Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62120 Organisationseinheit: 46 Reihe : Zeitreisen Titel : Der Krisen-Denker. Karl Marx' Werk erfreut sich einer neuen Konjunktur Autorin : Susanne Mack Redakteur/in : René Aguigah Sendung : 12. September 2012 / 19:30 Uhr Regie : Friedrike Wigger Besetzung : Autorin (=Sprecherin); Zitator 1; Zitator 2 Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 O-Ton Menke: Politik kann man immer nur zu gesellschaftlichen Bedingungen machen. Wir müssen erstmal gesellschaftliche Bedingungen verstehen, soziale Verhältnisse verstehen. Das heißt bei Marx natürlich, vor allem ökonomische Verhältnisse verstehen! Um dann zu schauen, welche politisch sinnvollen Handlungsmöglichkeiten es gibt. Autorin: Christof Menke. Er ist Philosoph an der Frankfurter Goethe-Universität und interessiert sich vor allem für Marx' Schriften zur "Theorie der Politik und des Rechts". Wolfgang Fritz Haug - rund zwanzig Jahre älter als Christoph Menke - interessiert sich vor allem für Marx' ökonomische Schriften, besonders für "Das Kapital". Dieses Werk sei ein Klassiker, der plausibel erkläre, wie der Kapitalismus funktioniere, sagt Haug. O-Ton Haug: Das ist der Grund für die Aktualität von Marx! Die ja nicht aus der Universität etwa kam; die ist nicht bemerkt worden an den philosophischen Instituten in den letzten Jahren. Die ist bemerkt worden im Handelsblatt, in ,Financial Times', die ist bemerkt worden in den großen Organen des Weltkapitals. Die haben plötzlich gemerkt: Da ist ja doch etwas dran! Autorin: Haug - Urgestein des Marxismus in der Bundesrepublik und einer der theoretischen Köpfe der 68er Studentenbewegung - ist seit rund 50 Jahren mit dem Werk von Karl Marx beschäftigt. Elmar Flatschart dagegen gehört zur jungen Generation einer kleinen, aber wachsenden Gruppen von Marx-Enthusiasten. Der 29jährige Politikwissenschaftler sitzt in der Redaktion einer Zeitschrift mit dem Titel: "EXIT. Kapitalismuskritik für das 21. Jahrhundert". Hier diskutiert man gerade die globale Wirtschaftskrise der Gegenwart: O-Ton Flatschart: Die Krise, die wir heute haben, die wir schon seit längerer Zeit haben, kann, denke ich, nur mit einem auf Marx beruhenden Instrumentarium gefasst werden. Und andererseits aber auch aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, denke ich, dass man nicht um Marx herumkommt. Autorin: Marx' polit-ökonomische Theorie, meint Flatschart, sei der heute vorherrschenden Volkswirtschaftslehre haushoch überlegen. O-Ton Flatschart: Es sind ja keine Antworten da! Die normale Volkswirtschaftslehre kann keine Antworten auf diese Krise geben; man sucht jetzt natürlich an allen Ecken und Enden. Autorin: Wolfgang Fritz Haug sieht das ebenso: O-Ton Haug: Sie kennt die Krise nicht, sie hat keine Theorie der Krise! Marx kennt sie nicht nur, sondern seine ganze Herangehensweise, um das zu verstehen, was wir "Kapitalismus" nennen, fängt gleich sozusagen in den ersten Grundgedanken an mit Krisenhaftigkeit. Zitator 1; Zitat Marx, Kapital Bd. 1., S. 429 Die ungeheure Ausdehnbarkeit des Fabrikwesens und seine Abhängigkeit vom Weltmarkt erzeugen notwendig fieberhafte Produktion - und darauf folgend Überfüllung der Märkte. Das Leben der Industrie ist eine Reihenfolge von Perioden mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation: die Ebbe- und Flut- Perioden des industriellen Zyklus. Autorin: So Karl Marx in "Das Kapital", erster Band, von 1867. Und Wolfgang Fritz Haug, Jahrgang 1936, sagt heute: O-Ton Haug : Dieses System stolpert sozusagen von Ungleichgewicht zu Ungleichgewicht. - Warum? Es hat ja gar keinen anderen Kompass oder gar keine andere Regulierung eingebaut als die, aus Ungleichgewichten zu lernen, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Und das ist zunächst mal schon ein Zugang zu einer Dimension von Krise. Autorin: Laut Marx' ökonomischer Theorie sind Krisen ein notwendiges Moment im kapitalistischen Wirtschaftszyklus. Sie kehren wieder, regelmäßig und zuverlässig. - Christoph Menke: O-Ton Menke: Übrigens eine These, an die wir vielleicht jetzt viel stärker wieder erinnern müssen. In einer Diskussion, in der das Problem des Kapitalismus ganz auf Finanzkapitalismus reduziert wird. - Für Marx ist das eigentliche Problem nicht die Spekulation; der Spekulant ist vielleicht ein praktisches Problem, das wir unter Kontrolle kriegen müssen, aber das ist nicht das Problem des Kapitalismus. Das Problem des Kapitalismus ist Ausbeutung, und die findet immer noch statt, nicht an der Börse, sondern in der Fabrik, das heißt, in den kapitalistisch organisierten Produktionsverhältnissen. Autorin: Krisen des Geldmarktes betrachtet Marx als Oberflächen-Phänomene des kapitalistischen Wirtschaftssystems - für die er sich allerdings auch interessiert. Im ersten Band des ,Kapital' findet sich ein Bericht über den Kollaps der englischen Wirtschaft vom Mai 1866. Er klingt fast wie aus einem Essay von heute: Zitator 1; Zitat Karl Marx, das Kapital Bd. I, S. 619: Diesmal nahm die Krise einen vorwiegend finanziellen Charakter an. Ihr Ausbruch wurde angekündigt durch den Fall einer Londoner Riesenbank, dem der Zusammensturz zahlloser finanzieller Schwindelgesellschaften auf dem Fuß nachfolgte. Eine der großen Londoner Geschäftszweige, welche die Krise traf, war der Schiffsbau. Die Magnaten dieses Faches hatten während der Schwindelzeit nicht nur maßlos überproduziert, sondern zudem enorme Lieferverträge übernommen, auf die Spekulation hin, dass die Kreditquelle reichlich fort fließen werde. Musik 1 - Directors Cut: Dramedy, tr. 1 ( ab ca. 0:48); ca. 10 sec. frei stehen lassen, dann wegblenden Autorin: "Kapitalismus": Für den Ökonomen Karl Marx ist dieser Begriff mit keinem Werturteil verbunden. Er findet den Kapitalismus weder gut noch schlecht, ihm geht es um nüchterne Analyse. - Wolfgang Fritz Haug: O-Ton Haug: ,Kapitalismus', das ist zunächst mal die Bezeichnung des herrschenden Wirtschaftssystems! - Und ein Wirtschaftssystem ist ja nach Marxens Überzeugung, und ich glaube, es widerspricht ihm heute kaum mehr jemand, für alle sozialen Systeme ungeheuer bedeutsam, wenn sich auch nicht alles auf es reduzieren lässt. Autorin: Laut Marx ist der Kapitalismus ein ökonomisches System, das auf zwei Voraussetzungen beruht: Einerseits muss es Menschen geben, die ihre Arbeitskraft verkaufen. Marx nennt sie "Lohnarbeiter" und meint damit sowohl Fabrikarbeiter als auch Angestellte aller Art. O-Ton Haug: Und die anderen Menschen kaufen diese Arbeitskraft. Weil sie die Fähigkeit hat, mehr Wert zu produzieren als sie kostet. - Das ist sozusagen die Triebfeder des gesamten Wirtschaftsgeschehens auf dieser Erde, so wie es im Moment ist. Autorin: Diejenigen, die die Arbeitskraft anderer Menschen kaufen, sie in Unternehmen arbeiten lassen und ihnen dafür Lohn bezahlen, nennt Marx "Kapitalisten". Weil der Zweck ihres Unternehmertums darin besteht, ihr eingesetztes Geld zu kapitalisieren, sprich: Profite zu erwirtschaften. Dabei kommt den Kapitalisten die Natur der Ware Arbeitskraft entgegen. Arbeitskräfte kosten nämlich weniger, als sie wert sind. Der Kapitalist zahlt die vertraglich vereinbarten Löhne - und darüber hinaus erschaffen seine Lohnarbeiter einen "Mehrwert", den sich der Kapitalist kostenlos aneignet. Auf diese Weise verwandelt sich sein Geld in Kapital. Zitator 1; Zitat Karl Marx, Das Kapital Bd. 2, S.82: Kapital erscheint (...) als Geld heckendes Geld. Autorin: So heißt es im ersten Band des "Kapital". Mit anderen Worten: Es hat zwar den Anschein, als vermehre sich das Geldkapital eines Unternehmers auf wundersame Weise durch kluge Investition. In Wahrheit aber vermehrt es sich durch die kostenlose Aneignung von Mehrwert, sprich: die Ausbeutung von Arbeitskräften. - Und das ist völlig rechtens in der bürgerlichen Gesellschaft, bemerkt Marx, der studierte Jurist. Ausbeutung ist ein bürgerliches Gewohnheitsrecht. Kein bürgerliches Gesetzbuch der Welt verbietet es, Profite zu machen; im Gegenteil: Zitator 1; Zitat Karl Marx, Das Kapital Bd.2, S.120 Es entspricht dem bürgerlichen Horizont, wo das Geschäftemachen den ganzen Kopf einnimmt. Musik 3 - Directors Cut: Dramedy, tr. 1 ( ab ca. 1:08 ); ca. 10 sec. frei stehen lassen, dann wegblenden Autorin: "Kapitalismus": In den Augen von Karl Marx ist das verkehrte Welt. Denn das Ziel des kapitalistisch organisierten Wirtschaftslebens ist nicht die Befriedigung der Bedürfnisse von Konsumenten; die ist nur Mittel zum Zweck. Das eigentliche Ziel der kapitalistischen Wirtschaftsform ist die Kapital-Vermehrung von Privatunternehmern. Zitator 1; Zitat Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, S.788 Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. 20 Prozent - es wird lebhaft; 50 Prozent: positiv waghalsig. Für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Autorin: So sieht es Marx in "Das Kapital". Um so viel Profit wie möglich zu erwirtschaften, müssen so viel Kunden wie möglich zum Kaufen bewegt werden. Kapitalismus ist undenkbar ohne eine Werbe-Industrie, die ständig Verbraucher- Sehnsüchte weckt: Zitator 1; Zitat Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 ; S.134/135 Jeder spekuliert darauf, dem anderen ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten. Jedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung. So wird der Mensch zum Sklaven unmenschlicher, raffinierter, unnatürlicher und eingebildeter Gelüste. Autorin: Karl Marx, Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahr 1844. Im Kapitalismus, heißt es dort weiter, gewinnen die Arbeitsprodukte Herrschaft über ihren Produzenten. Denn der kapitalistischen Wirtschaftsform entspricht eine bürgerliche Gesellschaft, in der man sich Macht und gesellschaftlichen Einfluss gegenseitig durch Statussymbole, sprich: durch kostspielige Waren demonstriert. - Elmar Flatschart: O-Ton Flatschart: Die eigentlich menschlichen, zwischenmenschlichen Verhältnisse können sich nicht als solche artikulieren, sondern nur als sachliche Verhältnisse. Und umgekehrt haben die sachlichen Verhältnisse, haben eigentlich sozusagen, wenn sie sich als Waren am Markt gegenüberstehen, ein Eigenleben. Zitator 1; Zitat Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 ; S.135 Das Bedürfnis des Geldes ist daher das wahre Bedürfnis und das einzige Bedürfnis. Die Maßlosigkeit wird sein wahres Maß. Autorin: Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844. O-Ton Haug: Kapital produziert, gerade, weil es kein Bedarfsdeckungs-System ist, sondern ein Gewinnerzielungssystem, periodisch so genannte Über- Kapitalisierung: eine Kapital-Überproduktion. Zitator 1; Zitat Karl Marx, Das Kapital Bd.2, S.341 Unbeschäftigtes Geldkapital sucht dann Beschäftigung in spekulativen Unternehmungen an der Börse. Autorin: So Karl Marx im zweiten Band des "Kapital". Und Wolfgang Fritz Haug heute: O-Ton Haug: Das beschreibt auch ziemlich genau die Situation der letzten 15 Jahre: Ein immer riesiger Berg von Anlage suchendem Kapital, welches dann einen Berg von Kredit-Verhältnissen über der Realwirtschaft aufbaut von ungeheueren Ausmaßen. - Dann war die Kreditkette gerissen, der Bankenverkehr zum Erliegen gekommen, und plötzlich stand die Welt am Abgrund. Und im Grunde stehen wir heute, drei Jahre später, wieder oder noch immer dort. Der Marx hat sozusagen das Drama analysiert, das dem zugrunde liegt. Musik 5 - Directors Cut: Dramedy, tr. 3 ( ab 0:00); ca. 10 sec. frei stehen lassen, dann wegblenden Autorin: Ökonomische Studien hat Karl Marx nicht als Selbstzweck betrieben. Seine eigentliche Frage war: Welchen Einfluss hat eine kapitalistische Wirtschaftsform auf die Verfassung des Staates und der Rechtsordnung in einer bürgerlichen Gesellschaft? - Elmar Flatschart: O-Ton Flatschart: Ja, also, ich denke, dass er einer der wenigen ist, der es schafft, Ökonomie und Politik zusammen zu denken. Das schaffen nicht alle, die sich auf ihn berufen, also, das gehört von vornherein zusammen bei ihm. O-Ton Menke: Und ich glaube, das Interesse, neues Interesse an Marx oder wieder erwachtes Interesse an Marx hängt sehr stark damit zusammen, dass ein bestimmter Diskurs über die Politik sich erschöpft hat; beziehungsweise, dass dessen geheimer Idealismus sich gezeigt hat. Autorin: So sagt es der Frankfurter Philosoph Christoph Menke. - Noch vor wenigen Jahren, so Menke, hing das Gros der Geisteswissenschaftler hierzulande einem Glauben an, der im Zuge der deutschen Wiedervereinigung geboren worden war: dem Glauben an die Allmacht der Politik. O-Ton Menke: Dieser Diskurs über die Politik hat die Politik in den letzten zehn, fünfzehn Jahren so verstanden, dass die Gesellschaft im Ganzen durch einen politischen Akt eingerichtet wird, und dass wir uns erinnern müssen an diese Ursprungstat der politischen Stiftung der Gesellschaft. Und wenn wir das tun, dann können wir alles machen, können wir die Gesellschaft grundsätzlich verändern. Das ordnet in gewisser Weise die Politik der Gesellschaft vor, während man die Marxsche Tradition so verstehen kann, dass sie genau die umgekehrte These vertreten hat: die Politik kommt nach der Gesellschaft, operiert in der Gesellschaft. Zitator 1; Zitat Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort von 1859 Die ökonomische Struktur der Gesellschaft bildet die reale Grundlage, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen in letzter Instanz zu erklären sind. Autorin: Karl Marx im "Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie" von 1859. Wladimir Iljitsch Lenin, begeisterter Marx-Leser und Kopf der russischen Revolution von 1917, hat Marx' Auffassung über das Wesen des bürgerlichen Staates so gedeutet: Zitator 2; Zitat Wladimir Iljitsch Lenin, "Staat und Revolution": Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ der Unterdrückung der einen Klasse durch die andere. O-Ton Menke: Ich glaube, dass ist ein Fehler! Es ist ein Fehler, Marx so zu verstehen, dass die Funktion des Staates für den Kapitalismus darin besteht, dass der Staat ein Instrument im Interesse einer Gruppe oder von Monopolen oder von Einzelnen ist, das ist nicht die Funktion des Staates! Das klingt jetzt vielleicht sehr unmarxistisch, aber ich glaube, dass es Marx so meinte: der Staat hat deshalb eine Funktion für den Kapitalismus, weil er - ich glaube, dass es Marx so meinte - ein basales Regelwerk aufrecht erhält, das zunächst einmal nicht im Interesse Einzelner ist, sondern im Interesse des Allgemeinen, aber des kapitalistischen Allgemeinen ! Autorin: So sieht es Christoph Menke. Lenin dagegen betrachtete den bürgerlichen Staat als einen Sachwalter der besonderen Interessen der Kapitalistenklasse; er meinte, bürgerliche Staatspolitik richte sich grundsätzlich gegen die Interessen der Lohnarbeiter. - Gänzlich ,unmarxistisch' ist dieser Standpunkt nicht. Im "Manifest der Kommunistischen Partei" jedenfalls, dem wohl bekanntesten Klassiker aus der Feder von Karl Marx und Friedrich Engels, findet sich folgender Gedanke: Zitator 1; Zitat: Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei: Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. O-Ton Menke: Ich würde Marx hier in einer anderen Hinsicht widersprechen wollen. Marx analysiert im Wesentlichen, inwiefern es privatrechtliche Verhältnisse - Eigentumsrecht, Vertragsfreiheit - geben muss, damit der Kapitalismus funktioniert. Übersieht dabei, glaube ich, sehr stark - was Mitte des 19. Jahrhunderts nahe liegend war zu übersehen - dass der bürgerliche Staat, der dem Kapitalismus entspricht, viel weitergehende Funktionen für den Kapitalismus erfüllt. Nämlich, er erfüllt die Funktion, überhaupt erstmal arbeitsfähige Subjekte herzustellen: Kultivierung, Bildung, Disziplinierung und so weiter. Denken Sie allein daran, wie viel Geld Schule, Ausbildung, Sozialversicherung, Rente heute auch braucht. Dieser riesige Komplex: das nenne ich Sozialrecht, und dieses Sozialrecht ist zunächst gar nicht weniger funktional für den Kapitalismus wie das Privatrecht, das Marx ausdrücklich analysiert. Autorin: "Sozialrecht": Mitte des 19. Jahrhunderts war dieser Begriff für Staatspolitiker noch ein Fremdwort. Erst am Ende jenes Jahrhunderts sind soziale Rechte für Arbeiter und Angestellte erstmals in Gesetzbüchern festgeschrieben worden. Zum Beispiel hat das Deutsche Reich unter Kanzler Bismarck 1889 die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt, ein Erfolg der politischen Kämpfe von Gewerkschaften und deutscher Sozialdemokratie. - Karl Marx starb sechs Jahre zuvor. Heute ermöglichen soziale Rechte, vom Staat garantiert, den Lohnarbeitern der westlichen Welt eine einigermaßen komfortable Existenz. Was ihr Arbeitsleben betrifft, so ist ihnen die Selbstausbeutung zugunsten privater Unternehmen inzwischen zur zweiten Natur geworden. Mitzustrampeln im Hamsterrad des Kapitalismus ist eine bürgerliche Alltagsgewohnheit. Sie funktioniert unbewusst und selbstverständlich, sagt Christoph Menke: O-Ton Menke: Die bürgerliche Gesellschaft, das hat Marx ernst gemeint, ist die Gesellschaft der Freien, das ist ja das Schlimme! Wenn's die Gesellschaft der Knechte und Sklave wäre, dann wär's gar kein Problem, die Herrschaft zu verstehen. Die bürgerliche Gesellschaft funktioniert anders; sie produziert Herrschaft durch Freiheit, jeder macht freiwillig mit! Und indem alle freiwillig mitmachen, produzieren sie Herrschaft. Das ist, glaube ich, Marx' Ausgangsthese. Und insofern hat er nie gemeint, die Rede von der Freiheit sei eine Illusion. Die Rede von der Freiheit ist die Wirklichkeit, aber es ist eben eine falsche Freiheit. Eine Freiheit, die in ihrer Ausübung genau das Gegenteil, nämlich Herrschaft produziert, aber es ist Herrschaft aus Freiheit ! Musik 6 - Directors Cut: Dramedy, tr. 3 ( ab 0:50); ca. 10 sec. frei stehen lassen, dann wegblenden Autorin: Die soziale Herrschaft der Kapitalistenklasse über die Klasse der Lohnarbeiter ist dem Prinzip ,Ausbeutung' geschuldet. Für den Wissenschaftler Karl Marx ist ,Ausbeutung' keine moralische Kategorie, sondern steht für einen ökonomischen Prozess, der gemeinschaftlich erzeugten Reichtum in Privateigentum von Kapitalisten verwandelt. Allerdings hegt der politische Denker Karl Marx die Vorstellung, dass Lohnarbeiter - immerhin die Masse der Gesellschaft - das Prinzip ,Ausbeutung' nicht ewig hinnehmen würden. Zitator 1; Zitat Karl Marx: Dokumente der internationalen Arbeiterassoziation, 1866 (MEW Bd. 16, S. 195) Das despotische System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital kann verdrängt werden durch das demokratische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten. Wir anerkennen die Kooperativbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwärtigen Gesellschaft, die auf Klassengegensätzen beruht. Autorin: So heißt es in den "Forderungen der Internationalen Arbeiterassoziation", die Marx 1866 formuliert hat. - Offensichtlich ging er davon aus, dass die Lohnarbeiter der Industrieländer die Kapitalisten alsbald aus ihren Kontoren verweisen und die Leitung der Firmen selbst übernehmen würden. O-Ton Haug: "Gesellschaftliche Selbstverwaltung", das ist, was er sich unter Sozialismus denkt. An dieser Stelle ist ein utopischer Rand bei dem Marx. O-Ton Menke: Es ist bei Marx 'ne Utopie, die aber nicht nur einfach ein Wunschdenken war, sondern etwas Realistisches hatte. Er hatte beobachtet, dass im kapitalistischen Produktionsprozess Fähigkeiten hervorgebracht werden, deren bewusste, selbstbewusste Wahrnehmung den Kapitalismus in Frage stellen: es sind Fähigkeiten der gemeinsamen Arbeit. - Und wenn die Arbeiter sich klar machen, dass sie es sind, die durch gemeinsame Arbeit all den Reichtum hervorbringen, nicht nur den Reichtum - der Reichtum ist das eine Problem, die Herrschaft, die Ausbeutung ist das andere Problem - dass sie also die Herrschaft über sie selbst hervorbringen: sobald das gewissermaßen bewusst wird, kann gewissermaßen von da aus die Revolution starten. Die Basis dieser These ist: es sind die produktiven Fähigkeiten der Arbeiter, die ihre eigene Ausbeutung hervorbringen. Zitat Karl Marx/Friedrich Engels : Manifest der Kommunistischen Partei, 1848 Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. - Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Autorin: In Wahrheit ist die kommunistische Revolution à la Karl Marx ausgeblieben. Bis heute. Woran liegt das? O-Ton Haug: Ja, ich sag' ja: an dieser Stelle ist ein utopischer Rand bei dem Marx! O-Ton Menke: Man hat das ja historisch einmal versucht, und das war ja auch eine gute Idee, sei es 1917 oder 1949. Ich glaube aber, dass es einen Grund dafür gibt, dass dieser Gedanke oder diese Idee offensichtlich jetzt nicht die Massen ergreift, um es mal nur ganz vorsichtig zu sagen. Und ich glaube schon, dass das es daran liegt, dass für die Idee, wie es anders sein soll, die Erfahrungsbasis fehlt. Autorin: Den Kommunismus "von oben" zu installieren, durch eine Kaste von Polit-Funktionären mittels Polizei- und Militärgewalt - wie 1917 in Russland geschehen und nach 1945 in den sowjetisch besetzten Gebieten - das war keine Idee von Karl Marx, sondern eine von Lenin. Die Idee eines ,Staatskommunismus' habe es zu Marx' Zeiten in der Arbeiterbewegung auch gegeben, diesem selbst aber sei sie suspekt gewesen, meint Wolfgang Fritz Haug: O-Ton Haug: Er sagt: "Wenn erst Staatskommunismus herrscht, dann schmecken mir nicht einmal die Zigarren mehr! " Und man muss wissen, dass er ein Zigarrenraucher war, das brauchte er sozusagen als Produktionsmittel beim Lesen und Schreiben. Also, davon hielt er gar nichts! O-Ton Flatschart: So einfach, wie sich das der Arbeiterbewegungs-Marxismus gemacht hat, nämlich zu sagen: 'Wir ergreifen einfach die Macht im Staat und dann setzten wir das durch!' wird es offensichtlich nicht gehen. Das ist auch eine Lehre, die man aus der Geschichte ziehen kann, aus dem Scheitern des so genannten Realsozialismus. Autorin: Elmar Flatschart. - Wie sich Marx selbst die kommunistische Zukunft vorgestellt hat, ist im ,Manifest der kommunistischen Partei' nachzulesen: Zitator 1; Zitat Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei: An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Autorin: Poetisch - und eben auch vage formuliert.... O-Ton Haug: Marx' ist eben kein Prophet! Weiter hat er an dieser Stelle nicht gedacht, er hat es abgelehnt, das weiter auszudenken. O-Ton Menke: Und dann gab es immer daneben, gewissermaßen am Rande der Arbeiterbewegung, teilweise in anarchistischen Ideen, die Vorstellung politischer Formen, die haben ,Arbeiter-Assoziation' oder ,Arbeiterräte' geheißen. Aber wenn man das theoretisch liest, das ist alles ziemlich unausgegoren und ...nett! Im Wesentlichen setzt es auf die Nettigkeit der Leute, und mehr liegt nicht auf dem Tisch. Musik 7- Directors Cut: Dramedy, tr. 3 (ab 1:10); ca. 10 sec. frei stehen lassen, dann wegblenden Autorin: Der Kapitalismus lebt. Und er funktioniert heute kaum anders als Karl Marx ihn beschrieben hat. Mit all seinen Gebrechen. Welche Möglichkeiten gibt es, eine kapitalistische Wirtschaftsordnung, die sich offensichtlich weder von selbst überlebt noch durch politische Gewalt abgeschafft werden kann, zu verändern oder menschlicher zu machen? - Elmar Flatschart: O-Ton Flatschart: Und das Problem ist natürlich, dass wir bei Marx selber keine hinreichende Theorie des Politischen oder des Staates haben. Das ist zwar immer angelegt, und es gibt auch einige Frühschriften dazu, aber es ist nicht ausformuliert wie es die Ökonomiekritik ist. Und ich denke, maßgeblich geht es auch darum, dass man nicht nur Marx als solchen liest, sondern man muss auch mit Marx über Marx hinausgehen, also sozusagen auf der Basis seiner Theorie diese Theorie weitertreiben. Autorin: Wolfgang Fritz Haug: O-Ton Haug: Kommen wir noch mal zurück zu der Frage, ob die Belegschaft eines Betriebes ohne Fremdherrschaft durch das Kapital diesen Betrieb führen könnte. Die Antwort ist historisch sehr oft gegeben worden und ist positiv: es gibt ja kleine, selbst verwaltete Betriebe. Ich hab' die Zahl nicht, aber ich nehme an, dass es schon eine sechsstellige Zahl ist von solchen Projekten allein in Deutschland. Es gibt ein Gewimmel von kleinen kooperativen Lebensformen, in denen Menschen ihr Leben vielleicht mehr recht als schlecht fristen, schon weil sie gar nicht mehr von der Mainstream - Ökonomie Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten erhalten. - Es gibt aber noch viel mehr! Es gibt bei uns wichtige ökonomische Akteure, die offenbar nicht nach Kapital-Gesichtspunkten arbeiten. Es gibt zwar inzwischen sehr wenige, aber als ich noch Kind war, war es selbstverständlich, dass die Eisenbahn und die Post nicht gewinnverpflichtet waren; die sollten möglichst wenig Minus machen, aber die waren gemeinschaftsdienlich! Und so war auch die Wasserversorgung, sie war gemeinschaftsdienlich. Der Strom war gemeinschaftsdienlich, und das Krankenhaus war selbstverständlich das städtische Krankenhaus. Inzwischen hat die neoliberale Privatisierungspolitik sehr vieles davon vernichtet, und viele öffentliche Güter sind auf dem Rückzug. Also, Schluss mit der Privatisierung, Rekommunalisierung von Grundversorgungsbetrieben! Und so weiter und so fort. Autorin: Zu den öffentlichen Versorgungsbetrieben zählt Wolfgang Fritz Haug auch die Geldinstitute. Und fordert etwas, das tatsächlich hergebracht ,marxistisch' klingt: Das gesamte Bank- und Kreditwesen sollte verstaatlicht werden, meint Haug mit Blick auf die Bankenkrise der letzten Jahre. O-Ton Haug: Die kaputt gegangenen Banken sind verstaatlicht worden! Und der Steuerzahler darf es blechen, oder: wir dürfen es. Aus dem Gemeinschaftsreichtum, den der Staat verwaltet, wurde das alles bestritten und wird es jetzt weiter bestritten.- Warum nicht dann gleich? Warum eigentlich nur die Verluste, und nicht auch die Gewinne in das Gemeinwesen reinbringen? Das wäre schon ein ganz erheblicher Schritt. Dann würde auch der Druck auf die Politik aufhören. - Aber das ist natürlich eine dumme Formulierung. Denn der Druck auf die Politik ist so, dass keine Regierung das wagen würde, was ich gerade sage. Autorin: Wer wie Haug an Karl Marx geschult ist, macht sich keine Illusionen über die Handlungsspielräume von Staatspolitikern. Auch Elmar Flatschart meint: Der bürgerliche Staat mitsamt seiner Parlaments-Demokratie entspricht grundsätzlich den Interessen der Kapitalwirtschaft. In außerparlamentarischen Protest-Bewegungen wie ,attac' oder ,occupy' sieht Flatschart das kapitalismuskritische Potential der Zukunft: O-Ton Flatschart: Ich denke, das ist tatsächlich eine neue Art von Politik! Nämlich eine Politik, die sich den klassischen politischen Formen von vornherein sperrt. Insofern ist es vielleicht gar keine Politik, es ist Anti-Politik, wie man auch das nennen will, und da liegt ganz bestimmt viel Potential darin. Autorin: Und der Frankfurter Philosoph Christoph Menke: O-Ton Menke: Solange das einzige Modell politischer Assoziation, dass wir haben, der Staat ist - und die einzige Form individueller Freiheit diejenige ist, dass wir, in Konkurrenzverhältnissen stehend, unseren privaten Interessen folgen: solange das die Alternative ist, gibt es keine Alternative. Weil: diese beiden Dinge passen zu gut zusammen! - Es gibt keinen Widerspruch zwischen einem sozialstaatlich orientierten bürgerlichen Staat und dem Kapitalismus. Das ist FDP-Blödsinn, das zu glauben, dass da ein Widerspruch besteht. Die passen zusammen, die brauchen sich! - Insofern ist die eigentliche Frage: Gibt es eine andere politische Form als die staatliche Herrschaft? Musik 1