COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Die wilde Insel im Fluss:   Südlich der Elbe ist Hamburg ganz anders     Von Petra Marchewka      Sendung: 5. März 2017, 11.05h   Ton: Inge Görgner                                                                           Regie:  Roswitha Graf                              Redaktion: Renate Schönfelder               Produktion: Deutschlandradio Kultur 2017     Musik 1:                Titel: Bucovina Interpret: Shantel Komponist: N.N. Label: eSSAY Recordings, LC-Nr. 13406     Atmo 1:                 Veringstraße   1. O-Ton:               Pehlivanoglu: "Am Wasser Streife fahren, den Blick über die Stadt streifen lassen, die Wahrzeichen der Stadt sehen und überall sind Sie von Wasser umgeben, das finde ich echt in Ordnung."   Text:                      Hamburgs unbekannte Perle. Sozialer Brennpunkt. Multi-Kulti-Viertel. Schmuddelkind. Szene-Hochburg. Wilhelmsburg hat viele Namen. Keiner vermag den Stadtteil im Fluss angemessen beschreiben.   2. O-Ton:               Falke: "1962 kriegten wir die Wohnung, und am 17. Februar war unsere neu eingerichtete Wohnung 1,64 Meter gefüllt mit Wasser. Alles kaputt."     Text:                      Die Insel in der Elbe hat viel erlebt, Gutes wie Schlechtes.   3. O-Ton:               Loredo:  "Wenn man sich tatsächlich dafür interessiert, wie es nicht nur ein Gegeneinander oder ein Nebeneinander von Kulturen geben kann, sondern wie sich seit 100 Jahren hier tatsächlich was verfestigt hat, dann müsst ihr nach Wilhelmsburg kommen."   Text:                      Auf der mentalen Landkarte vieler Hanseaten fehlt Hamburgs südlicher Stadtteil vollkommen. Aber langsam, ganz langsam ändert sich das Image dieser urbanen Rarität.                                 Atmo 1 und Musik enden hier                                 Kennung:              Musik     Ansage:                 Die wilde Insel im Fluss: Wilhelmsburg. Südlich der Elbe ist Hamburg ganz anders. Eine Deutschlandrundfahrt von Petra Marchewka.   Kennung:              Musik     Atmo 2:                 In der S-Bahn, Stimmen, diverse Geräusche   Text:                      Es dauert gerade mal acht Minuten, um vom Hamburger Hauptbahnhof mit der S-Bahn-Linie 3 nach Wilhelmsburg zu gelangen.  Die Strecke führt über die Norderelbe und an Hamburgs grandioser Hafenkulisse vorbei. Ein paar Barkassen, ein Frachtschiff und die roten Giebel der historischen Speicherstadt fliegen vorbei. Die Hafen-City mit ihren gläsernen Fassaden. Baukräne, Containertürme, Lagerhäuser. Hinten das alte und das neue Wahrzeichen der Hansestadt, Hamburger Michel und Elbphilharmonie.   Atmo 2:                 Durchsage: "Nächste Haltestelle: Wilhelmsburg."   Text:                      Noch den Inselstadtteil Veddel passieren und dann rumpelt die S-3 auch schon auf Wilhelmsburg zu.   Atmo 2:                 Aussteigen, Atmowechsel nach draußen, Schritte, Stimmen, Straßenverkehr   Text:                      Ich bin mit Ruza Buljan und ihrer Tochter Sanja verabredet. Beide wohnen am Vogelhüttendeich mitten im Reiherstiegviertel. Die Gegend ist nach einem schiffbaren Seitenarm der Elbe benannt, dem Reiherstieg, der im 14. und 15. Jahrhundert nach schweren Sturmfluten entstanden war und heute Süder- und Norderelbe miteinander verbindet.   Atmo 3:                 Küchengeräusche   4. O-Ton:               Buljan - Arbeitsgeräusche, Backblech scheppert, Stimmen, Wasser plätschert   Text:                      Über Ruza Buljans Kochkunst wacht der Heilige Vater. Rechts neben dem gerahmten Papst-Portrait ein Hängeschrank mit Küchenutensilien, gegenüber ein kleiner Tisch. Auf einem blütenweißen Tuch liegt der längliche Teig wie auf einem Altar. Es soll Pita geben, ein traditionelles kroatisches Gericht, bestehend aus gerolltem Blätterteig mit Füllung.                               4. O-Ton:               Küchengeräusche   Text:                      Die 82-jährige Kroatin stülpt eine türkis-grüne Hygiene-Haube auf das graue Haar und bindet mit einem adretten Schleifchen die Küchenschürze zu. Dann bestreut die kräftige Frau den Teig großzügig mit Mehl und beginnt ihn mit einem runden Holz flacher und immer flacher zu rollen.   5. O-Ton:               Ruza: "Ich gestern schon so schon machen und dann die Kühlschrank" - "Kühlschrank?" - "Ja, besser so."   6. O-Ton:               Arbeitsgeräusche, Teig bearbeiten, Stimme Ruza.   Text:                      Ruzas Tochter Sanja hat die langen, dunklen Haare hinten zum Zopf gebunden und beugt sich über die enge Arbeitsfläche neben der Spüle. Dass die 41-jährige ihrer Mutter heute beim Pita-Zubereiten assistiert, Zwiebeln und Knoblauch kleinschneidet, die rohen Kartoffeln reibt, liegt vor allem daran, dass jemand vom Radio da ist. Sanja soll übersetzen, was Ruza sagt. Denn die hat sich in all den Jahren, in denen sie in Wilhelmsburg lebt, nie ernsthaft mit der deutschen Sprache auseinandergesetzt. Ihr reichten immer die Landsleute.   Atmo 3                   Küchengeräusche   7. O-Ton:               Sanja: "Meine Mutter ist 40 Jahre in Deutschland, spricht aber kein vernünftiges Deutsch. Und wenn ich sie dann frage, wieso sprichst Du kein Deutsch... weil, ich muss für sie Bankgeschäfte erledigen, sie zum Arzt begleiten, dann heißt es: Ja, brauchte ich nicht. Stimmt ja auch. Brauchen die nicht. Weil die hatten auch da, in der Kantine, wo sie gearbeitet hat, ihre Landsleute, das war so eine feste Community halt."     Text:                      In Wilhelmsburg muss man kein deutsch sprechen können, um über die Runden zu kommen, weder damals noch heute. Türkisch, spanisch, portugiesisch, arabisch, polnisch, serbo-kroatisch gehen auch. Ihre Mutter stamme aus dem ehemaligen Jugoslawien, erzählt Sanja, aus einem kleinen Dorf namens Sluzanj.   8. O-Ton:               Sanja: "Mitte 60er, da gab es hier halt Arbeit, ne, und da ist meine Mutter halt hergekommen auf eigene Faust, bei meiner Tante dann gewohnt, und durch meine Tante die Kontakte, im Hafen gab's 'ne Küche, Teller saubergemacht halt, Hauswirtschaft, solche Geschichten."     Text:                      1955 hatte Wirtschaftswunder-Deutschland erste Anwerbeverträge für ausländische Arbeitnehmer mit Italien abgeschlossen, in den 60er Jahren mit der Türkei, Spanien und Griechenland, dann mit Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Viele große Hafenbetriebe brachten die sogenannten "Gastarbeiter" in Wilhelmsburg unter, die Howaldtwerke Deutsche Werft zum Beispiel oder MAN. Die Lebensbedingungen waren oft unwürdig, viele der Menschen hausten in riesigen Barackenlagern und wurden ohne Tariflohn oder Krankenversicherung beschäftigt.   9. O-Ton:               Sanja: "Und mein Vater wurde damals, der hat 'ne Lehre gemacht als Tischler in Bosnien-Herzegowina, und die wurden damals richtig über deren Firma mit Bussen abgeholt, da gab's Charterbusse, die aus Deutschland gekommen sind, mein Vater hat bei, wie hieß denn das, Howaldt, da hat er als Tischler die Schiffe restauriert und alles, die Containerschiffe und meine Mutter war halt in der Küche, und so haben sie sich kennengelernt."     Atmo 3                   Küchengeräusche     Text:                      Während Sanja erzählt, beschäftigt sich Ruza wie versunken mit ihrem Pita-Teig, das runde Gesicht blickt ernst und konzentriert. Die alte Dame lebt jetzt, nachdem ihr Mann gestorben ist und die drei Töchter ausgezogen sind, ganz allein in der Altbauwohnung. Ruza hebt die weiche Teigmasse in die Luft und zieht sie an den Enden blitzschnell in die Länge und Breite, bis der Teig so hauchdünn ist, dass man fast hindurchsehen kann. Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch verrührt sie in einer Schüssel mit Schmand, gibt eine kroatische Gewürzmischung dazu und verteilt die Füllung sorgfältig auf dem Teig. Den wickelt sie dann vorsichtig zu zwei langen Röllchen, die sie in Schneckenform auf das Backblech legt.   10. O-Ton:             Ruza: "Wenn Du will, eine Eier dazu oder bisschen Schmand, alles so gemischt."     11. O-Ton:             P.M.: "Gibt's das bei Ihnen häufig, Pita?" - Tochter übersetzt, Ruza: "Ja! Kinder, wenn Geburtstag, so. Ich freue so. Und dann ich mehr machen, mehr so geht." - P.M.: "Ja, je mehr man das macht, desto besser geht es. Ist dieses Gericht für Sie ein Stück aus Ihrer Heimat?"     Text:                      Ruza schaut verständnislos. Sanja schüttelt liebevoll-genervt den Kopf und übersetzt.   12. O-Ton:             Sanja übersetzt die Frage, Ruza: "Ja, denke ich überall so früher. Ich früher auch machen so, wo ich geboren. Ich schon lange hier. Jetzt mehr hier wie wo geboren. Alle gestorben, Mutter und Vater und Schwester und Bruder, das ist jetzt meine Heimat hier. Kinder hier. Was machen?"     13. O-Ton:             Arbeitsgeräusche, Backblech scheppert, Stimmen, Wasser plätschert     Text:                      Die Pita ist endlich im Ofen. Nach 40 Minuten Backzeit wird es in der Küche herrlich duften. Aber Sanja Buljan hat heute keine Zeit, darauf zu warten. Sie muss rüber in ihr Geschäft.   Atmo 4:                 Straße     Text:                      Die gebürtige Wilhelmsburgerin hat eine Ausbildung zur Reisekauffrau gemacht und betreibt ihr eigenes kleines Reisebüro, nur ein paar Minuten von hier. Vor ein paar Jahren hat sie zusätzlich den "Elbinselguide" ins Leben gerufen, eine kleine Veranstaltungsinitiative, die geführte Rundgänge durch's Viertel und gelegentliche Kochkurse anbietet. Bei denen verraten die alten Wilhelmsburger aus der Gastarbeitergeneration ihre Heimatrezepte. Auch die eigene Mutter kann Sanja von Zeit zu Zeit überreden, anderen die Kunst der Pita-Herstellung zu zeigen.   14. O-Ton:             Sanja: "Ja, dann wird halt gekocht, die Heimatrezepte, Und dann kommen auch solche Fragen. Mensch, wie war es denn damals, als du hergekommen bist, wie hast du denn damals gelebt?"     Text:                      Die Elbinsel habe sich verändert in den letzten Jahren, erzählt Sanja Buljan, während wir in die Veringstraße einbiegen. Zu den Handyläden, Dönerbuden und  Afro-Shops sind viele neue Cafés und Geschäfte gekommen, und auch die Kulturszene ist sehr lebendig: Jeden Sommer treffen sich beim Dockville-Festival internationale Bands und bildende Künstler. Im Inselpark, Erbe der Internationalen Gartenschau 2013, finden Konzerte und Bürgerfeste statt. Und die alte Honigfabrik, ein Kultur- und Veranstaltungszentrum ganz in der Nähe, bietet regelmäßige Jam-Sessions, Lesungen und Poetry-Slams an. Langweilig wird es einem in Wilhelmsburg nicht.   15. O-Ton:             Sanja: "So, jetzt links, einmal über die Straße, das ist die neue Velo-Route, die die Stadt Hamburg gemacht hat (Atmo Straßenverkehr), bedeutet verkehrsberuhigte Zone, in der Praxis ab 20 Uhr halten sich eh alle nicht mehr dran, da siehst du auch Leute hier noch mit 100 Karacho durchfahren, einige, die dann halt ihre Männlichkeit beweisen müssen..."     Atmo 1:                 Veringstraße   Text:                      In Wilhelmsburg leben die verschiedenen Nationalitäten eigentlich ganz friedlich zusammen, sagt Sanja. 32,4 Prozent der rund 54.000 Bewohner besitzen einen ausländischen Pass, und von den vielen Flüchtlingen, die in den vergangenen beiden Jahren nach Hamburg kamen, fanden mehr als 2000 hier in Wilhelmsburg eine Bleibe. Wo so viele unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, komme es automatisch auch zu Reibungspunkten, räumt Sanja Buljan ein.   16. O-Ton:             Sanja: "Ich hab mich noch nie bedroht gefühlt, aber ich kann das immer ganz gut einschätzen und dann läufst du halt automatisch mit geballten Fäusten und ich laufe nach Mitternacht auch nicht mehr gerne alleine auf den Straßen Wilhelmsburgs. - Also ich schimpfe auch viel, ich möchte jetzt gar nicht ethnische Gruppen nennen, aber ich schimpfe viel über gewisse ethnische Gruppen. Was auch immer ganz spannend ist: Viele Freunde von mir in Sankt Pauli fragen mich, Sanja, Wilhelmsburg ist ja so zugeballert mit Flüchtlingen. Merkst du das? Nee, merke ich überhaupt nicht. Die Flüchtlinge merkst du hier nicht."   17. O-Ton:             Im Reisebüro, Kundengespräch, zwei ältere Herren wollen mit dem Fahrrad nach Alicante     Text:                      In Sanja Buljans Geschäft sitzen zwei gut gelaunte ältere Herren nebeneinander vor einem Schreibtisch und freuen sich wie kleine Kinder. Reisebüromitarbeiterin Cornelia Wulf hat gerade die Personalien für ihre Flugtickets aufgenommen.       18-1. O-Ton:          Carlos: "Die Reise soll nach Espanien, Altea, Nähe Alicante. Urlaub." - Heinz: "Urlaub mit Radfahren. Trainieren."     Text:                      Dass sie jedes Jahr zusammen verreisen, sagen die Rentner. Heinz Bügel trägt eine knallrote Mütze auf dem Kopf und erzählt, dass er bald seinen 76. Geburtstag feiert. Carlos Romero, noch ein paar Monate älter, drahtig und mit freundlichen Lachfältchen, kam 1962 als Gastarbeiter aus Spanien.   18-2. O-Ton:          Im Reisebüro, Verabschiedung auf Spanisch, Tür klappt zu.     Atmo 5:                 Im Reisebüro, ruhige Atmo, entfernte Gespräche     Text:                      Stammkunden, die beiden, sagt Sanja Buljan lächelnd und verabschiedet die reiselustigen Rentner mit Küsschen links und rechts. Wer Fernweh und wer Heimweh hat in Wilhelmsburg, der kommt zu ihr. Und viele bringen ihre ganze Lebensgeschichte mit.   19. O-Ton:             Sanja: "Ich hatte 'ne Flugbuchung für eine Afrikanerin abwickeln müssen, die auch schlecht Deutsch spricht halt, ne, sie hat ihren 10-jährigen Sohn einfliegen lassen, als One-way-Ticket, mit der Air France, das hat irgendwie 1200 Euro gekostet, und das, was mich auch sehr berührt hat, war: Dann überreicht sie mir 'ne Plastiktüte, mit dem ganzen Geld. Das waren alles Fünfer-, Zehner- und Zwanzigerscheine, ich weiß nicht, wie viele Jahre sie jetzt gespart hat, damit sie ein Ticket für ihr Kind bezahlen kann, ne. Und ja, am Ende, als ich alles abgewickelt hab, hab ich ihr die Tür aufgehalten, da hat sie mich umarmt. Hat mich in den Arm genommen und hat sich millionenmal bedankt, ne. Und da hab ich auch gesagt, ja, alles gut, ich hab doch meinen Job getan. Meine Arbeit hab ich doch nur gemacht halt, ne."       Musik 2:                Titel: Money Boney Interpret: O.M.F.O. Komponist: German Popov Label: Atlantic, LC-Nr. 00121   Atmo 6:                 Im Museum, Stimmen, zwei Männer reden miteinander     Text:                      Die beiden Männer fachsimpeln angeregt. Es geht um Peter Falkes Hackenporsche, neudeutsch "Trolley" genannt. Der ist nämlich kaputt, rollt nicht mehr so, wie er soll. Im Vorraum des kleinen Wilhelmsburger Elbinsel-Museums bittet Peter Falke, ein rüstiger Pensionär mit markantem Kahlkopf, seinen Freund Helmut Pohndorf, den Schaden zu reparieren. Denn Pohndorf war früher Handwerker und ist bis heute, mit seinen 88 Jahren, ein geschickter Alleskönner. Klar, sagt der, und packt die Wochenendbeschäftigung in den Kofferraum seines Autos. Dann möchte der grauhaarige Bastler wissen, ob ich Plattdeutsch verstehe, und lächelt verschmitzt, weil er meine Antwort schon kennt. Er holt ein bisschen aus.   20. O-Ton:             Pohndorf:  "Ich bin auf dem Lande geboren. Und meine Eltern sind irgendwann nach Wilhelmsburg, neunzehnhundert... Januar '29. Und wenn wir denn in den Ferien bei Oma waren, dann hat meine Mutter im Zug zu mir gesagt: So, mein Junge, nun müssen wir wieder hochdeutsch reden, denn morgen, also Montag, fängt die Schule an. Sonst häv wie bloß platt snackt. So. Peter, will wi nu n Bogen go? Oder wat häs Du för?"     Text:                      Seit 53 Jahren arbeitet Helmut Pohndorf nun schon im Vorstand des Museums Elbinsel e.V., dem Verein, der bis zu seinem 100-jährigen Jubiläum 2007 Verein für Heimatkunde Wilhelmsburg hieß. Alle Mitarbeiter engagieren sich hier ehrenamtlich und ohne Lohn für die gute Sache. Die gute Sache heißt Wilhelmsburg.   21. O-Ton:             Geräusch Tür aufschließen. P.M.: "Wo gehen wir jetzt hin?" - "Jetzt gehen wir in unsere Bauernstube."     Text:                      Das alte, von außen hellgelb gestrichene Gebäude von 1724 zeigt innen, wie es in Wilhelmsburg früher ausgesehen hat. Das Gebiet zwischen Norder- und Süderelbe war ursprünglich einmal eine Flußlandschaft, die sich durch Eindeichungen in 600 Jahren zu einer Gesamtinsel entwickelt hat. Das Museum erzählt die Geschichte des Deichbaus, die von den Welfen geprägte Barockzeit und dokumentiert mit vielen Exponaten die Zeitenwende von der bäuerlichen Kultur zum Hafen- und Industriegebiet. Helmut Pohndorf hat jetzt die Bauernstube aufgeschlossen, einen heimeligen Raum mit Holzdielen, alten Möbeln und Wilhelmsburger Trachten in Glasvitrinen. Peter Falke deutet auf drei gerahmte Portraits an der Wand. Als der 72-Jährige erklärt, dass dies die Ahnengalerie des Museums sei, nimmt sich Helmut Pohndorf einen Stuhl und setzt sich. Langes Stehen ist nichts mehr für ihn.   22. O-Ton:             Falke:  "Links Herzog Georg Wilhelm, rechts Eleonore d`Olbreuse und ganz rechts Sofie Dorothea, und das ist ja eine ganz wichtige Geschichte..."     Text:                      Peter Falke lässt nichts aus. Dass "wir", also Pohndorf, Falke und all die anderen Fluss-Insulaner, erst seit 1672 "Wilhelmsburger" sind. Dass Herzog Georg Wilhelm drei große, zwischen Hamburg und Harburg gelegene Elbinseln erworben hat. Dass er sie eindeichen und miteinander verbinden ließ. Und dass er mit diesem Kauf den Rang seiner Tochter Sophie Dorothea erhöhen wollte, genauso wie den seiner Maitresse Eleonore d`Olbreuse, die aus einer Hugenotten-Familie stammte.   Atmo 7:                 Im Museum, entfernte Unterhaltung der beiden Männer     Text:                      Helmut Pohndorf schaut auf die Uhr. Wenn ich die anderen Räume noch sehen wolle, müssten wir langsam mal weitergehen, rät er und erhebt sich.   23. O-Ton:             Pohndorf: "Schauen Sie mal, wir gehen da mal hin...."     Text:                      Nebenan sammelt das Museum alles zum Thema Milchwirtschaft. Helmut Pohndorfs Lieblingsraum, sagt er, denn hier kenne er sich besonders gut aus. Er geht vorweg zu einer Glasvitrine. Darin eine lebensgroße Puppe in weißer Kluft, mit schwarzer Weste und Zylinder. Ein Wilhelmsburger Milchverkäufer. Auf seinen Schultern ein Holzgestell, an dem links und rechts jeweils ein Eimer hängt.   23. O-Ton:             Pohndorf: "So sahen die aus."     24. O-Ton:             P.M.: "Warum ist es wichtig, im Museum in Wilhelmsburg einen Raum über Milchwirtschaft zu machen?"  Pohndorf: "Weil wir haben ja ganz viele Landwirte gehabt, die Kühe hatten und Milch nach Hamburg geliefert haben."     Text:                      Bevor die Elbe von Wilhelmsburg aus über Brücken passiert werden konnte, war die Insel mit Hamburg ausschließlich über Fähren verbunden, erzählt Helmut Pohndorf.   25. O-Ton:             Pohndorf: "Wenn es denn mal recht stürmisch war und es ist auch mal ein bisschen Milch übergepütschert, dann hat man gesagt: Reiherstieg, kannst du swiegen? Schweigen. Und dann hat man ein klein wenig Reiherstiegwasser dazu getan und dann war die Milch wieder in der Menge vorhanden."                                 Atmo 8:                 Im Museum, Schritte eine Holztreppe hinauf, knarren.     Text:                      Die Brücken. Die Deiche. Das Wasser. Die Flut. Sie, die große Hamburger Sturmflut vom Februar 1962, hat sich vor allem den alten Wilhelmsburgern ins Gedächtnis gebrannt.   26. O-Ton:             Pohndorf: "Meine Frau und ich sind... 1962 kriegten wir die Wohnung, 1. Februar gemietet und neu eingerichtet. Und am 17. Februar war unsere neu eingerichtete Wohnung 1,64 Meter gefüllt mit Wasser." - P.M.: "Alles kaputt." - Pohndorf: "Alles kaputt. Und wir erwarteten in Kürze, nämlich im Mai, unser erstes Kind."                                 Text:                      Helmut Pohndorf möchte das Thema nicht weiter besprechen. Nur so viel: Die junge Familie hatte Glück im Unglück. Niemandem ist etwas passiert.                               Angesichts der schweren Katastrophe von 1962 wirkt es ein bisschen makaber, dass Helmut Pohndorf und Peter Falke nun im Café Eleonore, einem gemütlichen Nebenraum mit Ausschank und selbstgebackenem Kuchen, eine Flasche "Wilhelmsburger Deichbruch" auf den Tresen stellen. Das Gläschen kostet 1 Euro 50.   27. O-Ton:             Pohndorf: "Brauchst ja nicht voll machen. Unten ein bisschen Luft, Peter, und oben schön voll (Kichern, Glasgeräusch)." - P.M.: "Ich riech mal dran, ja?" - Falke: "Er ist nicht unbedingt, das muss man fairerweise sagen, ein Frauengetränk. Aber es gibt immer wieder Ausnahmen. Er ist sehr bekömmlich."     Text:                      Ein Auszug aus 26 Kräutern soll in dieser Wilhelmsburger Spezialität enthalten sein, die 1910 von Nicolaus von Drateln, Besitzer einer Wein- und Spirituosenhandlung, erfunden wurde. Das hochprozentige Getränk mit historischem Etikett des Wilhelmsburger Künstlers Heino Zinserling gibt es nur hier auf der Elbinsel, sonst nirgends. Rezept: geheim. Peter Falke kümmert sich um den Vertrieb dieser Kuriosität, bringt den Deichbruch in 6er-Kisten zum Buchhändler Lüdemann, zum Wilhelmsburger Getränkeladen, in den Supermarkt. Der Verkaufserlös kommt dem Förderverein Museum Elbinsel Wilhelmsburg zugute.   28. O-Ton:             Im Supermarkt, am Flaschenregal, Falke räumt die Flaschen hin und her: "Der war eigentlich vierreihig (Flaschen klirren), der gehört überhaupt nicht her.... So, wenn ich denn hier mal einkaufe, dann gucke ich natürlich auch immer nach dem Rechten, mach sozusagen Regalpflege. (Flaschen klirren) Das ist alles ehrenamtlich."   Atmo 9:                 Im Supermarkt, Kassenbereich   Text:                      Im Supermarktregal rückt Peter Falke den Deichbruch in Reih und Glied, so wie sich das gehört und damit jeder ihn auch gleich sieht. Hier sind noch genügend Flaschen vorrätig.   Atmo 10:                Außenatmo Wilhelmsburg   Text:                      Bei seiner heutigen Lieferrunde legt Peter Falke einen Zwischenstopp ein. Einen Anleger für Ausflugsdampfer will er mir zeigen, am Aßmannkanal. Dieser Anleger gehört für ihn zu den wichtigsten Plätzen der Elbinsel. Denn die Ursula-Falke-Terrassen tragen den Namen seiner 2008 verstorbenen Frau.   29. O-Ton:             Falke: "Die sind nach meiner Frau benannt, die sehr viel für den Stadtteil getan hat, sehr gut vernetzt war und schon immer gerne Wilhelmsburg gezeigt hat auf unterschiedlichste Art, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder wenn Gesellschaften mit dem Bus gekommen sind..."     Text:                      Seine Frau wollte Wilhelmsburg vom Schmuddelimage befreien und hatte einen großen Traum: dass die hübschen weiß-roten Alsterbarkassen einmal vom Hamburger Jungfernstieg bis nach Wilhelmsburg schippern. Anfangs hielt kein Barkassenunternehmer so eine Tour für rentabel, sagt Peter Falke. Da charterte seine Ulla kurzerhand auf eigene Faust ein Schiff.   30. O-Ton:             Falke:  "Ja, am 11. September 2001 fuhr das erste Mal ein Alsterschiff nach Wilhelmsburg. Und dann kam meine Frau nach Hause und hat gesagt: Peter, wie ich den Alsterdampfer auf unserem Kanal gesehen habe, da kamen mir fast die Tränen..."  P.M.: "Wie konnte Ihre Frau und wie konnten Sie denn überhaupt sicher sein, dass irgendwer Lust hat, nach Wilhelmsburg zu fahren? Hat ja niemand so richtig zur Kenntnis genommen, diesen Stadtteil hier, ne." - Falke: "Ich war in der Tat sehr skeptisch und hab gesagt, Ulla, ich kann mir das nicht so gut vorstellen, dass das großartig funktioniert, und sie war da ganz anderer Meinung und wie so oft: Sie hatte Recht..."     Atmo 10                 Außenatmo Wilhelmsburg     Text:                      Bis heute organisiert Peter Falke während der Sommermonate Barkassenfahrten vom Jungfernstieg bis zu den Ursula-Falke-Terrassen. 2017 wird er in die 16. Saison starten.   Musik 3:                Titel: "Dat du min Leefsten büst" Interpret: Hannes Wader Komponist: trad. Label: Mercury,LC-Nr. 00268     Atmo 11:                Außenatmo, Windrauschen, entfernt Kinderstimmen, manchmal Möwen     Text:                      Der Deich sieht aus, als wäre dieses grasbewachsene Bollwerk gegen das Wasser eine Versicherung auf Lebenszeit. Wir stehen hier auf acht Metern Höhe, und Margret Markert, die im Stadtteil alle liebevoll Meggie nennen, sagt, dass dieser Deich jetzt etwa drei Meter höher ist als zum Zeitpunkt der Flut von 1962. In unserem Rücken der Wilhelmsburger Norden, im Osten der Riesenschlot des Kraftwerks Tiefstaak, gegenüber in der Ferne die Skyline der Hansestadt, mit Elbphilharmonie, Michel, den neuen Wolkenkratzern von Sankt Pauli.   32. O-Ton:             Markert: "Und hier, dieser Deich ist neu gebaut worden nach der Sturmflut '62 und 1962 gab es hier einen der größten und folgenreichsten Deichbrüche, und zwar auf 100 Metern Länge ist der Deich hier eingebrochen..." - P.M.: "An dieser Stelle..." - Markert: "Beginn da, wo die Ampel ist, da war früher eine Tankstelle..."     Atmo 12:                Möwengeschrei   Text:                      Margret Markert trägt das graue Haar ganz kurz geschnitten und einen schicken grauen Wollschal zum schwarzen Wintermantel. Die 63-jährige studierte Kunstpädagogin leitet die Geschichtswerkstatt der Wilhelmsburger Honigfabik, ein Kultur- und Veranstaltungszentrum in einem historischen Industriekomplex. "Grabe da, wo Du stehst" ist ihr Motto, und wer möchte, kann sich von ihr bei historischen Stadtführungen die Spuren der Vergangenheit zeigen lassen.   33. O-Ton:             Markert: "...und dann ist das ganze Gebiet hier von Norden aus geflutet worden und es gab an der Süderelbe in Stillhorn gab es auch Deichbrüche, das heißt: Wilhelmsburg ist wie eine Badewanne vollgelaufen, im Grunde von zwei Seiten mindestens, von drei Seiten. Gab noch mehr Deichbrüche."     Text:                      Von den insgesamt 315 Hamburger Todesopfern haben die meisten hier in Wilhelmsburg ihr Leben gelassen.     34. O-Ton:             Markert:  "Es gibt ein Foto, da kann man sehen, dass auf dem Deich noch Kleingartenlauben gestanden haben, auch südlich vom Deich gab's große Kleingartengebiete, in denen Menschen teilweise auch noch fest gewohnt haben im Winterhalbjahr..." - P.M.: "Die wurden einfach weggespült." - Markert: "Die haben keine Chance gehabt, das sind auch die Gebiete, an denen es am meisten Tote gegeben hat. Georgswerder und hier das nördliche Wilhelmsburg."                               P.M.: "Sie haben ja selber in Hamburg gewohnt als Kind, als die Sturmflut war. Aber da können Sie sich nicht mehr erinnern." - Markert: "Nee, ich hab eigentlich keine Bilder. Außer... ach ja, genau! Es gab dann in den Monaten danach gab es Korinthen für alle Schulkinder, das war eine Spende der griechischen Regierung."                               P.M.: "Gibt es in Wilhelmsburg eine ängstliche Stimmung bei Hochwasser?" - Markert: "Also die, die das miterlebt haben 1962, die sind hellwach, bei jedem Wintersturm und Herbststurm und Frühjahrssturm."     Atmo 11                 Außenatmo     Text:                      Wilhelmsburg war von der Flut so stark betroffen, dass die größte Binneninsel Deutschlands zunächst gar nicht mehr besiedelt werden sollte. Lediglich als Gewerbe- und Hafenstandort wollte man Hamburgs Süden noch benutzen. Niemand investierte mehr, viele Familien kehrten nach den Verwüstungen durch das Wasser nicht zurück. Dafür kamen andere, die dringend billigen Wohnraum suchten. Hafenarbeiter, Einwanderer, Sozialhilfeempfänger. Die gängigen Hamburg-Stadtpläne für Touristen: Sie endeten alle an der Norderelbe.   35. O-Ton:             Markert: "Das haben natürlich die Wilhelmsburger als eine unglaubliche Ignoranz auch gesehen. Da wohnen über 50.000 Menschen, die wohnen da zum großen Teil sehr gerne und zum Teil seit Jahrhunderten, und dann kommt der Hamburger Senat und sagt: Das ist aber kein Wohngebiet. Diese Ansage hat auch viel dazu beigetragen, dass sich viele Wilhelmsburger jahrzehntelang vergessen gefühlt haben."   Atmo 13:                Atmo draußen, Schritte, Wind- und Industrierauschen, Kinderstimmen, Autos     Text:                      Ende der 70er Jahre, erzählt Margret Markert, während wir den Deich heruntersteigen und Richtung Reiherstiegviertel gehen, Ende der 70er haben verschiedene Bürgerinitiativen dafür gesorgt, dass der Hamburger Senat endlich wieder beginnt, sich mit Wilhelmsburg zu beschäftigen. Mit der Zukunftskonferenz 2002, bei der rund 100 Bürgerinnen und Bürger mit Vertretern der Verwaltung Vorschläge für die Zukunft dieses Elberaums entwickelten, kam endgültig die Kehrtwende: 2004 entschloss sich die Stadt zum plakativen "Sprung über die Elbe" und rückte Wilhelmsburg von 2007 bis 2013 mit der IBA, der Internationalen Bauausstellung, in den Fokus der Stadtentwicklung. Altbauten wurden saniert, neue Schulen gebaut, soziale Projekte angestoßen.     Atmo 14:                Rundgang, Außenatmo, Bus kommt an, einsteigen, Geld klimpert, Stimmen, Fahrgeräusche.     Text:                      Neben uns hält die Buslinie 13. Wir steigen ein.   Atmo 14:                Im Bus     Text:                      Die Buslinie 13 ist eine Wilhelmsburger Berühmtheit. Sie pendelt von morgens früh bis spät in der Nacht zwischen S-Bahnhof Veddel und dem Hochhausviertel Kirchdorf-Süd, ist ein Wilhelmsburger Mikrokosmos. Die "Wilde 13", wie der Bus hier liebevoll genannt wird, war schon Thema eines Dokumentarfilms, den das Wilhelmsburger Autorenduo Marco Antonio Reyes Loredo und Kerstin Schaefer 2013 produziert hat.   Atmo 15:                Im Bus, Gespräch zweier Fahrgäste, Stimmen     Text:                      Die Fahrt mit der "Wilden 13" ist eine Reise durch die Geschichte. Am Reiherstieg hatten sich schon Ende des 17. Jahrhunderts zahlreiche Werften und Industriebetriebe angesiedelt, deren Überbleibsel bis heute zu sehen sind. Damals war Wilhelmsburg noch eine preußische Landgemeinde, für die sich ab 1888, mit Gründung des Deutschen Zollvereins und dem Ausbau des Hamburger Hafens, die große Nachbarstadt zunehmend interessierte. Mit der Industrialisierung wird Wilhelmsburg Wohnstandort für Arbeiter, auch aus Polen und den damaligen deutschen Ostgebieten. Das Thema Einwanderung hat eine lange Tradition in Wilhelmsburg.   Atmo 15:                Im Bus     Text:                      Die "Wilde 13" fährt am "Weltquartier" aus den 30er Jahren entlang. Die ehemalige Werkssiedlung von Howaldt und MAN wurde im Zuge der Internationalen Bauausstellung nach neuesten ökologischen Kriterien restauriert und teils neu aufgebaut. Nicht weit von hier steht der Wilhelmsburger Industriebunker, ein 1942 von Zwangsarbeitern errichtetes gewaltiges Gebäude, das während der IBA komplett saniert und zu einem Sonnenkraftwerk mit Aussichtsterrasse umgerüstet wurde.   36. O-Ton:             Markert: "So, hier müssen wir raus." - Atmowechsel nach draußen.  "Dieser bunte Komplex ist die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt und auf der anderen Seite der Eingang zum Inselpark, hier gibt es diverse Gebäude, die die IBA modelhaft getestet hat...."     Atmo 10-1:             Außenatmo in Wilhelmsburg     Text:                      Das neue Wilhelmsburger Vorzeigeviertel, von den Stadtplanern "neue Mitte" getauft, wirkt auf den ersten Blick wie das, was es ist: ein architektonisches Kunstprodukt, das sich nicht so recht mit dem restlichen Wilhelmsburg verbinden will. Auf den zweiten Blick finden Architekturinteressierte aber Außergewöhnliches: Da steht das "Wälderhaus", ein Multifunktionsgebäude mit einer geschwungenen, terrassierten Fassade aus Lärchenholz. Das "Algenhaus", kubisch und viergeschossig und mit gläsernen Elementen an der Fassade, in denen Mikroalgen unter Sonneneinstrahlung Biomasse und Wärme produzieren. Die "WaterHouses", eine mehrstöckige Wohnanlage, die auf Pfählen in einem Wasserbecken steht.   Atmo 16:                Im Café, verschiedene Stimmen, Geräusche     Text:                      Später im "Café Pause" in der Honigfabrik sagt Margret Markert, dass in Wilhelmsburg zwar immer noch viel darüber gestritten werde, ob eine große internationale Bauausstellung das richtige Instrument zur Stadtteilentwicklung gewesen sei. Aber die Zeiten, in denen die Elbinsel Hamburgs vergessener Stadtteil war, sind definitiv vorbei. Es herrscht Aufbruchstimmung.   37. O-Ton:             Markert:  "Allein durch die ganzen Diskussionen, was wird aus Wilhelmsburg, wie geht es weiter, hat sich schon mal die Vorstellung von Wilhelmsburg sehr verändert, positiv. Es heißt nicht mehr Wilhelmsburg mit so einem Mitleidston in der Stimme, sondern: Ach ja, Wilhelmsburg, das ist interessant."     Musik 4:                Titel: "Synergy" Interpret: Tash Sultana Komponist: Tash Sultana Label: iTunes       Atmo 17:                Zinnwerke, Schritte, Schlüsselklappern     38. O-Ton:             Loredo:  "Ich führ dich mal ein bisschen rum und zeig dir mal, wer hier so ist..."     Text:                      Marco Antonio Reyes Loredo geht mit großen Schritten voran durch ein Gewirr von Gängen, Treppen, Hallen, großen und kleinen Räumen. Die Wilhelmsburger Zinnwerke sind die Kreativschmiede des Stadtteils. Hier arbeiten Künstler, Grafiker und Autoren aller Sparten, hier findet an jedem ersten Sonntag im Monat im Außenbereich und in den angrenzenden Industriehallen ein riesiger Flohmarkt statt. In dem historischen Gebäudekomplex aus dem beginnenden 20. Jahrhundert hat auch Loredos Produktionsfirma "Hirn und Wanst" ihren Sitz. Der quirlige Mann mit den raspelkurzen, schwarzen Haaren stellt Dokumentarfilme, Musikvideos und Imagefilme her.   39. O-Ton:             Loredo: "Wie weit sind wir denn gekommen heute?" ? Aaron: "Also ich habe nochmal ins Rohmaterial reingekuckt und da habe ich nochmal Schätze gehoben." - "Echt?" - "Ich fand auch die Skypekonferenz mit Jacques ganz geil..."     Atmo 18:                Zinnwerke, Video läuft, Musik mit Gesang     Text:                      Aaron Krause klickt sich durch das Filmmaterial, das Loredo und er zusammen mit Hamburger Jugendlichen aufgenommen haben. Ein Musikvideo für den Hamburger Künstler Jacques Palminger ist daraus entstanden, nun soll noch eine kleine Dokumentation produziert werden. Die Arbeit ist Teil des Projekts "Kultur macht stark" des Bundesbildungsministeriums, was Kindern und Jugendlichen mit attraktiven Angeboten den Zugang zu kultureller Bildung ermöglichen will.   40. O-Ton:             Aaron: "(lacht) Es ist so lustig, wie cool die mit der Zeit werden. Es wird (lacht). Man wird positiv überrascht und das ist sehr bereichernd und sehr lustig."     Text:                      Marco Antonio Reyes Loredo kommt ursprünglich aus Weimar und hat in Hamburg Kulturanthropologie studiert. Über die Stadtgrenzen hinaus wurde der kreative Tausendsassa mit seinen "Konspirativen Küchenkonzerten" bekannt. Diese schräge Mischung aus Kochshow und Konzert in seiner Privatwohnung, einer ehemaligen Lagerhalle, wurde 2010 und 2012 für den Grimme-Preis nominiert. In der Kulturszene ist der 37-Jährige Wahlwilhelmsburger mit dem bolivianischen Vater einflussreich und bekannt wie ein bunter Hund. Seinem Engagement ist es zu verdanken, dass die Zinnwerke überhaupt noch existieren.   41. O-Ton:             Loredo: "Im Jahr 2013, dem IBA-Präsentationsjahr, wo die Architekturwelt auf diese Insel schauen sollte, da haben sie gedacht, es ist was ganz Schlaues, ein funktionierendes und sich selbst organisierendes Ensemble abzureißen und ein Hochregallager darauf zu errichten."   Text:                      In dieser geplanten Lagerhalle sollte der Fundus der Hamburger Staatsoper untergebracht werden, sollte Subkultur der Hochkultur weichen. Loredo tat sich mit den Nachbarn zusammen, mobilisierte die Kulturszene, Medien und Politik  ? mit Erfolg: Die Stadt machte einen Rückzieher.   Atmo 19:                Im Café. Geräusche, Stimmen, leise Musik     Text:                      Vor zwei Jahren erweiterte sich die Schaffenspalette des Energiebündels Marco Antonio Reyes Loredo auch noch um ein Café, die "Kaffeeklappe" in der Fährstraße.   42. O-Ton:             Loredo:  "Es geht immer darum, 'ne Idee zu haben und die auch umzusetzen."     Text:                      Er trinkt einen Schluck Kaffee und bedeutet dem schlaksigen Kellner, dass wir beide, Loredo und ich, jeweils gern das Tagesgericht hätten. Bratkartoffeln, Blattspinat, Spiegelei.   43. O-Ton:             Loredo:  "Mit diesem Café, wo wir dachten, als wir das Anfang 2015 eröffneten, jetzt halten uns alle für komplett plemplem... Das Erstaunliche war: Am Tag 1 war nicht nur der Laden voll und die Menschen glücklich, sondern es kam auch im Vorfeld niemand auf die Idee, uns für verrückt zu erklären, sondern ob das die Filmförderung hier in Hamburg war, die gesagt haben, na endlich, wo ich dachte: Na endlich, und dann macht ihr bestimmt auch bald Filmcatering! Da hatten wir gar nicht dran gedacht, aber jetzt, ja klar, natürlich..."   Text:                      Neue Pläne fliegen Loredo nur so zu, Ideen produziert er scheinbar im Handumdrehen. Auch sein Café ist nicht gerade "von der Stange": der Tresen beplankt wie ein Schiff und an der Wand neben der Tür ein riesiges Stück Zaun. Den hat Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz höchstpersönlich herausgesägt, als 2013 der sogenannte Freihafen aufgelöst worden war und Wilhelmsburg nach mehr als 100 Jahren wieder Zugang zum Wasser bekam.   Atmo 19:                Im Café   Text:                      Eine Zeitschrift hat Wilhelmsburg einmal als "Hamburgs wildes Stadtlabor" bezeichnet und Loredo ist einer seiner kreativsten Laborateure. Ein Blick auf die Elbinsel empfehle sich, meint er, denn hier lasse sich ein globaler Entwicklungstrend wie unter einem Brennglas beobachten. Wilhelmsburg als Hotspot urbaner Innovationen.   46. O-Ton:             Loredo:  "Wenn man sich tatsächlich dafür interessiert, wie es nicht nur ein Gegeneinander oder ein Nebeneinander von Kulturen geben kann, sondern wie sich seit 100 Jahren hier tatsächlich was verfestigt hat, was, wenn man das weiter denken würde und weiter entwickeln würde, wirklich dem Begriff der Arrival City nahe käme, dann müsst ihr nach Wilhelmsburg kommen."       Musik 5:                Titel: Magic Mamaliga Interpret: O.M.F.O. Komponist: German Popov Label: Atlantic, LC-Nr. 00121     Atmo 20:                An Unfallstelle, Martinshorn, Funkgerät, Autotüren zuschlagen, Straße, viele Stimmen, Befragung der Unfallbeteiligten     Text:                      Vor einem Fastfood-Restaurant in der Dratelnstraße hat's gekracht. Ein alter, roter Kleinwagen ist auf eine schicke schwarze Limousine aufgefahren, beim Abbiegen auf den Parkplatz. Es haben sich auch schon ein paar Schaulustige versammelt. Ein dicker Teenager beißt gedankenverloren in seinen Hamburger, während sein Kumpel in gebrochenem Deutsch über die PS-Stärke der Limousine spekuliert.   47. O-Ton:             Pehlivanoglu an der Unfallstelle, kurzer Wortwechsel zwischen Pehlivanoglu und Kollegin, dann Straßenatmo   Text:                      Irfan Pehlivanoglu fragt die Unfallbeteiligten höflich, wie das denn passiert sei, macht sich Notizen und ein paar Fotos. Der türkische Polizist ist groß, hat eine sportliche Figur, kurzes, dunkles Haar, ein geometrisch geformtes Kinnbärtchen und schwarzbraune Augen. Heute fährt er mit Susanne Wagner Streife. Die Frau mit der modischen Brille beruhigt den aufgeregten Fahrer des Kleinwagens und erklärt ihm geduldig, dass er den Blechschaden als nächstes seiner Versicherung zu melden habe.   48. O-Ton:             Pehlivanoglu: "Vielen Dank, schönes Wochenende, Ciao."     49. O-Ton:             Schlüssel klappern, Autos. Einsteigen, Türen zuschlagen.     Atmo 21:                Im Auto, leise Stimmen, Motorgeräusch, Funkgerät     Text:                      Der Polizist steuert den Peterwagen die Dratelnstraße entlang zurück Richtung Revier. Dort, das haben die Beamten eben per Funk erfahren, braucht man den 36-jährigen als Übersetzer. Eine Türkin möchte eine Anzeige erstatten, spricht aber kein deutsch.   50. O-Ton:             Pehlivanoglu:  "Da ich mit türkischem Background bin hat mich das einfach gereizt, hier meinen Dienst zu verrichten und das mal hier kennenzulernen, wie das ist." - P.M.: "Ist das von Vorteil, Ihre türkische Herkunft?" - "Na ja, das kulturelle Verständnis ist selbstverständlich da. Aber der einzige Maßstab, nach dem sich vieles richtet hier, sind unsere Gesetze und Normen, die es hier in Deutschland gibt."     Text:                      Als Polizist mit türkischen Wurzeln genießt Irfan Pehlivanoglu zwar den Respekt der Menschen im Viertel, allerdings führt seine Herkunft auch manchmal zu Missverständnissen.   51. O-Ton:             Pehlivanoglu:  "Ich sag mal so häusliche Gewalt oder sowas. Wo es Streit in der Familie gibt. Da erwartet dann immer so der Mann ganz oft: Du musst das doch verstehen. - Man erwartet eigentlich die Hilfe, die man aus seinem Heimatland gewöhnt ist." - P.M.: "Ich hätte gedacht, Sie können die Wogen schneller glätten, die Leute fühlen sich schneller verstanden, aber dass es regelrecht zum Problem werden kann, weil man die Leute enttäuscht, da hätte ich nicht mit gerechnet." - Pehlivanoglu: "Darüber redet halt keiner. Jeder redet darüber, dass man dann die Leute versteht, auch sprachlich, und dass dann immer schnell geholfen werden kann, das ist halt nicht immer so." 52. O-Ton:             Weg zur Wache       Text:                      Die Frau, die im Revier auf den türkischen Polizisten wartet, trägt eine dicke Wollmütze und schaut betreten vor sich auf den Boden.   52. O-Ton:             Pehlivanoglu: "Die Dame hier vorne rechts?? ? ?Ja, genau.?..."   Text:                      Irfan Pehlivanoglu begleitet sie in einen separaten Vernehmungsraum und schließt die Tür. Das Mikrofon, bittet die Türkin, soll draußen bleiben.   Atmo 22:                In der Polizeiwache, am Empfang     Text:                      Seit einem Jahr arbeitet Irfan Pehlivanoglu jetzt in Wilhelmsburg. Von seiner türkischen Familie ist er der einzige, der noch in Deutschland lebt. Der Großvater ist 1982 zurück in die Türkei gegangen, vor drei Jahren ging auch der Vater. Der wollte nach 40 Jahren Gastarbeit den Lebensabend in der Heimat genießen, in der Westtürkei nahe Izmir.   Atmo 22                 Stimmen, Arbeitsgeräusche   Text:                      Als sich die Tür des Vernehmungsraums wieder öffnet, erzählt der türkische Polizist, dass die Frau Anzeige gegen ihren Ehemann erstattet habe. Der soll sie geschlagen haben, vor den Augen der Kinder. Er wird jetzt sofort der ehelichen Wohnung verwiesen.   Atmo 23:                Treppenhaus der türkischen Frau, vor der Wohnung, türkische Stimmen         Text:                      Das beschämende Schauspiel in der Wohnung der türkischen Familie gehört zum Alltag von Irfan Pehlivanoglu. Der beschuldigte Ehemann packt ohne zu murren ein paar persönliche Sachen in eine Plastiktüte, während seine Frau vom Nebenraum aus durch einen Türspalt verfolgt, wie er das Feld räumt.   Atmo 23:                Im Treppenhaus, Stimmen   53. O-Ton:             P.M.: "Also diese Art von Familienstreitigkeiten sind an der Tagesordnung für Sie." - "Bei der Polizei leider ja." - P.M.: "Das ist jetzt auch nicht wilhelmsburgtypisch." - "Nee. Das hab ich in Harburg ziemlich oft gehabt, das hab ich in Wilhelmsburg und das ist auch in anderen Stadtteilen ziemlich oft. Das gibt's überall in der Stadt."     54. O-Ton:             Im Auto, Geräusch Warnblinkanlage, Funk-Dialog "44, Wilhelm drei..." - "Höre." - "Die nächste 4 Viktor, bitte." Geräusch Warnblinker     Atmo 21:                Im Auto, leise Stimmen, Motorgeräusch, Funkgerät     Text:                      Natürlich, gesteht Irfan Pehlivanoglu später im Streifenwagen, lasse ihn so ein Konflikt nicht kalt, bei aller Professionalität. Der gebürtige Berliner habe schließlich auch zwei kleine Kinder. Wegen der beiden haben seine Frau, eine Polin, und er sich für einen Wohnsitz auf dem Land entschieden. Heile Welt mit Häuschen im Grünen und Garten. Für seinen Nachwuchs wünscht er sich einen idealen Start und optimale Förderung. Anders als bei ihm selber damals.       55. O-Ton:             Pehlivanoglu:  "Für mich war das schwierig. Ich kann mich noch erinnern. In meiner ersten Schulstunde wurde ich neben ein türkisches Mädchen gesetzt, weil ich nur Bahnhof verstanden hab von dem, was die Lehrerin da vorne gesagt hat."     Text:                      Zu Hause bei Pehlivanoglus wurde ausschließlich türkisch gesprochen. Der Vater wollte, dass der Sohn möglichst viel von der türkischen Kultur mit auf den Weg bekommt.   56. O-Ton:             Pehlivanoglu:  "War auch in meinem ganzen Verhalten bis zur vierten Klasse ähnlich wie andere Kinder von Migranten, die nach Deutschland gekommen sind und die so gut wie gar kein Deutsch gesprochen haben. Verhaltensauffällig, nicht ruhig im Unterricht. Und irgendwann hat sich eine Lehrerin die Mühe gemacht, die hat gesagt: Pass mal auf, Du Kasperclown! Du reißt Dich jetzt mal hier in der Klasse zusammen, Du setzt Dich mal neben den und den hin. Und plötzlich wurde ich vom Hauptschüler zu einem möglichen Abiturienten."     Text:                      Irfan Pehlivanoglu und seine Kollegin biegen ab nach Kirchdorf-Süd, fahren einen Schlenker durch die Schluchten der 70er-Jahre-Hochhäuser, drehen wieder um, passieren die alte Windmühle "Johanna" von 1875, durchqueren die Wilhelmsburger "neue Mitte" und erreichen den Spreehafen.   57. O-Ton:             Pehlivanoglu:  "Am Wasser Streife fahren, den Blick über die Stadt schweifen lassen, die Wahrzeichen der Stadt sehen und überall sind Sie von Wasser umgeben, das finde ich echt in Ordnung."   Text:                      "Sicherheit produzieren" nennen die Beamten das Streifefahren im Viertel. Irfan Pehlivanoglu blickt zufrieden auf das Wasser des Spreehafenbeckens. Er wirkt fast ein bisschen stolz darauf, Polizist in Wilhelmsburg zu sein.   58. O-Ton:             Pehlivanoglu: "Das Besondere ist: Hier sieht man ein positives Beispiel, dass Multikulti funktioniert. Denn wenn man mal so einen Querschnitt durch die Bevölkerungsschichten und die Menschen aus den unterschiedlichen Ländern sieht, die hier wohnen in Wilhelmsburg: Hier wird keiner aufgehängt, keiner geschächtet, man arbeitet sogar unter Umständen in derselben Firma zusammen, und das ist eigentlich aus meiner Sicht ein positives Beispiel. Jeder Stadtteil befindet sich im Wandel und ich finde, Wilhelmsburg befindet sich auch im Wandel, zum Positiven hin."                                                               Atmo mit Kennmusik verbinden       KENNMELODIE   SPRECHER: Die wilde Insel im Fluss: Wilhelmsburg. Südlich der Elbe ist Hamburg ganz anders. Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Petra Marchewka.   Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Renate Schönfelder   Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2017. Manuskript und Audio zur Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de