COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport / 24.3.10 Stressfaktor Schule - Im Weimarer Sophien-Hufelandklinikum Autorin: Ulrike Greim Red.: C. Perez (Nicole)"Hallo" (Lux)"Hallo" Morgens um neun. Die kleine, schmächtige Nicole hat schon lange gefrühstückt, hat dann auf ihren Plan geschaut. Da stand Ergotherapie. (Nicole)"Wie geht es ihnen heute?" (Lux)"Wie guckst denn du? Gut! Dir auch?" "Ja, mir auch" Josefine Lux erwartet sie schon, hat etwas vorbereitet. Das liegt auf dem Fußboden unter zwei Bettlaken versteckt. (Nicole)"Was machen wir heute?" (Lux) "Lass dich überraschen. Was Schönes machen wir." "Nein. Was sie immer schön finden, finde ich blöd. Muss ich mich da wieder drauf legen?" "Nein. Es geht heute ums Fühlen." "Na ok, das geht noch." Sie soll ihre Schuhe und Strümpfe ausziehen, denn hier geht es jetzt barfuss weiter. Ein wenig zögerlich gehorcht das junge Mädchen. Dass Nicole 14 ist, merkt man ihr nicht an. Sie wirkt mädchenhaft, schüchtern inaktiv. Ziemlich dünn. Die Ergotherapeutin verbindet ihr die Augen und deckt den kleinen Parcours auf. Nicole muss ab jetzt vertrauen und fühlen. (Nicole) "iiih. Was ist das denn? Ich glaube, das ist so Folie, die man zerquetschen kann." (Lux) "Gibst du dem Papier einen Namen?" "Blubberblasen" "Wie fühlt sich das denn an?" "Es geht." "Ist das angenehm?" "Also warm und kalt. Köpertemperatur, denke ich mal." Nicole hat schon eine lange Krankengeschichte hinter sich. Und in die Schule wollte sie nicht mehr. Kein Weg führte hinein. Nicht einmal das Wort 'Schule' durfte man in ihrer Gegenwart benutzen. Sie verlor ihren Halt, mit ihm die Kilos. Nun ist sie schon etliche Wochen hier auf der psychosomatischen Kinderstation des Sophien-Hufeland-Klinikums Weimar. Wie etliche andere Kinder, die durch den Stress aus der Bahn geworfen wurden. Stress, der hervorgerufen werden kann durch Angst, so sagt es Oberarzt Klaus Eckart Zillessen. "Das kann einerseits in Leistungsängsten bestehen, dass kann auch in sozialen Ängsten bestehen, sei es abgelehnt werden, oder gemobbt werden, das kann aber durchaus auch personell begründet sein, dass ein Lehrer zum Beispiel mit dem Kind irgendwie nicht zurecht kommt, das Kind irgendwie Angst vor diesem Lehrer hat und kein gemeinsamer Weg zu finden ist." (Nicole) "Was ist das denn? UUUUU. Ich würde sagen Sägespäne" (Lux) "Mhm. Sägespäne? Wie fühlt sich denn Sägespäne an?" "Auch so, wie das..." An der Hand der Therapeutin fühlt sich Nicole Schritt für Schritt durch unbekanntes Terrain. Sie hat einen langen Weg vor sich. Und der heißt: zur Ruhe kommen, sich selbst vertrauen, Hilfe in Anspruch nehmen. Viele Jugendliche kämpfen mit sich selbst, erliegen dem Leistungsstress. Die Klinik hilft, einmal zu verstehen woher das kommt - eigener Stress, überzogene Erwartungen der Lehrer oder eine zu hohe Latte der Schule. (Zillessen) "Es geht dann aber auch natürlich darum, erst einmal wieder in eine Entspannung zu kommen. Wir sehen häufig die Kinder unter ausgeprägter Anspannung, Druck, den sie psychisch haben, der sich dann auch in muskulären Verspannungen äußert. Da ist es ganz häufig so, dass wir dann überhaupt erstmal über eine physiotherapeutische Schiene Entspannung im muskulären Bereich mit den Kindern erarbeiten." Schwimmen, autogenes Training - viele Kinder und Jugendliche können damit erstmals aus dem Dauerstrom heraustreten. Auch Nicole hat einige Zeit gebraucht. Jetzt ist es soweit, ihre Psychotherapeutin Ivonne Hofmann will sie vorbereiten, dass sie nun doch wieder versucht, einen Fuß in eine Schule zu tun. Nicht in ihre, aber in eine. (Hofmann) "Gut. Wir wollen uns ja unterhalten über die Schule heute." (Nicole) "Schule? Ach so." "Dass du von hier aus in die Schule gehst, dass es jetzt soweit ist." "hm" "Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass du es hier probierst. Das heißt: ab Donnerstag wirst Du in die Schule gehen." "Also morgen" "Genau, stimmt, das ist ja schon morgen." "Und wann werd ich dann geweckt früh's?" (Zillessen) "Wir nennen das exposition in vivo. Das heißt: wir exponieren die Kinder einer Schulsituation. Und das immer nur schrittweise. Immer nur soweit, wie sich die Kinder das auch zutrauen." (Hofmann) "Und was denkst du, worauf müsstest Du denn achten?" (Nicole) "Na, meine Kommentare" "Was heißt denn das 'meine Kommentare?" Also ihre Reaktionen. Über die eigene Wahrnehmung die Reaktionen zum Beispiel der Mitschüler einordnen. Die Selbstbezogenheit aufgeben. Ein langer Weg liegt noch vor ihr. Und sie bekommt Hilfe. Die Anerkennung von Schulstress als Krankheitsbild ist ein neues Forschungsfeld in der Psychologie. Hier lernen Patienten und Therapeuten noch gemeinsam. Auch der Kontakt zu den Eltern, die oft ein Teil des Problems sind, weil sie den Anpassungsstress durch ihre Forderungen noch verstärken, muss in diesen Prozess miteinbezogen werden.