"Welt ohne Licht" Der literarische Kosmos des Juan Carlos Onetti Von Peter B.Schumann Sprecher 2: Das ist das Geheimnis des geglückten künstlerischen Werkes: Wir genießen leidend, werden verführt und bezaubert, während es uns in das Böse, das Grauen eintaucht. Diese paradoxe Metamorphose ist den wahren Schöpfern vorbehalten, deren Werke sich über Zeit und Raum ihres Entstehens hinwegsetzen. Onetti war einer von ihnen. (Mario Vargas Llosa: Die Welt des Juan Carlos Onetti. Übersetzt von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009.) Autor: So viel Bewunderung verbreitet kein Geringerer als Mario Vargas Llosa in seinem erst vor kurzem publizierten Essay Die Welt des Juan Carlos Onetti. Sprecher 2: Er war der erste moderne spanisch-sprachige Romancier, der erste, der mit den mittlerweile ausgeschöpften Techniken des naturalistischen Realismus brach, mit dessen Sentimentalität, Manierismus und Schauerromantik, der erste, der eine ganz eigene Sprache entwickelte, für die er den Leuten auf der Straße auf den Mund schaute, eine aktuelle und funktionale Sprache, die nicht die für die volkstümelnde Literatur so typische Kluft zwischen unmittelbarem Leben und einem schwülstigen, gestelzten Stil aufwies, sondern die für ihre Geschichten auf Avantgardetechniken wie den inneren Monolog, Ellipsen und Zeitsprünge zurückgriff. (Mario Vargas Llosa: Die Welt des Juan Carlos Onetti. Übersetzt von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009.) Autor: Juan Carlos Onetti öffnete einer neuen Generation den Weg in die Moderne, Schriftstellern wie Mario Vargas Llosa oder Carlos Fuentes, José Donoso oder Guillermo Cabrera Infante. Doch erst spät, als deren Literatur in den 60er Jahre ihren weltweiten 'Boom' erlebte, fand auch Onetti die angemessene Anerkennung. Da stand der Uruguayer bereits in der Mitte seines Lebens und hatte seine wichtigsten Werke und einen eigenständigen literarischen Kosmos hervorgebracht. Aber auch danach wurde er nie wirklich populär wie beispielsweise sein uruguayischer Zeitgenosse Mario Benedetti. Sein Kosmos, diese Welt ohne Licht, und seine die Öffentlichkeit scheuende Persönlichkeit verhinderten den Erfolg. Sprecher 2: Im weit geschnittenen Mantel, gebeugt vom Gewicht der Stadt, geht er im Nieselregen dahin, düster, ein Schlafwandelnder in der schlaflosen Nacht. Mühsam trägt er die Last der Jahre, genau wie die Stadt Montevideo, wo er 1909 geboren wurde. Er ist groß, hager, im grauen Haar weiße Strähnen, wache Augen, der Mund schmerzhaft verzogen, hohe Lehrerstirn: so schreitet er resigniert und widerwillig aus, ein alt gewordener Büromensch. Er gleicht der Beschreibung einer seiner literarischen Gestalten: "Ein einsamer Mann, der irgendwo in der Stadt sitzt und raucht und nachts mit zur Wand gekehrtem Blick sinnlosen Phantastereien nachhängt." Autor: Der argentinische Literaturkritiker Luis Harss entwarf Mitte der 60er Jahre dieses Bild von ihm. Es bestimmt bis heute die allgemeine Anschauung von dem großen Uruguayer. Sprecher 2: Er sieht aus, als habe er keine Freunde, ein Müßiggänger, ein Träumer. Vermutlich ist er immer so gewesen, einer, der seit seiner frühesten Jugend bereits "mit niemandem etwas zu tun hatte". Er lebt zurückgezogen, einsam, ohne Bindungen, mit Ausnahme seiner wechselnden Ehefrauen und seines treuen Begleiters, des Alkohols. Diese Isolierung, erklärte er einmal, habe ihn zum Schriftsteller gemacht, ohne sein Zutun, aus unerklärlichen Gründen, aus einer Gewohnheit heraus, die - wie er sagt - "mein Laster wurde, meine Passion, mein Unglück". (zitiert nach Borris Mayer Onetti. Juan Carlos Onetti. Webseite: www.onetti.net/de) Autor: Juan Carlos Onetti nahm das 'Kreuz' seines literarischen Schicksals auf sich und machte das Schreiben zum Leben. Andere Autoren wie Vargas Llosa oder Benedetti haben oft über ihre Arbeiten reflektiert und eine eigene Theorie neben dem Werk entwickelt. Onetti dagegen verlagerte die Reflexion in sein Werk und beschäftigte sich - wie nur ganz wenige vor ihm - mit der Frage nach dem Literarischen in der Literatur. Oder anders gesagt: er erkundete die Verwandlung der Wirklichkeit in Literatur. Sprecher 1: Das Wort vermag alles. Autor: So schreibt er. Und er glaubt - Sprecher 1: - dass die Literatur eine Kunst ist. Eine heilige Sache, folglich: niemals ein Mittel, sondern ein Zweck. (Juan Carlos Onetti: Der Schacht. Übersetzt von Jürgen Dormagen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1989.) Autor: Literatur ist für Onetti also nicht Mittel zur Darstellung einer ihr fremden Realität, der Lebenswirklichkeit beispielsweise, sondern sie ist Selbstzweck. Ihr Ziel liegt in ihr selbst, in der Herausbildung einer eigenen, künstlichen, fiktionalen, literarischen Wirklichkeit. Damit steht der Autor in der Tradition einer Moderne, für die - seit Miguel de Cervantes und seinem Don Quijote - Literatur etwas Absolutes bedeutet. Sie kennt keine Verbindlichkeit gegenüber der Gesellschaft, sondern nur gegenüber der eigenen Wahrheit. Sie hat Juan Carlos Onetti in seinem gesamten Werk erforscht. Take M 1 Musik-Intervall Sprecher 1: Ich spielte weiterhin, ein wenig verrückt, mit der Ampulle und verspürte die wachsende Notwendigkeit, mir einen undeutlichen, 40-jährigen Arzt vorzustellen und mich ihm zu nähern, dem einsilbigen und hoffnungslosen Bewohner einer zwischen dem Fluss und der Kolonie von schweizer Siedlern liegenden Kleinstadt. Santa María, weil ich dort glücklich gewesen war, vor Jahren, 24 Stunden lang und ohne jeden Grund. (Juan Carlos Onetti: Der Schacht. Übersetzt von Jürgen Dormagen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1989.) Autor: Santa María ist der zentrale Schauplatz von Onettis Werk. Er ähnelt dem Comala des Mexikaners Juan Rulfo, den dieser zur gleichen Zeit in den 40er Jahren erfunden hat, und dem berühmteren Macondo von Gabriel García Márquez, der Nachfolge-Generation der 60er Jahre. Wie diese Orte ist auch Santa María ein imaginäres Provinzkaff. Es liegt nur nicht in der Karibik, sondern am Rio de La Plata, irgendwo zwischen Argentinien und Uruguay. Take 1 Onetti Sprecher 1: Ich bin oft zwischen Buenos Aires und Montevideo hin- und hergependelt, so oft es eben das Geld erlaubte. Denn meine Familie lebte in Montevideo, ich aber arbeitete im Buenos Aires von Perón, wo ich mich gar nicht wohl fühlte. Dann verbot Perón den Besuch Montevideos, und es gab kein Schiff mehr über den Rio de la Plata. Als ich einmal heimfahren wollte, musste ich einen Umweg über das benachbarte Paraguay machen. Dabei kam mir ein anderer Ort in den Sinn, der weder etwas mit Buenos Aires noch mit Montevideo zu tun hatte und doch eine Mischung aus beiden war. Autor: Aus diesem trivialen Grund soll das romanhafte Universum von Juan Carlos Onetti entstanden sein, der sich oft in der Attitüde eines Anti-Intellektuellen gefiel. Santa María wird nicht wie Macondo von magischen Blitzen erhellt. Hier herrschen heillose Verhältnisse, in denen niemand eine Chance besitzt. Onettis Welt ist düster, eine Welt voller Abschiede - so der Titel eines Romans: bodenlos, ausweglos, hoffnungslos, eine Ruinenlandschaft gescheiterter Existenzen, ein Niemandsland - so ein weiterer Buchtitel, ein Niemandsland der Gefühle, ein Grab für Namenlose. Die Menschen, die sie bevölkern, leben "kleine, tägliche Tode". Sprecher 1: Sie sind ein gemachter Mann, das heißt, ein erledigter wie alle Männer ihres Alters, die glauben, sie hätten vieles aus dem Schiffbruch gerettet... Sie sind an elende Dinge gekettet, und die Dinge sind's, von denen sie mitgeschleift werden. Nirgendwohin, und mehr wollen sie auch nicht. (Juan Carlos Onetti: Der Schacht. Übersetzt von Jürgen Dormagen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1989.) Autor: Diese existenzialistische Grundhaltung hat Juan Carlos Onetti 1939 in Der Schacht erstmals beschrieben, als auch in Frankreich Jean-Paul Sartre und Albert Camus Ähnliches in ihren Romanen formulierten. Onetti hat sie allerdings erst später kennengelernt. Er war der erste lateinamerikanische Autor, der dies erspürte: dieses Lebensgefühl von Einsamkeit und Gleichgültigkeit, Langeweile und Ekel, Frustration und Lebensüberdruss, das bald darauf in seine zentralen Figuren eingeflossen ist. Sprecher 1: Alles im Leben ist Scheiße, und wir sind Blinde in der Nacht, angespannt und ohne zu verstehen. Im Hintergrund, weit entfernt, ein Chor von Hunden, ein Hahn kräht ab und zu, im Norden, im Süden, an irgendeinem unbekannten Ort ... Die Nacht umgibt mich, erfüllt sich wie ein Ritus, stufenweise, und ich habe nichts mit ihr zu schaffen. Nur eben für Augenblicke kommt das Pochen meines Blutes an den Schläfen in einen Takt mit dem Puls der Nacht. Ich habe meine Zigarette zu Ende geraucht, ohne mich zu rühren. Die außergewöhnlichen Bekenntnisse des Eladio Linacero. Ich lächle in Frieden, öffne den Mund, lasse die Zähne aufeinander klappen und beiße sanft die Nacht. Alles ist vergeblich, und man muss wenigstens den Mut haben, keine Vorwände zu gebrauchen. Ich hätte die Nacht aufs Papier spießen mögen wie einen großen Nachtfalter. Stattdessen war sie es, die mich in ihren Wassern mit sich nahm wie den bleichen Körper eines Toten und mich mitschwemmt, unerbittlich, zwischen Kälteschauern und flüchtigem Schaum, nachtabwärts. (Juan Carlos Onetti: Der Schacht. Übersetzt von Jürgen Dormagen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1989.) Autor: In einem Raum ohne Echo und Trost befindet sich dieser Eladio Linacero, der den Leser immer tiefer in seinen seelischen Brunnenschacht mit hineinzieht. Doch anders als die Romanfiguren von Sartre und Camus verfügt er über ein Mittel, um seine Existenz am Rand des Lebens zu ertragen: seine fiktive Welt, die er - im Gegensatz zur wirklichen - selbst gestalten kann. Autor: Juan Carlos Onetti Journalist blieb sein literarisches Leben lang ein Seelenverwandter seiner einsamen, oft scheiternden Figuren. Auf dem Höhepunkt seines eigenen Ruhmes - bei der Verleihung des Cervantes- Preises, der höchsten Würdigung für spanisch-sprachige Literatur - erklärte er 1981 in seiner Dankesrede: Take 2 Onetti Sprecher 1: Die Jury hatte diesmal die quijoteske Idee, diese große Auszeichnung jemandem zu verleihen, der es seit seiner Jugend gewohnt war, ein systematischer Verlierer zu sein. Der es bislang nur auf die Ränge schaffte und nicht einen einzigen Sieg vorzuweisen hat. Sie geht mir nicht aus dem Kopf, die ironische und mitleidige Gerechtigkeit - oder Ungerechtigkeit - dieser für mich überraschenden Entscheidung zu meinen Gunsten. Wie Cervantes in Don Quijote haben die Mitglieder der Jury die alte Windmühle meiner Romane in einen stolzen gigantischen Riesen mit hundert Armen verwandelt. Autor: Die hohe Anerkennung hat den damals 72-jährigen scheuen Eigenbrödler nicht davon abhalten können, dem zu seinen Ehren veranstalteten königlichen Festbankett fern zu bleiben. Take M 2 Musik-Intervall Autor: Juan Carlos Onetti ist am 1. Juli 1909 in Montevideo geboren als 2. Sohn eines uruguayischen Zollbeamten und einer Brasilianerin. Sein Leben verlief so spannungslos, wie es sein Schriftsteller-Kollege Mario Benedetti für alle Montevideaner beschrieben hat. Onetti aber meinte dazu: Take 3/4 Onetti Sprecher 1: Glückliche Länder haben keine Geschichte, ihre Frauen sind sonderbar und haben auch keine Geschichte. Und so ist es mir in meiner Kindheit ergangen. Ich war so glücklich, dass ich es gar nicht gemerkt habe. Meine Eltern waren bis ins hohe Alter verliebt. Mein Vater war ein Gentleman und behandelte die Frauen mit großem Feingefühl. Meine Mutter stammte aus dem Süden Brasiliens, aus einer Sklavenhalter-Familie und vertrat die Ansicht: Jedem das Seine. Und sie besaß einen großen Sinn für Ironie. Ich erinnere mich an manche ihrer kleinen Giftpfeile. Aber sie war auch sehr intelligent. Autor: 1923 - kaum auf der Oberstufe - verließ Onetti die Schule ohne Abschluss. Er hatte den Übergang nur mit Mühe geschafft - was sich jedoch in seiner Erinnerung etwas anders darstellt. Sprecher 1: Ich fiel wiederholt im Fach Zeichnen durch. Und deswegen konnte ich, beispielsweise, nicht Rechtsanwalt werden. Autor: Angesichts dürftiger Referenzen erhielt er zunächst nur Gelegenheitsjobs. Mit 21 Jahren heiratete er seine Cousine María Amalia und zog mit ihr auf die andere Seite des Rio de la Plata, nach Buenos Aires. 1933 gelang es ihm, eine erste Erzählung zu veröffentlichen. Wenig später ließ er sich scheiden, kehrte nach Montevideo zurück und heiratete María Julia, die Schwester seiner Ex- Frau. Als 1939 Marcha gegründet wurde, eine Wochenzeitung von wachsendem Einfluss auf die Intellektuellen Lateinamerikas, erhielt er eine feste Anstellung als Redaktionssekretär. Take 6 Onetti Sprecher 1: Jetzt habe ich zu leben begonnen. Da blieb ich ein paar Jahre. Danach habe ich einen Posten bei Impetu bekommen, einem Magazin für Werbung. Und später habe ich verschiedene Funktionen ausgefüllt, denn Freunde von mir waren einflussreich geworden. Und so wurde ich auch Leiter der Stadtbibliothek. Autor: Das war bereits 1957. Dazwischen hatte er in den 40er Jahren des Weltkriegs eine Zeitlang als Redakteur für das argentinische Büro der englischen Nachrichtenagentur Reuters in Buenos Aires gearbeitet, hatte sich wieder einmal scheiden lassen und erneut geheiratet: die Geigerin Dorotea Muhr, mit der er dann bis zu seinem Lebensende zusammenblieb. Doch 1939, am Anfang seiner langen journalistischen Tätigkeit, konnte er durch einen Zufall sein erstes Buch publizieren: Der Schacht. Von den 500 auf Packpapier gedruckten Exemplaren existierten allerdings ein Vierteljahrhundert danach noch immer 100 Stück. Take 7 Onetti Sprecher 1: Man hat mich immer wieder gefragt, warum so viel Zeit zwischen den einzelnen Büchern verging. Ich habe die Zeit damit verbracht, einen Verleger zu suchen, denn die gab es damals in Buenos Aires kaum. Bis die Spanier kamen, während des Krieges: Losada, dann Sudamericana und viele andere. Autor: Das verstärkte jedoch die Bereitschaft, einen Onetti zu verlegen, nur in begrenztem Maße. Er blieb in Buenos Aires ein fast Unsichtbarer, pflegte wenige Kontakte, seine Werke wurden von der argentinischen Kritik nur zurückhaltend aufgenommen. In Montevideo bildete sich dagegen nach dem Erscheinen seines Meisterwerks Das kurze Leben im Jahr 1950 eine wachsende Kultgemeinde. Er machte es ihr nicht leicht. Als er 1962 mit dem uruguayischen Nationalpreis für Literatur gewürdigt wurde und die übliche Dankesrede halten sollte, entschuldigte er sich bei den Honoratioren mit den Worten: Sprecher 1: Ich rede nicht, ich schreibe. Take M 3 Musik-Intervall Sprecher 1: Ohne Müdigkeit kehrte ich ins Bett zurück, entschlossen, Díaz Grey auszulöschen, selbst wenn es notwendig wäre, die Provinzstadt unter Wasser zu setzen, mit der Faust die Scheibe jenes Fensters zu zertrümmern, an das er sich beim gefügigen und hoffnungsvollen Beginn seiner Geschichte gelehnt und gleichgültig die Entfernung betrachtet hatte, die den Platz vom Flussufer trennte. Díaz Grey war tot, und ich starb vor Altersschwäche auf den Laken und lauschte dem Murmeln des Wassers, das die Wolken sanft ausschwitzten. (Juan Carlos Onetti: Das kurze Leben. Gesammelte Werke, Band 2, herausgegeben und neu übersetzt von Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2007) Autor: Juan María Brausen ist der Protagonist des Romans Das kurze Leben. Wie die meisten Onetti-Figuren durchlebt er eine existentielle Krise. Er ist beruflich gescheitert und mit Gertrudis in einer "verkommenen Ehe" verbunden. Er flieht vor dieser Wirklichkeit, versucht, ein Drehbuch zu schreiben. Dabei entsteht in seiner Phantasie die Stadt Santa María. Er erschafft etwas mit der Kraft der Imagination, was ihm in der Realität seines Lebens versagt bleibt. Santa María nimmt - für Brausen wie für den Leser - immer realistischere Züge an. Er bevölkert sie mit Figuren, die ihrem Erfinder gleichen, wie Díaz Grey, dem Arzt, der in späteren Romanen und Erzählungen Onettis als das "Gewissen der Stadt" erscheint. Brausen wird das Drehbuch nie verfassen, aber sein Santa María wird sich verselbständigen, eine eigene Geschichte bilden: die Sant María-Saga im Werk Onettis, des eigentlichen Urhebers. Sprecher 1: Ich heiße Arce. Ich komme auf Empfehlung von Ricardo ... Er hat ihnen vielleicht von mir erzählt. Sie sind Queca, nicht wahr? Autor: Brausen, der kleine Werbeagent, der sich zum "Demiurgen" aufschwingt, zum Weltenschöpfer - wie ihn Onetti mehrfach nennt, dieser Brausen nimmt eine weitere Identität an, auf der langen Flucht vor seiner traurigen Realität. Er tritt als Juan María Arce in die Sphäre der Prostituierten Queca ein. Der Kleinbürger wird zum Zuhälter und lebt seine sexuellen Phantasien mit ihr aus. Er begibt sich ins kriminelle Milieu, will schließlich in seinem wilden Wahn die Hure sogar ermorden, aber ein Freier kommt ihm zuvor. Die Figur des Erzählers Brausen geht allmählich in seiner Schöpfung Santa María auf. Er wird in späteren Werken Onettis wieder auftauchen und schließlich sogar als der Begründer wie ein Gott verehrt werden. Sprecher 2: Ist Brausen verrückt? Autor: - fragt sich Mario Vargas Llosa bei der Lektüre dieses Romans. Sprecher 2: Er ist es auf die Weise jener denkwürdigen Figuren der Literatur, die der Verlockung eines erdachten Lebens erliegen, sei es dem der Ritterromane, wie Don Quijote, oder dem der romantischen Lektüre, wie Madame Bovary ... Traum und Phantasie sind Brausens letzte Zuflucht, als sein pessimistischer, verzweifelter Blick auf die Welt, in der er lebt, ihm keinen anderen Ausweg als den Selbstmord zu lassen scheint. (Mario Vargas Llosa: Die Welt des Juan Carlos Onetti. Übersetzt von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009) Autor: Die Sprache Onettis ist - auch in der deutschen Neuübersetzung seiner Werke durch Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg - von ungewöhnlicher Klarheit und Brillanz. Er ist ein Meister der Zuspitzung: Sprecher 1: - so sicher der eigenen Unsterblichkeit wie des Augenblicks, den sie in der Zeit besetzten. Autor: Das kurze Leben ist ein Roman über die Entstehung einer Romanwelt. Sein zweites Thema ist die existentielle Suche nach dem Sinn des Lebens. Beides hängt unmittelbar zusammen. Denn die Flucht in eine imaginierte Wirklichkeit, in die Kunst, dient der Suche nach Rettung: ein christliches Motiv in Onettis Kosmos, in dem Gott eine abwesende Größe bzw. nur in der Negation vorhanden ist. Rettet also die Kunst? Oder müssen wir uns einfach in dieses 'kurze Leben' schicken? Take M 4 Musik-Intervall Take 8 Onetti Sprecher 1: Ich war gerade dabei, den Leichensammler zu schreiben, mit großer Lust und Selbstvertrauen. Ich hatte auch bereits die Hälfte verfasst, als mir bei einem Spaziergang durch eine Werft in Buenos Aires der Tod von Larsen, der Hauptfigur, einfiel. Ich war nun nicht mehr fähig, weiter am Leichensammler zu arbeiten, und habe Die Werft geschrieben und erst später den anderen Roman wieder aufgenommen. Autor: Also lässt Juan Carlos Onetti zunächst seinen Larsen in Die Werft sterben, bevor er ihn - sozusagen in der Vorgeschichte - als Leichensammler präsentiert. Dort zeigt er ihn im Augenblick seines höchstens Ehrgeizes, in dem sich der Traum seines Lebens zu erfüllen scheint: ein eigenes, ein vollkommenes Bordell als libertärer Raum in dem von christlichem Fundamentalismus beherrschten Santa María. Dieser "Künstler" - wie ihn Onetti bezeichnet - hat Erfolg und scheitert dennoch, denn er muss den Hütern der herrschenden Moral weichen. Nach fünf Jahren der Verbannung kehrt er in die inzwischen etwas heruntergekommene Stadt zurück - Sprecher 1: - wo ihm das Geräusch des Regens die Notwendigkeit verkündet, eine abschließende Tat müsse den toten Jahren Sinn verleihen. Autor: Er will die verfallene Werft von Jeremías Petrus, ein Träumer wie er, wieder aufbauen - Sprecher 1: - dazu verurteilt, etwas zu verteidigen, was er nicht kannte. Autor: Das riesige Gelände ist eine einzige Ruinenlandschaft, in der der Patron und die Geschäftsführer so wirtschaften, als funktioniere der ganze Betrieb noch. Sie versuchen, das eigentliche Leben im uneigentlichen zu führen. Daran scheitert sehr bald auch Larsen. Sprecher 1: Seine Augen ließen im Takt der Schritte mit gebührendem Misstrauen die Reihen rostbrauner, vielleicht für immer stillgelegter Maschinen an sich vorüberziehen, die eintönige Geometrie der mit Werkzeugleichen vollgestopften Fächerschränke, die, hochgezogen bis zum Gebäudedach, sich gleichgültig und schmutzig jenseits der Blickweite fortsetzte, jenseits der letzten Sprosse jeder vorstellbaren Leiter. Er ging Schritt für Schritt, mit der Langsamkeit, die er dieser Zeremonie für angemessen erahnte, und nahm bereitwillig die Bitternis und Skepsis der Niederlage auf sich, um die Metallteile in ihren Gräbern, die korpulenten Maschinen in ihren Mausoleen, die Kenotaphe aus Unkraut, Schlamm und Schatten davon zu befreien, Ecken ohne Zusammenhang, die vor fünf oder zehn Jahren den törichten und stolzen Willen eines Arbeiters, die Derbheit eines Vorarbeiters beherbergt hatten. (Juan Carlos Onetti: Die Werft. Gesammelte Werke, Band 3, herausgegeben und neu übersetzt von Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2005) Autor: Die Werft erschien 1961, also zu einer Zeit, da Uruguay, die einstige 'Schweiz Lateinamerikas', selbst in die Krise und in eine Situation zunehmenden Verfalls geraten war. Onetti hat zwar mehrfach bestritten, dass er mit seinem Roman eine Allegorie beabsichtigt habe, die Parallelen sind jedoch unübersehbar. Und sie treffen sogar - nahezu ein halbes Jahrhundert später - auch auf die ökonomische Katastrophenlage in vielen Teilen der Welt von heute zu. Take M 6 Musik-Intervall Take 9 Onetti Sprecher 1: Ich kam nach Spanien mit der Gewissheit, alles verloren, alles hinter mir gelassen und nichts für die Zukunft zu haben. Mein Leben als Schriftsteller interessierte mich nicht mehr. Und trotzdem, hier bin ich, einige Jahre später, und habe überlebt. Dieses Überleben ist das erste, was ich den Spaniern verdanke. Diese geschenkten Jahre, in denen ich wieder Freude am Schreiben fand, nach langer Unterbrechung. Diesem generösen Land verdanke ich den Glauben, noch etwas, noch ein vorletztes Körnchen zu sagen zu haben. Autor: Juan Carlos Onetti 1981 in seiner Rede nach der Verleihung des Premio Cervantes. Er war 1975 vor den Militärs in seinem Heimatland nach Spanien geflohen und wollte nie wieder an den Rio de la Plata zurückkehren. Sprecher 1: Uruguay existiert nicht mehr. Autor: Auch nicht in der Demokratie. Als er 1985 erneut den Nationalpreis für Literatur erhalten sollte, musste Staatspräsident Sanguinetti ihm die Auszeichnung in Madrid überreichen, wo er bis zu seinem Tod 1994 völlig zurückgezogen lebte. Das letzte Jahrzehnt verbrachte er fast ausschließlich im Bett. Sprecher 1: Ich lebe versteckt, wenn auch ohne das Wissen der Ordnungskräfte, die mich nicht in ihren Karteien haben. Ich verstecke mich, weil es hier Menschen gibt, vor allem Frauen, deren Gesichter und Entsagungen ich mich weigere, nach so vielen Jahren kennenzulernen. Aus den gleichen Gründen gefällt es mir nicht im geringsten, ihnen mein heutiges Gesicht zu zeigen, zu erlauben, dass sie meine vergangenen, kleinen Schandtaten erahnen oder erraten. (Juan Carlos Onetti: Wenn es nicht mehr wichtig ist. Übersetzt von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1996) Autor: Wenn es nicht mehr wichtig ist - so nannte Onetti seinen letzten Roman, der 1993 erschien. Darin umkreiste er - wie in den anderen drei Büchern seiner spanischen Jahre - noch einmal den Kosmos von Santa María, erfand neue Figuren und gab dem Schicksal der bekannten neue Wendungen. Seine Geschichten wurden dabei zunehmend mysteriöser, ihre Handlungsgewebe zufälliger, ihr Kriminalcharakter deutlicher, ohne wirklich die Form eines Kriminalromans anzunehmen. Der Blick in den Abgrund menschlicher Seelen und gesellschaftlicher Zusammenhänge wurde durch keinen Strahl von Altersweisheit aufgehellt. Am Ende seines letzten Romans setzte Juan Carlos Onetti, dieser grandiose Gestalter einer Welt ohne Licht, einen bewussten Schlusspunkt hinter Leben und Werk. Sprecher 1: Ich habe das Wort Tod geschrieben und mir dabei gewünscht, dass es nicht mehr sei als ein mit zittrigen Fingern gezeichnetes Wort ... Es gibt in dieser Stadt einen Friedhof am Meer, schöner als das Gedicht. Und es gibt oder gab oder hat dort, zwischen Pflanzengrün und Wasser, ein Grab gegeben, in dessen Stein der Namen meiner Familie gemeißelt ist. Bald, an irgend einem widerwärtigen Tag im Monat August mit Regen, Kälte und Wind, werde ich es beziehen, neben ich weiß nicht welchen Nachbarn. Die Grabplatte schützt nicht ganz vor dem Regen, und außerdem, so steht geschrieben, wird es immer regnen. (Juan Carlos Onetti: Wenn es nicht mehr wichtig ist. Übersetzt von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1996) Quellenverzeichnis /1/ Mario Vargas Llosa: Die Welt des Juan Carlos Onetti. Übersetzt von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009. /2/ Juan Carlos Onetti: Das kurze Leben. Gesammelte Werke, Band 2, herausgegeben und neu übersetzt von Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2007. /3/ Juan Carlos Onetti: Der Schacht. Übersetzt von Jürgen Dormagen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1989. /4/ zitiert nach Borris Mayer Onetti. Juan Carlos Onetti. Webseite: www.onetti.net/de /5/ Juan Carlos Onetti: Die Werft. Gesammelte Werke, Band 3, herausgegeben und neu übersetzt von Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2005. /6/ Juan Carlos Onetti: Wenn es nicht mehr wichtig ist. Übersetzt von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1996. 14