COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Die Reportage vom 17. Juli 2011 Wir können auch anders Island nach der Finanzkrise Von Nadine Wojcik Regie: Atmo Verfassungsversammlung - darüber: Autorin: Im Halbkreis sitzen 25 Männer und Frauen, hängen in ihren Stühlen wie bei einer x-beliebigen Teamsitzung, auf dem Schoß einen Packen Papier. Neben dem Rednerpult in der Mitte steht die rot-blaue isländische Fahne. Was unspektakulär wirkt, ist eine weltweite Sensation: Island, der kleine Inselstaat am Polarkreis mit rund 320.000 Einwohner gibt sich eine neue Verfassung. Eine Videokamera filmt die die 25-köpfige verfassungsgebende Versammlung bei der Arbeit und schickt den Livestream über das Internet in alle Haushalte, die zugucken und sich einmischen wollen. Es tagen keine Politiker, sondern hier stecken 25 Bürger die Köpfe zusammen. Sie sollen stellvertretend für ALLE entscheiden. Politik von unten. Was anderswo als utopisch gilt, ist in Island Realität. Atmo hochziehen, möglichst ein lebendiger Diskurs Vor zwei Jahren machen die Isländer eine "Nahtoderfahrung." Der Staat Island - einst Symbol für Wirtschaftskraft und Stabilität - steht plötzlich vor dem Bankrott. Die Finanzkrise trifft das kleine Land mit aller Kraft - denn die isländischen Banken haben sich grandios verzockt. Aber Island steht wieder auf, denn die Bürger nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Sogar dann, wenn es um so schwierige Dinge wie Gesetzestexte für eine Verfassung geht. Katrin Oddsdottir, 34 Jahre alt, ist Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin - und nun auch Mitglied in der unkonventionellen verfassungsgebenden Versammlung: Regie: O-Ton Katrin Oddsdottir (engl.): Übersetzung: Das ist großartig und es macht wirklich Spaß. Wir versuchen in vier Monaten eine neue Verfassung auszuarbeiten, das ist schon verrückt. Aber es funktioniert und das ist es auch, was es so großartig macht. Regie: Atmo Verfassungsversammlung - darüber: Autorin: 25 vom Volk gewählte Vertreter. Dazu gehören unter anderem ein Universitätsprofessor, ein Gewerkschaftler und Vater der Sängerin Björk, ein parkinsonkranker Dichter, ein arbeitsloser Mathematiker, eine Theaterregisseurin, eine Philosophiedozentin, ein Bauer aus dem Norden. Heute reden sie über ein neues, gerechteres Wahlsystem. Auf der Videoleinwand, die neben dem Pult die Reihenfolge der Redner aufzeigt, erscheint Katrins Name. Sie schnappt sich ihr Manuskript und trägt ihre Vision vor: grenzenlose Wahlkreise, eingeteilt nach gemeinsamen Interessen und nicht nach geografischen Regionen. Regie: Atmo Foyer / Youtube: Autorin: Im Foyer vor dem Sitzungsraum spricht ebenfalls Katrin, allerdings am Bildschirm und auf Youtube. Hier können Besucher Rückschau halten: Im November 2008 spüren viele Isländer eine enorme Wut. Damals steht Katrin auf dem Austurvöllur, dem Platz in Reykjavik mit Parlamentsgebäude, Rathaus und der älteste Kirche. Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, Katrin trägt eine orangefarbene Daunenjacke mit Pelzkragen. Sie betritt die aufgebaute Bühne. Vor ihr drängen sich Tausende von Isländern, einige halten Plakate hoch, andere schlagen mit Kochlöffeln auf Töpfe. Regie: Atmo youtube Katrin's Rede - darüber: Autorin: Wir lassen uns nicht unterdrücken, ruft Katrin Oddsdottir den Menschen zu. Solche massiven Proteste hat der kleine Inselstaat am Polarkreis noch nie gesehen. Die einstigen Wirtschaftswikinger heißen jetzt Banksters. Einst fliegen sie mit Privatjets durchs Land, spekulieren weltweit mit Immobilien, fahren teure Autos, laden Elton John oder Duran Duran auf Ihre Geburtstagspartys ein. Dann sind die drei größten isländischen Banken pleite. Die Blase geplatzt. Was die Demonstranten auf dem Austurvöllur zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Die Krone wird gegenüber dem Euro in den kommenden Monaten um 70 Prozent an Wert verlieren, alle Isländer müssen völlig umdenken und ihr knappes, monatliches Budget neu einteilen. Die Arbeitslosenquote steigt, die Staatsschulden werden am Ende auf das Zwölffache des Bruttoinhaltsproduktes wachsen. Das einst so neoliberale und reiche Land ist ruiniert. Regie: Atmo youtube Katrin's Rede, Menge jubelt Kreuzblende: Mittagspause Versammlungsversammlung darüber: Autorin: Katrin Oddsdottir kommt ins Foyer, die verfassungsgebende Versammlung macht Pause. Dass sie heute mitentscheiden kann, wie ihr Land in Zukunft besser regiert werden soll - das hätte sie damals nicht gedacht. Regie: O-Ton Katrin (engl.): Übersetzung: Jeder Artikel, den wir hier ausarbeiten, wird eine große Veränderung für unser Land sein. Daher ist die Arbeit auch nie langweilig, auch heute nicht, wo wir über ein so technisch- mathematisches Thema wie das Wahlrecht reden. Jeder von uns hat darüber/dazu eine andere Meinung, aber irgendwie haben wir diese brillante Lösung gefunden - so eine Einigkeit würde es im isländischen Parlament nie geben. Aber hier funktioniert es und deswegen kann ich auch wieder an die Zukunft glauben und daran, dass Alles möglich ist. Regie: Atmo Foyer / Pause: Autorin: Vier Monate lang arbeitet Katrin Oddsdottir gemeinsam mit den anderen Mitgliedern an der Verfassung, bezahlt werden sie vom Staat. Der wird heute von einer neuen sozialdemokratisch-grünen Regierungskoalition geführt. Demonstranten wie Katrin zwingen 2009 die konservative Partei, die 18 Jahre lang regiert hat, zum Rücktritt. Die neue Koalition will es nun besser machen, sie will die Bürger einbeziehen. Und Island eine neue Verfassung geben, die nicht zulässt, dass Wirtschaft, Banken und Politik jemals wieder gemeinsame Sache betreiben können. Regie: Atmo Mittagspause - darüber: Autorin: In der Pause stehen auf den Tischen im Foyer Teller mit Rohkost bereit. Der Universitätsprofessor läuft auf Socken zum Kaffee- Automaten, Katrin plaudert sich mit der hochschwangeren Astros, mit 25 Jahren das jüngste Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung. Ari Teitson steht etwas abseits und ist immer noch bei der Sache. Regie: Atmo Mittagspause mit Ari - darüber: Autorin: Ari Teitson ist Bauer und kommt aus dem Norden von Island, geprägt von einer gewaltigen, menschenleeren Landschaft mit kargen Bergen und aquamarinblauen, glasklaren Flüssen. Bäume wachsen in diesem rauen subarktischen Klima nicht, dafür aber saftiggrünes Gras. Ari Teiston hat dort eine kleine Schafsherde. In erster Linie betreibt er aber eine kleine Volksbank, die einzige im Land, die nicht in Schwierigkeiten geraten ist. Wie er das gemacht hat? Ja wie wohl, ich habe einfach keinen Unsinn mit dem Geld meiner Kunden angestellt, sagt Ari Teitson. Für die Versammlung lebt er die Woche über in Reykjavik, am Wochenende fährt er rund fünfhundert Kilometer in den Norden, zu seiner Familie. Regie: O-Ton Ari Teitson (engl): Übersetzung: Ich mache das nicht für mich, sondern für meine Enkel. Island muss sich verändern und genau daran arbeiten wir. Und darauf bin ich (schon) stolz.) Regie: Atmo Katrin und ein Fernsehteam - darüber: Autorin: Ein französischer Fernsehsender fängt Katrin ab und führt noch schnell ein Interview. Routiniert stellt sich Katrin vor die Kamera, Presse ist sie mittlerweile gewöhnt. So eine verfassungsgebende Versammlung hat die Welt schließlich noch nicht gesehen. Von hilflosen Politikern, denen die Hände gebunden sind und die die Finanzwelt frei walten lassen, haben die Isländer genug. Darüber kann kaum einer der 25 Mitglieder charmanter und verständlicher reden als Katrin. Sie wirft ihre schulterlangen blonden Haaren zurück und blickt mit leuchtenden Augen in die Kamera. Regie: Atmo Fernsehteam interviewt Katrin - darüber: Autorin: Setzt ihr hier ein Beispiel für den Rest der Welt? fragt die französische Reporterin. Aber natürlich, antwortet Katrin unbescheiden. Tatsächlich hissen bereits die Jugendlichen in Spanien und Griechenland die isländische Fahne über ihren Protestcamps. Stolz erzählt Katrin, wie Basisdemokratie ganz praktisch funktioniert: Über die Facebookseite der verfassungsgebenden Versammlung kann jeder am Gesetzestext mitschreiben. 300 Vorschläge sind so schon eingearbeitet worden. Jeder Isländer konnte sich zur Wahl für die verfassungsgebende Versammlung aufstellen lassen. Über 500 Kandidaten hat es gegeben, alle kamen mit Foto und Lebenslauf online in die Zeitung. Atmo: Regie Tippen - darüber: (Atmo Zeitungsredaktion) Autorin: So wie die Isländer die Politik umkrempeln, so stellen sie auch die Medienlandschaft auf den Kopf. Die Zeitung Dagbladid Visir bekommt zuerst neue Besitzer und dann einen Wahl-O-Mat, der Katrin, den Bauern Ari Teison und alle anderen Bürgerkandidaten vorstellt und den basisdemokratischen Prozess auf dem Papier und am Bildschirm unterstützt. Regie: O-Ton Jon Reynisson (engl.): Übersetzung: Wir haben diese Anwendung auf unserer Internet-Seite. Wenn man da einen Fragenkatalog zu politischen Überzeugungen und Ansichten beantwortet, spukt sie denjenigen Kandidaten aus, der am meisten zu einem passt. Atmo: Gespräch Reynir und Jon - darüber: Autorin: Jon Trausti Reynisson, 31 Jahre alt, hat diesen Wahl-o-Mat für seine Zeitung Dagbladid Visir, kurz DV, programmieren lassen. Der zierliche junge Mann trägt Jeans und dazu ein schwarzes Sakko. Sein Vater Reynir rauscht ins Büro - sie müssen die Überschriften für die heutige Ausgabe noch überarbeiten. Vater Reynir und Sohn Jon sind seit 2010 die neuen Chefredakteure von DV. Und deren Eigentümer: Regie: O-Ton Reynir Trautason (engl.): Übersetzung: Wir haben mitbekommen, dass einige gruselige Typen versuchten, die Zeitung zu kriegen, um sich selbst und ihre schmutzigen Geschäfte vor einer Berichterstattung zu schützen. Und da habe ich beschlossen, die Zeitung gemeinsam mit einigen Leuten zu kaufen. Dabei gab es nur eine Regel: Die künftigen Eigentümer sollten nichts mit der Wirtschaftskrise zu tun gehabt haben. Regie: Atmo Gespräch Reynir und Jon (o.V.) - darüber: Autorin: Anders als bei den anderen Zeitungen in Island. Wie die Wirtschaft so unterliegen auch die Medien in Island fast keinerlei Regulierungen. Und so kann sich der ehemalige Zentralbankchef und Hauptverursacher des großen Zusammenbruchs, David Oddson, erlauben, eine Tageszeitung nach seinem gusto gestalten, er ist der Chefredakteur des Morgenbladder. Oder die auflagenstarke, weil kostenlose Zeitung Frettobladder gehört einer isländischen Bank. Von dieser Art Besitzverhältnissen und der entsprechenden Berichterstattung haben Reynir und Sohn aber genug. Regie: O-Ton Reynir (engl.): Übersetzung: In Island sagt man: Die Leute sind in die Welt hinausgefahren und eingebrochen. Sie haben sich in Unternehmen und Immobilien in Kopenhagen, London oder Berlin eingekauft, praktisch auf der ganzen Welt, und dann waren sie plötzlich bankrott. Solche Leute brauchen wir nicht in unserem Projekt. Unsere Hände sollen sauber sein. Regie: Atmo Zeitungsblättern - darüber: Autorin: Vater Reynir spricht Lilja Skaftadottir an, eine isländische Galeristin, die in Frankreich lebt. Und einen Priester, einen Restaurantbesitzer, einen Herzspezialisten. Gemeinsam kaufen sie Dagbladid Visir - und strukturieren die Zeitung komplett um. Denn die DV im Tabloidformat mit großen Überschriften ist bekannt für reißerischen Boulevardljournalismus. Jetzt soll mehr politische Hintergrundberichterstattung dazu kommen - ein Spagat zwischen BILD und SPIEGEL. Regie: Atmo Redaktion - darüber: Autorin: Um den Neustart der Zeitung hin zu kriegen, müssen sich Reynir und Sohn beschränken. Das Blatt erscheint nur dreimal die Woche und die Redaktion passt heute in ein einziges Großraumbüro in einem Gebäudekomplex am Hafen von Reykjavik. Hier liegen riesige Fangschiffe neben Touristendampfern, die zum Walbeobachten einladen. Auch im Sommer fegt ein eisiger Wind durch die Hafenstraßen. In der Zeitungsredaktion sitzen an den gemeinschaftlichen Tischen Männer in Jeans und bunten T-Shirts und Frauen in weiten Pullis und modischen Brillen vor den Bildschirmen. Regie: O-Ton Björn (dt.): Es ist niemand hier über 40 Jahre alt, außer mein Kollege hier, der ist aber im Urlaub. Ich bin neulich 30 geworden - schade. Regie: Atmo Tippen - darüber: Autorin: Während Björn an den Auslandnachrichten textet, läuft Reynir im Chefbüro auf und ab, schaut kurz aus dem Fenster. Gegenüber liegt ein Vulkan-Museum, vor dem sich gerade einige Sommertouristen in universeller Outdoor-Kleidung sammeln. Regie: O-Ton Reynir (engl.): Übersetzung: Wir haben ein paar interessante Informationen über die Abläufe einer Bank veröffentlicht, die gerade pleite gegangen ist. Aber nun hat uns die Bank verklagt und wir schreiben gerade eine Email an unseren Rechtsanwalt. Regie: Atmo Tippen - darüber: Autorin: Es ist nicht das einzige Verfahren, das DV derzeit beschäftigt. Zehn Verleumdungsklagen liegen auf dem Tisch, denn DV deckt eisern auf, Wer sich Wann Wie bereichert hat. Ein Gerichtsverfahren ganz anderer Art ist auch Aufmacher der heutigen Ausgabe. Regie: Atmo Zeitungsblättern - darüber: Regie: O-Ton Jon (engl.): Übersetzung: Die Überschrift bedeutet übersetzt Geir's Krieg. Das ist der ehemalige Premierminster, der wird gerade angeklagt. O-Ton Reynir (engl.): Übersetzung: Sein Verbrechen war, dass er als Premierminister vor und während der Krise einfach nichts getan hat. Und daran wollen wir erinnern, also haben wir hier noch einmal all seine Lügengeschichten aufgelistet. Regie: Atmo Zeitungsblättern oder Gespräch zwischen Reynir und Jon - darüber: Autorin: Der aus dem Amt gejagte Premier Geirs Haarde sucht und findet trotz der schweren Vorwürfe gegen ihn immer noch Halt bei den "alteingesessenen" Medien. Wir versuchen anders zu sein, sagt Jon, und rückt sich aufrecht vor dem Computerbildschirm zurecht. Das Internet spielt für die Basisdemokraten eine enorme Rolle. Hier vernetzen sie sich, hier finden sie Unterstützung. Sie können blitzschnell reagieren, wenn einer der Bürokraten, die die Mitschuld an der Krise tragen, wieder mitmischen will als sei nichts gewesen. Regie: Atmo Schritte/Platz - darüber: Ein paar hundert Schritte von den Redaktionsräumen der DV entfernt liegt der Austurvöllur-Platz, das Herzstück des alten Reykjaviks. Hier steht das Parlamentsgebäude, ein quadratischer Bau aus großen Steinen von 1881 - für die junge Nation ein sehr altes Gebäude. Es ist der Arbeitsplatz von Birgitta Jonsdottir, Internetaktivistin und seit dem Rücktritt des jetzt angeklagten Geir Haarde neue Abgeordnete. Sie ist Mitglied in der "Bürgerbewegung", die 2009 auf Anhieb vier Sitze im Parlament gewonnen hat. Regie: Atmo Sicherheitsschleuse - darüber: Autorin: Jetzt drängt sich Birgitta Jonsdottir durch die Sicherheitsschleuse am Ausgang des Parlamentsgebäudes. Sie braucht dringend eine Zigarette, mühsam laufen die Sitzungen. Regie: O-Ton Birgitta Jonsdottir (engl.): Übersetzung: Wen repräsentiert man im Parlament? Das Volk oder irgendwelche Lobbisten. Wir verstehen unsere Aufgabe so, dass wir die Bürger vertreten. In dem Sinne sind wir auch keine Partei, man kann auch kein Mitglied werden. Wir sind eine Bewegung. Regie: Atmo Platz - darüber: Autorin: Birgitta ist 44 Jahre alt und kann sich an keinen Zeitpunkt in ihrem Leben erinnern, an dem sie nicht demonstriert hat. Birgitta ordnet ihr schwarzes, langes Haar, zieht kräftig an ihrer Zigaretten und beobachtet einen Gärtner, der gerade ein kleines Stück saftgrünen Rollrasen am Rande des Platzes pflanzt. Darum herum ist das Gras gelb und braun. Ein Flickenteppich. Der Austurvöllur ist nicht erst seit ihrem Mandat ihr Wirkungsfeld. Regie: O-Ton Birgitta Jonsdottir (engl.): Lachen, dann Übersetzung: Hier war unser Schlachtfeld, auf dem wir protestiert haben. Leider haben wir dabei den Rasen zerstört, deswegen pflanzen sie ihn jetzt jedes Jahr neu. Regie: Atmo Sicherheitsschleusen, darüber: Autorin: Auf der anderen Seite liegt das Bürogebäude der Parlamentarier. Hier bin ich eigentlich nie, sagt Birgitta. Regie: O-Ton Birgitta Jonsdottir (engl.) o.V.: So this is our glorial sterile office space... Autorin: Birgitta öffnet die Tür zu ihrem Büro - es ist tatsächlich völlig verwaist. Keine Unterlagen, kaum Bücher, nur ein Tisch, zwei Stühle, eine Couch. Durch die breite Fensterfront blickt sie auf die umliegenden Berge, die auch jetzt im Sommer mit Schnee bedeckt sind. In diesem Büro gibt es keine WLAN-Verbindung, nur ein Büronetzwerk und das funktioniert nicht mit ihrem Laptop. Und der ist ihr Lebenselixier. Hier ist auch ihr größter politischer Erfolg abgespeichert: der Gesetzesentwurf, der aus Island einen Datenfreihafen macht. Regie: O-Ton Birgitta (engl.): Übersetzung: Im Kern funktioniert das wie der Steuerfreihafen in der Schweiz. Nur dass wir all die Gesetze aus anderen Ländern zusammengetragen haben, die die größtmögliche Presse- und Informationsfreiheit möglich machen und dabei berücksichtigen, dass der Informationsfluss heutzutage keine nationalen Grenzen mehr kennt. Ich gehöre der kleinsten Fraktion im Parlament an und ich hätte nie gedacht, dass ich mit diesem Gesetzesvorschlag durchkomme. Regie: Atmo Büro: Autorin: Birgitta erarbeitet gemeinsam mit vielen Internetkennern den Gesetzesentwurf IMMI - kurz für Icelandic Modern Media Initiative. Und es geschieht das für sie bis heute Unbegreifliche: Mit nur einer Enthaltung verabschiedet das Parlament 2010 den ersten Teil des Gesetzes. Island ist damit für die ganze Welt ein Hafen, wo vertrauliche Informationen sicher gelagert werden können. Das schützt z.B. Informanten und Journalisten und erschwert die Zensur von Presseberichten. Island wird deshalb für investigative Datenzentren zunehmend interessant. Zu Enthüllungsplattformen wie Wikileaks haben die Isländer seit der Krise ein besonders Verhältnis: Regie: O-Ton Birgitta Jonsdottir (engl): Übersetzung: Wir haben hier in Island von Wikileaks erfahren, weil dort jemand die Gehaltszettel und auch vor allem die eigentlichen Eigentumsverhältnisse der Banken reingestellt hat. Diese Information hat uns von heute auf morgen klar gemacht, dass nicht ausländische Investoren unser Land ruiniert haben, sondern unsere eigenen Leute. Ein unglaubliches Zeugnis über die Fehlleistungen der Banken. Regie: Atmo Büro: Autorin: Mit ein Grund, warum Birgitta Jonsdottir 2008 und 2009 monatelang vor dem Parlamentsgebäude demonstriert. Heute arbeitet sie dort - so schnell kann sich alles ändern. Regie: O-Ton Birgitta (engl.): Übersetzung: Das wichtigste, was wir aus der Krise gelernt haben, ist, dass wir gemerkt haben, dass wir selbst handeln müssen, wenn wir was ändern wollen. Es reicht nicht, sich einfach darauf zu verlassen, dass das schon jemand anderes für uns übernimmt. Und das ist der größte Erfolg. Dass die Isländer verstanden haben, dass jeder einzelne in der Verantwortung steht. Regie: Atmo Schritte Autorin: Nach der Finanzkrise werden in Island Volksreferenden durchgeführt, erstmalig in der Geschichte des Landes. Gleich zweimal wird das Volk zu den Vereinbarungen über die Schuldenrückzahlung mit England und den Niederlanden befragt, bekannt unter dem Namen ICESAVE. Und zweimal lehnen es die Isländer mit großer Mehrheit ab, zu empört sind sie über die hohen Zinsen. Regie: O-Ton Birgitta (engl.): Übersetzung: Ich bin sicher, dass beispielsweise die deutsche Bevölkerung in unserer Situation nicht anders entschieden hätte und viele Bürger in anderen europäischen Ländern revoltieren ja gerade auch aus ähnlichen Gründen. Wir, die isländischen Steuerzahler, haben diese Schulden nicht verursacht. Wir müssen ja eh schon die Hauptlast tragen. Wir haben einfach genug von diesen Bankenrettungspakten (bailing out the banks). Schließlich teilen die ja auch nicht ihre Gewinne mit uns - warum sollen wir jetzt also für ihr rücksichtsloses Verhalten bezahlen? Regie: Atmo Schritte - darüber: Autorin: Die Isländer halten dagegen. Und wie sie denken viele. Die isländische Flagge ist Symbol des Widerstands für die Griechen, für die Spanier. Regie: O-Ton Birgitta (engl.): Übersetzung: Ich bin sicher, dass wir Ähnliches noch in ganz Europa sehen werden. Zugegeben, Deutschland wird wohl als letztes dran sein, weil es ganz gut dasteht. Aber wenn wir das Bankensystem und das politische System generell nicht ändern, dann wird bald jeder zum Isländer werden. Autorin: "Wir können auch anders", heißt die verlockende Botschaft für die Bürger, die neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens suchen. Hoch oben am Polarkreis ist das Labor. 10 1