirnblutungen herrühren, wiederum durch die Medikamente, Pillen, Tabletten, auch Spritzen hervorgerufen sein werden, die Drogen, die ich brauche, um zu schreiben. Im übrigen lebe ich eine brüchige Idylle, die an Plastikblumen erinnert - mit meinem Sohn und dem Mädchen, von dem ich nicht genau weiß, wozu ich es habe: Als Sekretärin einer Schriftstellerin taugt sie kaum, für die Haushaltung nicht viel besser als Mann oder Sohn. Allmählich stellt der Zustand angeregter Konzentration, gelockerter, aber gebündelter, gezielter Assoziationen sich ein. Assoziationsteppiche wie nach einem Joint. Konzentrisch, um eine Mitte kreisend, und auf immer weiteren grandioseren Kreisbewegungen immer mehr auf das Zentrum gerichtet, eine Doppel- spirale, eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt - auf die Radnabe Zen-Koan, aus dem alles kommt, wohin alles geht. Das Jahrzehnt illegalisierter Jugenddrogen waren zweifelsfrei die 1960er. LSD spielte eine wichtige Rolle in den Kulturkämpfen und es soll einigen Menschen einen Erkenntnisgewinn verschafft haben. „Bewusstseinserweiterung“, mit diesem Begriff wurde damals sehr gerne gearbeitet. Aber es spielte noch anderes eine Rolle: Die von der Schweizer Pharmaindustrie entwickelten Medikamente. Substanzen, deren Wirksubstanzen zum ersten Mal auf das zentrale Nervensystem zielten. Valium, Librium, Nobrium, mindestens Valium wurde zu einer Alltagsdroge. Heute bieten Neuroenhancer Startvorteile durch ihre Stärkung für das Hirn – das nicht-pharmakologische Äquivalent wäre das die Ich-Bezogenheit fördernde Kokain - Alltagsdoping. In Zürich war es 1980 zu Auseinandersetzungen, Meinungsverschiedenheiten, Krawallen zwischen der Jugendbewegung „Bewegig“ und der Stadt gekommen. Generationskonflikt, verkrustete Strukturen, Konservatismus. Die Jugendbewegung suchte Raum – Hausbesetzungen folgten. Teile dieser Bewegung waren junge Menschen, die anders leben wollten, Teile dieser Bewegung waren Menschen, die man heute als Alternative, meinetwegen auch als Autonome bezeichnen würde, Teile dieser Bewegung waren Punker UND Drogenabhängige. Wie überall wussten damals auch die Verantwortlichen in Zürich sich nicht anders zu helfen als die Dokumentation „Züri brennt“ es schildert: Repressiv. Den Platzspitz konnte man wahrnehmen als suspekten, aber schrillen Schrei nach Hilfe. Junkie sein war andererseits ein Lebensstil, manchmal sehr bewusst: Ein klares Signal, mit dem Geld der Stadt sowie der Bourgeoisie nichts zu tun haben zu wollen – ohne von der entsetzlichen Abhängigkeit, in die sie geraten würden, zu ahnen. Und vor allen Dingen, welche Folgewirkungen diese Abhängigkeit haben würde. Verelendung, Kriminalisierung, Beschaffungskriminalität, Beschaffungsprostitution. Drogenpolitik ist in der Regel repressiv – verbunden mit einem Apparat der Drohszenarios. Immanent betrachtet, ist die Schweizer Drogenpolitik die vernünftigste, die in Europa gemacht wird. REPORTAGE 4: In der Zürcher Innenstadt. In einer Einbahnstrasse. Vor einem Haus des Sozialdepartements Zürich. Michael Herzig ist Leiter des Geschäftsbereichs Sucht und Drogen im Sozialdepartement Zürich. Niederschwellige Drogenhilfe, vier Häuser dieser Art hat die Stadt, Überlebenshilfe, gestaffelte Öffnungszeiten, seine Klienten zirkulieren. „Unser Fokus ist, wir wollen die Leute unterstützen in einem verantwortungsbewussten Umgang mit psychotropischen Substanzen. Das heißt, wenn man Verantwortung für sich nehmen will, muss man wissen, was man tut, und wir sagen den Leuten, was sie Tun, denn sie wissen häufig nicht, was sie schlucken. Also testen wir den Stoff, wir gehen an eine Party, mit einem mobilen Labor, das ist eine große Einrichtung, das blinkt überall, Computer usw., das ist mitten in der party drin, also da wird getanzt, da hat´s DJs, viele Leute, und dann können die bei uns den Stoff, den sie vorher illegal gekauft haben bei einem Dealer, können sie den bei uns testen. Also sie geben uns ein Stück eines Pulvers oder eine Tablette, und wir lassen das durch das Labor rattern.“ Noch Mal: Ich habe eine Tüte LSD dabei oder Ecstasy – und Herzig prüft das auf Reinheit, dessen Zusammensetzung, dessen mögliche Wirkung, dessen Gefahr usw. Eine Beratung muss ich über mich ergehen lassen, eine halbe Stunde lang, dann wird mir das, was ich habe testen lassen, wieder ausgehändigt. Herzig, 45, ledig, ist Berner. Er trägt einen leichten blauen Zweireiher, eine große Brille, lichtes Haar und lange Koteletten. Was ist für ihn eine Partydroge? „Alles, was in diesem Party-Setting geschmissen wird. Klassischer Weise war das Ecstasy, mittlerweile ist Ecstasy nicht mehr so populär, Amphetamine sind sehr populär, eine sehr beliebte Partydroge ist Kokain, wir testen auch Kokain, und eben die Partydroge Nummer eins ist Alkohol, den müssen wir nicht testen, aber wir führen auch Beratungen zu Alkohol durch.“ Und ich mache mich, was ich ihm auch gebe, nicht strafbar. „Nein, Sie machen sich nicht strafbar.“ Sie machen noch mehr: Einmal die Woche für drei Stunden ein Drogeninformationszentrum, dort erreichen sie nicht den Partygeher sondern die, bereits lange konsumieren. Der älteste war 63 und konsumierte Kokain seitdem er 23 war. Sie vermitteln Psychiater, sie haben eine Auffangstation für Alkoholiker, Strassensozialarbeit auf dem Strassenstrich, weil dort alles konsumiert wird, was Wirkung hat, und sie haben SIP-Zürich, Sicherheit, Intervention, Prävention, aufsuchende Sozialarbeit inklusive Ordnungsdienst. Humanitäre Hilfe. Mit 200 Mitarbeitern. „Was wir tun, ist sozial Integration, also klassische Sozialarbeit für randständige Menschen. Wir sind das letzte Netz, wenn man bei uns rausfliegt, ist man auf der Strasse.“ Gleichzeitig ist das Sozialdepartement der erste Schritt weg von der Strasse. Sie sprechen, im Falle von Jugendlichen, mit den Eltern, sie sprechen mit Baugenossenschaften und Anwohnern in schwierigen Wohnkomplexen, wo strukturelle Probleme quasi mit eingebaut sind. „Ah ja, ich zeige Ihnen jetzt noch kurz die Einrichtung, hm.“ Seine Einrichtung ist nicht zu vergleichen mit dem Zokl, dem Zürcher Opiatkonsumlokal der Arud, der Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen. Unten im Erdgeschoss werden illegal erworbene Drogen konsumiert: Kokain, Heroin, Crack, Freebase. Wenn sie es nicht hier tun würden, würden sie es auf der Strasse tun. Das ist das Konzept. Der große Aufenthaltsraum ist voll. Die Klienten kochen, wenn sie wollen, selbst. Sie können waschen, sich selbst sowie ihre Kleidung – und sie können sich zurück ziehen. „Wenn man jetzt hier konsumieren will, dann muss man sich hier anmelden, weil wir stellen sicher, dass sauber konsumiert wird. Wenn es Platz hat, kann man da rein gehen,...“ Sie haben für die, die auf der Strasse leben, saubere Kleidung zum Wechseln... „Und jetzt haben wir gleich die Polizei im Haus.“ In Zivil. Völlig normal, sagt Herzig, sie suchen jemanden. Und niemanden interessiert es. Auf dem Weg in den City-Treff. Ein Männerwohnheim für Randständige, Drogenabhängige und langjährige Alkoholiker. „Das sind dann wirklich Hardcore-Alkis, die trinken ein, zwei Kasten Bier pro Tag.“ Menschen, die eigentlich in ein Pflegeheim müssten - nur sind sie da nicht tragbar. 25 Millionen Franken hat Herzig als Etat im Jahr. 18,5 Millionen Euro. „Aber man muss sich das leisten können und leisten wollen, und die Steuerzahler der Stadt Zürich wollen sich das leisten.“ „Hoy. Hallo. Hallo.“ Ein großer Raum mit Theke. „Sie sehen, das sieht aus wie ein Restaurant, mehr oder weniger. Es hat eine Theke, es einen Aufenthaltsraum, wir haben hier auch eine Raucherzone abgeschieden, weil das muss man tun heute.“ Selbst Tabakkonsum führe dazu, dass man auf der Strasse stehe. 20 Zimmer, Einzel- und Doppelzimmer, einhundert Besucher täglich, die Ein und Aus gehen. Ein Mittagessen zu vier Franken. Und man kann, wenn man will, arbeiten. „Also man kann unten im Keller zum Beispiel Spritzen abpacken, für die Spritzenautomaten, an der Theke arbeiten, wir haben einen Kurierdienst, wir haben auch zwei Arbeitsbetriebe, wo man nur arbeitet.“ Ein Hund. „Ja. Es hat auch Hunde. Es hat viele Hunde. Also die sind bei uns zugelassen, solange sie sich anständig benehmen, die Hunde. Solang´ sie die Hausregeln einhalten. Ich bin einer, der da mitarbeitet, dass der Treff läuft, ja.“ Ein Zyniker, oder ein Neider, ein ideologisch Verbohrter oder jemand, der der Meinung ist, wer nicht arbeitet, wer keine Steuern zahlt, solle obendrein nicht noch in den Genuss der Schadensbegrenzung kommen, alle jene könnten behaupten, ein Abhängiger welcher Art auch immer sei gut versorgt in Zürich. „Ja, aber wieso ist das zynisch, das stimmt, die sind gut versorgt.“ Wenn sie wollen. „Wenn sie wollen, und wenn sie sich an unsere Regeln halten, aber ja, sie sind gut versorgt, sie sind nicht auf der Strasse. Man kann auch sagen, man ist bei uns auf hohem Niveau randständig. Also die ganze Szene, die man in Frankfurt hat um den Bahnhof, die haben wir nicht, die hätten wir aber, ohne diese Einrichtungen.“ Das System ist überall ähnlich in den größeren Schweizer Städten, mit dem Unterschied, dass der Kostenträger in Zürich Zürich ist, und nicht ein freier Träger. Das hat, in Zürich, historische Gründe, man hat 15 Jahre das falsche getan. Platzspitz und Letten. „Wenn die Leute hier nicht drin sind, sind sie draußen. Wenn sie bei mir nichts zu essen kriegen, dann hungern sie, wenn sie bei mir keine sauberen Spritzen kriegen, dann stecken sie sich mit HIV an. Und darum führt die Stadt diese Betriebe selbst.“ Die Strasse, in der das Männerwohnheim steht, heißt übrigens Gerechtigkeitsgasse. Sie hörten die Gesichter Europas. „Heroin auf Rezept“ - über die ?Drogenpolitik in der Schweiz. Die Texte wurden gelesen von Phillip Scheppmann und entstammen alle dem Band „Maskenzwang“, Erzählungen von Walter Vogt, Zürich 1985, erschienen bei Benziger. Vogt, 1927 in Zürich geboren und 1988 in Muri bei Bern gestorben, war Schriftsteller und Psychiater und drogenabhängig und bisexuell. Die Technik dieser Sendung: Beate Braun und Michael Morawitz, Redaktion Katrin Michaelsen, am Mikrofon war Knut Benzner. 1