COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur 6.4.2008, 0.05 Uhr "Erlenkönig ? vielstimmig" Sprechkunst im 20. Jahrhundert (1 / 2) Von Reinhart Meyer-Kalkus 1. Tonbeispiel: Rauschen von alten Schallplatten, dann hintereinander ohne Übergang Erich Drach, Irma Strunz, Alexander Moissi, Ernst Ginsberg, Otto Sander Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? ? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. ? Sprecher 1: Schon Goethes Zeitgenossen diskutierten darüber, wie die Vielstimmigkeit seiner Ballade zu realisieren sei. Vier Stimmen treten hier auf: Erzähler, Vater, Sohn und Erlkönig. Wie stark müssen die Stimmprofile gegen einander abgesetzt werden? Soll der Sohn mit Kopfstimme gesprochen werden? Und wie der Erlkönig, im Sprechgesang oder geflüstert? Goethe selber hatte dazu keine Empfehlungen hinterlassen, doch waren seine Anschauungen bekannt. Die Vielstimmigkeit literarischer Texte sollte gedämpft werden; nicht das Dramatische der Handlung, oder gar die Virtuosität des Vortragenden, sondern das Poetische des Gedichts und damit das literarische Werk hatten beim Vorlesen und Rezitieren im Vordergrund zu stehen. Als unangemessen erschien Goethe eine theatralisch-dramatisierende Darstellung, bei der sich der Vortragende wie ein Schauspieler auf der Bühne in die dargestellte Figur verwandelt. Als Sprecher-Persona mußte er vielmehr jederzeit erkennbar bleiben und den Text als etwas Drittes vermitteln. Vermischungen dieser Vortrags-Haltungen waren Goethe ein Gräuel, eine Verfehlung gegen den gesellschaftlich jeweils angemessenen Ton, wenn man sich etwa in geselligem Kreis so gebärdete, als stünde man auf dem Theater. In Ton und Haltung musste das Vorlesen anders sein als die rhythmische Rezitation von Gedichten, und diese anders als die Deklamation auf der Bühne. Sprecherin 2: Goethe hatte seine Überlegungen zur literarischen Vortragskunst aus langjähriger Regie- und Intendantentätigkeit am Weimarer Hoftheater gewonnen, wie auch aus eigenen Erfahrungen als Rezitator und Vorleser. Vieles davon hat er in seinem Roman 'Wilhelm Meisters Lehrjahre' und in seinen 'Regeln für Schauspieler' festgehalten. Dieses kleine Regelwerk, das er seinen Schauspielern diktiert hatte und das sein Adlatus Eckermann 1828 herausgegeben hat, prägte Generationen von Schauspielern und Regisseuren, mit der Forderung nach Deutlichkeit und Klarheit der Aussprache, der Vermeidung jeden Dialekts, einer Trennung der Redegattungen und eines metrisch-rhythmisch bewussten Sprechens von Versen. Vermittelt über Bühne und Vortragssaal blieben diese 'Regeln für Schauspieler' bis weit ins 19. Jahrhunderts, ja bis ins 20. Jahrhundert wirkungsmächtig: als Kanon eines klassizistischen Vortragsideals, das dem literarischen Werk und dessen sprachlicher Wiedergabe Priorität einräumte. Wer sich auf die Sprache von Goethe berief, meinte stets auch diese von Goethe verbindlich gemachten Normen einer gebildeten und ästhetisch verfeinerten Aussprache. Sprecher 1: Auch nach 1945 hat es Exponenten eines klassizistischen Vortragsstils geben, die Goethes Empfehlungen umzusetzen versuchten, etwa der Schauspieler Ernst Ginsberg. Ginsberg hatte die Nazi-Diktatur im Schweizer Exil überlebt und wurde 1954 von der Deutschen Grammophon Gesellschaft damit beauftragt, die Sprechplatten-Serie 'Das literarische Archiv' aufzubauen, eine 'akustische Handbibliothek der Weltliteratur'. Von Ginsberg stammen eindrucksvolle Rezitationen und Lesungen, darunter eine 'Erlkönig'-Rezitation aus dem Jahre 1957, die im Studio produziert wurde. 2. Tonbeispiel: Ernst Ginsberg Erlkönig. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? ? Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron? und Schweif? ? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. ? ?Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel? ich mit dir; Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand.? ? Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? ? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. ? ?Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.? ? Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? ? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. ? ?Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch? ich Gewalt.? ? Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! ? Dem Vater grauset?s; er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. Sprecher 1: Mit seiner klaren Diktion, energischen Akzentuierung und sparsam-verdeutlichenden Tonhöhenbewegung gibt Ernst Ginsberg ein gutes Beispiel für die Sprechkultur der 50er Jahre. Die Erlkönig-Stimme spricht Ginsberg als leisen Sprechgesang auf einer einzigen Tonhöhe, zugleich verkleinert er die prosodischen Abstände zwischen den vier Stimmen und dämpft die Vielstimmigkeit zugunsten eines vor allem rhythmisch gebundenen Sprechens. Die durch Metrum und Rhythmus gestiftete formale Einheit des Gedichts soll hervortreten, und damit das tragische Geschehen, das auf der inneren Hörbühne abrollt. Die deutlich gesprochenen daktylischen Verse von Goethes Ballade - "und hörest du nicht" [skandierend gesprochen] - evozieren den nächtlichen Ritt durch eine unheimliche Natur. Besonders auffällig ist neben der Rhythmisierung die starke Akzentuierung sinnbetonter Worte, wie etwa in der letzten Strophe auf 'grauset's', und 'ächzend'. 3. Tonbeispiel: Ernst Ginsberg: Dem Vater grauset?s; er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. Sprecher 1: Solch ein rhythmisiertes, in Lautstärke und Tonhöhenbewegung gedämpftes Sprechen ist charakteristisch für die klassizistische Sprechkunst nach 1945. Man trifft es auch bei anderen Sprechern an, wie Will Quadflieg oder Maria Wimmer. Auch bei Gert Westphal, der den 'Erlkönig' Mitte der 90er Jahre im Studio eingesprochen hat, ist dies noch deutlich zu hören: 4. Tonbeispiel: Gerd Westphal liest den Schluß Dem Vater grauset?s; er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. Sprecher 1: Wie mit starken Pulsschlägen wird Leben in die alten Versen gepumpt, die Zuhörer sollen mit kleinen Stromstößen senso-motorisch affiziert werden. Goethes Texte sind keine abgestandenen Bildungsreminiszenzen, sondern voller Energie und Lebendigkeit. Sie können auch heute noch unmittelbar zu uns sprechen, das will dieser Vortragsstil vermitteln. Sprecherin 2: In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebte die literarische Vortragskunst mit Sprechern wie Erich Ponto, Gustaf Gründgens, Ernst Ginsberg, Will Quadflieg, Käthe Gold, Ewald Balser, Mathias Wieman, Heinz Hilpert, Maria Becker, Maria Wimmer und Gert Westphal eine Blütezeit, die von Rundfunk und Schallplatte gut dokumentiert ist. Darunter finden sich viele, auch heute noch ansprechende und sogar mitreißende Goethe-Rezitationen, wie - um nur einige zu nennen - Erich Pontos Lesung des 'Reineke Fuchs' aus dem Jahre 1949, Max Ophüls Hörspielfassung von Goethes 'Novelle' aus dem Jahr 1953 mit Oskar Werner und Therese Giehse, Gustav Gründgens 'Faust'-Inszenierungen in Düsseldorf und Hamburg, Maria Wimmers 'Iphigenie auf Tauris' und Will Quadfliegs 'Tasso' in Bühnen- und Hörfassungen. Die Ausdrucksskala dieser Aufnahmen ist in der Regel eingeschränkt, Lautstärke und Prosodie bleiben temperiert, und kaum einmal wird geschrien. Für diesen Stil ist zunächst die Aufnahmesituation vor den Studio-Mikrophonen verantwortlich: Hier wäre ein theatralisches Sprechen deplaziert, schon gemäßigte Ausdrucksmittel und eine klare durchrhythmisierte Diktion können große Wirkung erzielen. Verdeutlichende Gesten und heftige Lautgebärden wie sie auf der Theaterbühne erforderlich sind, können vermieden werden. Auch braucht man nicht gleichbleibend laut zu sprechen, wie vor den Trichtern der älteren elektroakustischen Aufnahmegeräte. Was wir heute als eine Art von klassizistischer Sprechkunst in den Tonaufnahmen von Maria Wimmer, Will Quadflieg oder Ernst Ginsberg wahrnehmen, verdankt sich dieser singulären Allianz von neuen aufnahmetechnischen Bedingungen und der Orientierung an den von Goethe sich herleitenden Traditionen literarischer Vortragskunst. Sprecher 1: Mochten auch viele der Schauspieler wie Gründgens, Quadflieg und Wimmer ihre Karriere unter dem Nationalsozialismus begonnen haben, so hat ihre Art des Vortrags doch nichts mit dem Festtagspathos und den bellenden Stimmen der Hitlerzeit zu tun. Im Gegenteil wird die Sprechkunst hier als Bollwerk gegenüber der Barbarei des jüngst Vergangenen beschworen - als Bollwerk zugleich gegen das expressionistische, als übertrieben empfundene Pathos vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Was uns heute an dem emphatisch- bildungsidealistischen Ton eines Quadflieg und eines Mathias Wieman fremd anmutet, wurzelt in solchen historischen Erfahrungszusammenhängen. Allerdings ist diese klassizistische, also an Normen der Goethe-Zeit orientierte Sprechkunst nicht die einzige Stil-Tendenz literarischer Vortragskunst nach 1945 geblieben. Goethes Auffassungen zum Unterschied von Rezitation und dramatischer Deklamation waren schon zu seinen Lebzeiten nicht unwidersprochen geblieben, und schon damals, also um 1820, traten Sprechkünstler wie Carl von Holtei auf, die seine Texte theatralisch dramatisierten und die von Goethe verfochtenen Gattungsgrenzen zwischen Vorlesen und Theater aufhoben. Nicht zufällig verbanden sich damit Züge eines Starkults um die Person des Rezitators, der zur eigentlichen Attraktion der Vortragsabende wurde. Man wollte einen Holtei hören, später einen Josef Kainz und Alexander Moissi und noch später Klaus Kinski und Gert Westphal, und erst in zweiter Linie interessierte, was sie vortrugen. Sprecherin 2: Einer der repräsentativen Theoretiker dieser antiklassizistischen Sprechkunst war Gustav Anton von Seckendorff. In seinen bedeutenden 'Vorlesungen über Deklamation und Mimik' aus dem Jahre 1816 forderte er ganz im Gegensatz zu Goethe eine Musikalisierung und Theatralisierung der Sprechkunst. Diese sollte ein "Konzert auf der Sprachtonleiter (sein), von der leisesten bis zur stärksten Tonschwingung, welche an den Gesangston grenzt". Von Seckendorff sprach von der "deklamatorischen Musik der Sprache". Für Goethes 'Erlkönig' empfahl er eine starke Differenzierung der Stimm-Register: Der Part des Knaben sollte "in steigender Beklommenheit und Angst" gesprochen werden, der des Erlkönigs dagegen "hohl, heimlich, begierdevoll aber anmuthig zugleich." Solche Differenzierungen ließen den Sprechvirtuosen freie Hand. Im 20. Jahrhundert sind es vor allem Künstler aus dem süddeutsch- österreichischen Sprachraum gewesen, die solchen Empfehlungen gefolgt sind, wie Josef Kainz, Alexander Moissi und Fritz Kortner, später dann Klaus Kinski und Oskar Werner. Sprecher 1: Von Alexander Moissi haben wir eine Aufnahme des Erlkönig aus dem Jahr 1927, die repräsentativ für solche antiklassizistische Sprechkunst ist und etwas vom expressionistischen Pathos der Generation vor und nach dem Ersten Weltkrieg vermittelt. Mit 2'48 Minuten viel langsamer als Ernst Ginsberg, differenziert Moissi vor allem im Bereich der Prosodie, also der Sprechmelodien. 5. Tonbeispiel: Alexander Moissi liest Erlkönig integral Sprecher 1: Immer wenn Moissi eine neue Stimme einführt, sei es den Vater, den Sohn oder den Erlkönig, steigt seine Stimme in die Höhe - als ob er mit Franz Schuberts Vertonung des Lieds konkurrieren wollte. Durch Sprechmelodien, steigend-fallende und fallend-steigende Akzente und feinste rhythmische Veränderungen erhalten die vier Stimmen ein jeweils unterschiedliches Profil. Die Verlockungen des Erlkönigs singt Moissi als Sprechgesang im Falsett, also in der Kopfstimme, bei der Gewaltandrohung schwingt die Stimme mit unheimlichem Akzent in die Höhe, wie im Exzeß. Obgleich das grundierende pathetische Tremolo wie aufgesetzt erscheint, gelingt es Moissi, die Formstrukturen der Ballade plastisch herauszuarbeiten und ihren Stimmungsgehalt, das Unheimliche des Ganzen, packend zu vermitteln. Sprecherin 2: Was Alexander Moissis Vortrag heute unzeitgemäß, wenn nicht gar kitschig erscheinen lässt, sind neben den singenden Tonhöhenbewegungen das pathetische Tremolo und das rollende, den Vortrag zersägende 'r'. Beide Stilzüge sind keine Idiosynkrasien, keine Eigentümlichkeiten von Moissi, sondern Kennzeichen einer bis weit in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein schulmäßig vermittelten Sprechkultur. Das rollende 'r' ist eine Art von Erkennungszeichen professioneller Vortragskunst. Seit der Goethe-Zeit wurde es im Gegensatz zum Rachen- 'r' als Mittel verdeutlichenden Sprechens empfohlen und als Aussprachenorm von Schauspielern und Deutschlehrern gepflegt. Allerdings setzte gerade in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein umgangssprachlicher Wandel ein: Das Zäpfchen-oder Rachen- 'r' klang viel weniger aggressiv und war einem lässig-saloppen Umgangston, wie ihn etwa Heinz Rühmann und andere Filmgrößen der 30er Jahre übten, viel angemessener. Diesem sprachästhetischen, von Tonfilm und Popularkultur getragenen Wandel stemmten sich Sprachwissenschaftler und Theaterleute allerdings bewusst entgegen. Sie gaben dem gerollte 'r' weiterhin den Vorzug, aus Gründen von Deutlichkeit und Verständlichkeit der gesprochenen Sprache. Noch 1957 heißt es im 'Siebs', dem Aussprache-Lexikon für die deutsche Hochsprache, dass die Zungenspitzenform des 'r' dem Zäpfchen 'r' vorzuziehen sei. Bis in die Mitte der 60er Jahre ist das gerollte 'r' ein Ausweis professioneller Sprecherziehung geblieben, um erst nach 1968 obsolet zu werden. Seitdem lebt es - wenn man einmal von süddeutschen Dialekten absieht - nur noch in der Parodie weiter. Sprecher 1: Parodien der literarischen Sprechkunst gab es schon um 1930. Erlkönig-Rezitationen waren unter Vortragskünstlern derart populär geworden, dass sie eine komische Verfremdung geradezu herausforderten. So hat der Wiener Schauspieler Arthur Kaps 1930 eine Reihe berühmter Schauspielerkollegen imitiert, wie sie jeweils Goethes 'Erlkönig' vortragen, darunter auch Alexander Moissi. 6. Tonbeispiel: Knaps parodiert Moissi Sprecher 1: Pathetische Stilmittel lassen sich bekanntlich viel leichter komisch verfremden als genuin komische. Moissi wird hier durch seinen Sprechgesang, seine Vokaldehnungen und manieristischen Tonhöhen-Sprünge parodiert. Die 'Erlkönig'-Rezitation ist für Arthur Kaps lediglich Anlass für die Imitation von Sprecherphysiognomien. Es geht um die Wiedererkennung der Schauspieler-Stimmen mit ihren Ticks und Marotten, der literarische Gegenstand wird darüber sekundär. Moissi stand mit seinem Sprechstil unter Vortragskünstlern der 20er Jahre im übrigen keineswegs allein. Etwas von seinem Expressionismus, allerdings noch outrierter oder übertriebener, hört man in der 'Erlkönig'-Aufnahme der Dresdner Sprecherzieherin Irma Strunz aus dem Jahre 1926, die im Berliner Lautarchiv erhalten ist: 7. Tonbeispiel: Irma Strunz ?Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch? ich Gewalt.? ? Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! ? Sprecher 1: Irma Strunz flüstert die Verlockungen des Erlkönigs, bei den Entsetzensrufen des Knaben bricht sie dann in haltloses Brüllen aus. Die Rezitation wird hier zur Bühnendeklamation, die von der klassizistischen Sprechkunst geforderte Trennung der Rede-Gattungen vollends überspielt. Sprecherin 2: An eine solche Pathetisierung à la Irma Strunz oder Alexander Moissi haben nach 1945 nur wenige Rezitatoren anzuknüpfen gewagt. Man hatte wohl noch die wilden Sprecharien und Brüllereien der im Rundfunk übertragenen Parteitagsreden im Ohr und strebte eine versachlichende Diktion an, in der politischen Rede ebenso wie in der literarischen Vortragskunst. Das pathetische Tremolo und das gespannte, stark akzentuierende Sprechen schienen für alle Zeiten diskreditiert, ebenso wie das expressionistische Pathos. Einige Sprachwissenschaftler sind sogar der Auffassung, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Sprechstil öffentlicher Reden generell versachlicht wurde. Pathos werde obsolet, und eine neue Generation versuche sich gegenüber dem historisch jüngst Vergangenen auch in ihrem Sprechverhalten abzugrenzen. Diese Meinung ist gewiss zutreffend, doch modifizierungsbedürftig. Gegenüber den Selbstdeutungen einer Generation als "sachlich" ist ja immer der Verdacht des Selbstmissverständnisses angebracht. Sprecher 1: Nimmt man allein die Goethe-Rezitationen nach 1945, so wird in der Tat erkennbar, dass die wilden Sprechmelodien und dynamischen Akzente eines Alexander Moissi und einer Irma Strunz von der Generation der Ginsberg, Quadflieg, Wieman und Wimmer klassizistisch gedämpft werden. Doch gebrauchen diese Rezitatoren andere Stilmittel, die auf ihre Weise pathetisch wirken. Dank der leistungsfähigeren Mikrophone und Aufzeichnungsgeräte sind akustische Nahaufnahmen möglich, womit sich größere dynamische Differenzierungen und sonore Indizien wie Atmen, Seufzer und Sprechgeräusche einfangen lassen. Die Protagonisten der Sprechkunst der 50er wie ihre Nachfolger in den 90er Jahren haben von diesen Möglichkeiten ausgiebig Gebrauch gemacht. Man höre nur einmal, wie Doris Wolters, eine erfahrene Sprecherin und Rezitatorin, vor wenigen Jahren die Stimme des Knaben gesprochen hat. Das expressive Atmen wird hier zum seufzerartigen Japsen, das die Beklemmung des Knaben hörbar macht: 8. Tonbeispiel: Doris Wolters Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! ? Sprecherin 2: Pathos als das Bewegende, Aufregende und Bestürzende eines Vortrags kann ganz unterschiedlich realisiert werden: auch durch ein Leiser Werden und Nach-innen-Sprechen, ein Innehalten und Verschweigen, ein tiefes Atmen und Seufzen. Jede Generation entwickelt ihre eigenen Pathos-Mittel, in der Sprechkunst ebenso wie in der politischen Rhetorik, und konträr erscheinende Stilmittel können ähnliche Funktionen erfüllen. Sprecher 1: Der Wandel literarischer Vortragskunst lässt sich nicht im Bilde eines Gänsemarschs von sich abfolgenden Stilen erfassen, und es gibt erst recht keine teleologische Stilentwicklung, hier eben sowenig wie in anderen künstlerischen Bereichen. Auch nach 1945 sind Sprechkünstler aufgetreten, die an die wilden Stimmvirtuosen der 20er Jahre anknüpfen und damit der klassizistischen Sprechkunst eine Absage erteilen, so etwa Klaus Kinski, von dem eine Erlkönig-Rezitation aus dem Jahre 1961 erhalten ist: 9. Tonbeispiel: Klaus Kinski ?Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch? ich Gewalt.? ? Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! ? Dem Vater grauset?s; er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. Sprecher 1: Hier hat der Starkult die literarische Vortragskunst eingeholt: Kinski will, dass die Hörer seiner Sprech-Platten erst einmal das Markenzeichen Kinski wiedererkennen, die Rezitation muss deshalb irgendwie exzentrisch sein. So verlangsamt er die Verse wie in Zeitlupe und zerstört damit deren metrisch-rhythmischen Zusammenhang. Den Erlkönig spricht Kinski im Falsett, den Sohn in hoher Kopfstimme, wie um das gefährlich Pathologische, das Kinderschänderische dieser Ballade hervorzuholen. Was das rollende 'r' und das pathetische Tremolo anbelangt, so scheint er unentschieden zu sein, soll er sie als Ausdrucksmittel ernst nehmen oder nicht vielmehr melodramatisch-schauerlich ironisieren. Sprecherin 2: Unter sprechhistorischen Gesichtspunkten haben Kinskis Rezitationen etwas Ambivalentes: Durch Rückgriff auf Mittel der älteren Sprechkunst verfremden sie den Vortrag und machen die Traditionen hörbar, in denen sie stehen. Zugleich opponieren sie gegen die klassizistische Dämpfung der zeitgenössischen Sprechkunst-Kollegen und bringen eine ungeschminkt sexuelle und gefährlich psychotische Dimension ins Spiel, was vor allem bei seinen Lesungen von Büchners 'Lenz' und von Dostojewskij-Texten überzeugend wirkt. Sprecher 1: Ein anderer Vertreter der antiklassizistischen Vortragskunst ist der österreichische Schauspieler Oskar Werner, ein rechtes Fabelwesen auf deutschen Bühnen, in Ton- und Filmstudios. Den 'Erlkönig' hat er im Rahmen eines öffentlichen Rezitationsabends während der Salzburger-Festspiele 1970 vorgetragen. Diese gegenüber der Studio-Aufnahme veränderte Sprechsituation nutzt Werner, um den ganzen Bühnenraum auszuschreiten, ja auszuschreien und die Ballade zur dramatischen Szene zu theatralisieren. 10. Tonbeispiel: Oskar Werner spricht Erlkönig integral Sprecherin 2: Oskar Werner macht die in Goethes Ballade schlummernde humane Katastrophe hörbar. Mit äußerstem vokalen Einsatz bis zum Brüllen markiert er den Höhepunkt des inneren Geschehens zwischen dem Erlkönig und dem fieberkrank delirierenden Sohn, um vor dem letzten Vers eine lange, schier unendliche Generalpause einzulegen, die den Zuhörern einen Schauer über den Rücken jagt: ein Aufhorchen und Innehalten, das ihnen das Außerordentliche dieses Geschehens zu Bewusstein bringt. Werner differenziert die Stimmen nicht durch feststehende Stimmregister oder rhythmisch-prosodische Charakteristika wie Alexander Moissi oder Ernst Ginsberg, sondern dramatisiert die Stimmen von innen heraus. So liegen die drei Stimmen von Vater, Sohn und Erlkönig im Tonhöhenabstand zunächst gar nicht so weit auseinander, um dann allerdings mit dem Fortgang der Ballade immer distinkter zu werden. Der Vater bleibt bei seinen trockenen Allerweltsausflüchten, beim zweiten Male lacht er sogar über die Fiebergespinste seines Sohnes - ein grausames Dokument des Nichtverstehenwollens und der Nichtkommunikation. Man glaubt mit einem Male die familiären Koordinaten zu verstehen, die der Psychose des Sohns zugrunde liegen. Der Erlkönig verwandelt sich von einem fast normal Sprechenden in einen Kinderschänder, der immer eindringlicher spricht, um am Ende in haltloser Erregung zur handgreiflichen Gewalt überzugehen. Der Sohn schließlich erlebt die Gewalttat gegen sich mit allen Zeichen des Schreckens und Entsetzens. Oskar Werner humanisiert die Figuren der Dichtung und lauscht ihnen die unter Konventionen unkenntlich gewordene Menschlichkeit ab. Und er verfügt über die stimmlichen Mittel vom beiläufig lässigen Sprechen bis zum Schreien, um die Ungeheuerlichkeit des Vorgetragenen sinnfällig-hörbar zu machen. Zu dieser wahrhaft unerhörten Rezitationskunst gehören die Eigentümlichkeiten dieser Stimme: ihre oberösterreichische Vokal- und Konsonantenfärbung und die sonderbar manieristisch anmutende Timbrierung. 11. Tonbeispiel: Oskar Werner ?Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.? ? Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? ? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. ? ?Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch? ich Gewalt.? ? Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! ? Dem Vater grauset?s; er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. Sprecherin 2: "Wie machen wir's, dass alles frisch und neu/Und mit Bedeutung auch gefällig sei?" so fragte schon der Theaterdirektor im ?Vorspiel auf dem Theater? in Goethes Faust. Um solchen Ansprüchen an Frische, Neuheit, Bedeutung und Gefälligkeit gerecht zu werden, muss die literarische Vortragskunst zumindest zwei Voraussetzungen erfüllen: Sie muss eine Vortragskonzeption haben, die dem Text "Jetztzeit" abgewinnt und ihn so behandelt, als wäre er eine Antwort auf unsere eigenen Fragen und Sensibilitäten. Die zugrunde liegenden literarischen Texte sind ja ästhetische Formeln, die immer wieder mit neuem Leben erfüllt werden müssen. Zusätzlich benötigt der Vortragskünstler die entsprechenden vokalen Mittel, um seine Konzeption umzusetzen. Sprecher 1: Solche produktiven Prozesse der Interpretation und Aneignung hatte Walter Benjamin wohl im Blick, als er von der ?Jetztzeit? sprach, die jede Gegenwart in einer nur ihr vorbehaltenen Kammer der Vergangenheit findet. Vortragskunst ist Interpretation und Vergegenwärtigung der Texte zugleich, mithin ein Teil der Wirkungsgeschichte von Literatur und Drama. Sie hat ihre eigenen Traditionen und muss in Auseinandersetzung damit immer wieder überraschend wirkende, unabgenutzte Mittel finden, um das Textverständnis und die Vortragskonzeption umzusetzen. Durch Tonfälle und expressive Gesten der heutigen Sprech- und Gefühlskultur sollen die überlieferten Texte zum Klingen gebracht werden. Was machen diese Stimmen in ihnen hörbar, wozu vielleicht nur diese Gegenwart einen Schlüssel besitzt? Nun kann die literarische Vortragskunst die Stimmen der Vergangenheit gewiss nicht wiedererwecken. Anders als in der musikalischen Interpretationspraxis gibt es keine Sprechkunst auf historischen Instrumenten. Hätten wir Tonaufnahmen von Goethes eigenen Rezitationen, so wären wir wahrscheinlich bestürzt über das pathetische Tremolo, die gerollten 'r's' und die singenden Tonhöhenbewegungen, ganz zu schweigen von den Freiheiten, die sich Goethe gegenüber den Texten beim Vorlesen herausnahm. Unsere Sprache hat sich seit der Goethezeit weiterentwickelt und mit ihr sprachästhetische Konventionen der Aussprache und der expressiven Lautgebärden. Was Goethes Zeitgenossen noch als angemessen gewertet hätten, erschiene uns heute unweigerlich als peinlich. Literarische Vortragskunst kann nur immer wieder von neuem versuchen, mit den Stimmen der Lebenden ein Echo auf die verstummten Stimmen der Texte zu wecken. Gelingt dieser Übersetzungsprozess, so wird der Rezitator zum besten Dolmetscher des Autors. Der Schriftsteller Jean Paul hat einmal gemeint, dass "im Dichter die ganze Menschheit zur Besinnung und zur Sprache" komme. Kaum ein wirkungsvolleres Mittel gibt es für solche Besinnung als literarische Vortragskunst. Sprecherin 2: Die Schule des Hamburger Kunsthistorikers Aby Warburg sprach von der "produktiven Auseinandersetzung mit den vorgeprägten Ausdrucksformen" und meinte damit die Rezeptionsprozesse in den Bildenden Künsten: Jeder Künstler hat sich zunächst am Überlieferten abzuarbeiten, um seine eigene Handschrift zu finden. Solche produktive Auseinandersetzung mit vorgeprägten Ausdrucksformen findet auch in der literarischen Vortragskunst statt. Ambitionierte Künstler wie Joseph Kainz, Alexander Moissi oder später Ernst Ginsberg und Gert Westphal gaben sich nicht einfach damit zufrieden, die überlieferten Schultraditionen, Sprechstile und Vortragsarten fortzusetzen, sie strebten vielmehr nach Neuem und Unverwechselbarem. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts müssen sie sich zudem mit den phonographisch gespeicherten Aufnahmen ihrer Vorgänger und Zeitgenossen auseinandersetzen, die als Schallplatten oder seit Ende der Zwanziger Jahre durch das Radio verbreitet werden ? und die auch den Erwartungshorizont des Publikums bestimmen. Sprecher 1: Tatsächlich versteht man Ernst Ginsbergs Vortragskunst wohl nur, wenn man erkennt, in welchem Maße er sich von dem theatralischen Deklamations-Stil abgrenzt, wie er noch in den 20 und 30er Jahren verbindlich war. Solche Auseinandersetzung mit den Traditionen der Sprechkunst kennzeichnet auch die anspruchsvolle literarische Vortragskunst der Gegenwart, von Rezitatoren wie Ulrich Mühe, Walter Schmidinger oder Ulrich Matthes. Sie war auch in den Vortragsabenden des 2005 verstorbenen Schauspielers und Rezitators Eberhard Esche zu spüren, etwa in seinen Goethe-Rezitationen. Esche spricht den Erlkönig mit Kopfstimme und setzt dagegen den Sohn mit realistisch anmutendem Brustregister - jenes ist Einbildung, dieses dagegen Wirklichkeit, so scheint er zu suggerieren. Indem er mit metrisch-leierndem Vortrag das um Korrektheit bemühte Gedichtaufsagen in der Schule imitiert, verfremdet Esche den literarischen Vortrag: 12. Tonbeispiel: Eberhard Esche Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? ? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. ? ?Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.? ? Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? ? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. ? Sprecherin 2: Wie bei vergleichbaren Verfremdungen im modernen Regie-Theater weiß man nicht so recht, ob Esche mit seinem kindlich-debilen Tonfall den Text eher an unsere Erfahrungs- und Gefühlswelt annähert, oder ob er ihn nicht vielmehr in seinem tragischen Gehalt bagatellisiert. Unverkennbar aber ist das Bemühen, sich mit den Konventionen der überlieferten Sprechkunst auseinanderzusetzen und eine eigene Vortragskonzeption daraus zu entwickeln. Sprecher 1: Fast will es unfair erscheinen, an diesen Standards anspruchvoller literarischer Vortragskunst die 'Erlkönig'-Rezitation des ehemaligen Schaubühnen-Schauspielers Otto Sander aus dem Jahr 2000 zu messen. Ist es doch die ultimative 'Low fat'-Version dessen, wie man Goethes Ballade vortragen kann. Hat man die anderen Beispiele im Ohr, ist man etwas ratlos gegenüber diesem Nullpunkt der Sprechkunst. 13. Tonbeispiel: Otto Sander Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? ? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. ? ?Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.? ? Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? ? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. ? ?Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch? ich Gewalt.? ? Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! ? Dem Vater grauset?s; er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. Sprecher 1: Zwar ist Otto Sanders Aussprache einigermaßen korrekt, doch kann man weder eine eigene Vortragskonzeption noch eine eigene Textinterpretation erkennen. Nach der Hälfte des Gedichts ist dieser Sprecher schon gelangweilt, und geschäftsmäßig wickelt er den Rest der Ballade ab, so wie Hunderte von anderen Texten auch. Die Vielstimmigkeit der Ballade ist ? verglichen mit Ginsberg - noch um ein weiteres zurückgenommen, Tempo und Lautstärke werden nicht weiter differenziert, das Geschehen entdramatisiert. Stattdessen scheint das Ganze vom Vertrauen getragen, dass die anheimelnd verschnupfte Baßstimme schon ihren Weg zum Publikum findet. Sprecherin 2: Diese Entdifferenzierung all dessen, was Sprechkunst in Deutschland einmal ausgemacht hat, lässt sich wohl nur mit ökonomischen Interessen erklären: Rezitation als Hintergrundgeräusch bei alltäglichen Verrichtungen oder zum Einschlafen. Sanders Vortragsweise kommt einer zerstreuten Rezeptionsweise entgegen, die für Audio-books heute üblich geworden ist. In einem Wagen auf der Autobahn fahrend und Alexander Moissi oder Oskar Werner lauschend, könnten wir uns in einen anderen Zustand versetzt fühlen und die Selbstkontrolle verlieren. Nicht so bei Otto Sander. Ohne uns weiter durch Affekte zu belästigen, bietet er den Text mit beruhigender Raspelstimme zum unmittelbaren Konsum. Die Energien, die in klassischen Texten schlummern, werden neutralisiert. Sprecher 1: Vertraut man den Jahresberichten des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, so sind Hörbücher ein kräftig expandierendes Segment im Warenkorb. Viele Bücher kommen inzwischen gleichzeitig mit ihrer Hörfassung auf den Markt, und alle Textsorten sind im Audiobook-Sortiment vertreten. Sprecher wie Christian Brückner, Harry Rowohlt, Rufus Beck und Ulrich Matthes haben eine eigene Hörgemeinde gefunden. Im Sog dieses Booms werden auch alte Schätze der Sprechkunst aus dem Schlummer der Tonarchiven geholt und wieder aufgelegt. Tatsächlich können wir auf ein umfangreiches Archiv von Sprechkunst-Aufzeichnungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgreifen, auf 100 Jahre Schallaufnahmen, die im deutschen Raum in Wien 1901 mit der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach begonnen haben, bevor auch die Stimmen von Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und von anderen Schriftstellern aufgezeichnet wurden. Bis 1933 und dann wieder ab 1947 unternahmen die Rundfunkanstalten Aufzeichnungen von Autoren-Lesungen und Rezitationen von Schauspielern. Kaum ein namhafter deutschsprachiger Schriftsteller nach 1945, der nicht eine Tonspur in den Rundfunkarchiven hinterlassen hat. So verfügen wir über Mitschnitte von Lesungen von Thomas Mann, Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann, Paul Celan und anderer Autoren, denen sich in den letzten Jahren große Vorlesezyklen professioneller Rezitatoren wie Gert Westphal, Peter Wapnewski, Christian Brückner, Ulrich Matthes, Wolfram Berger und anderer zur Seite stellen. Sprecherin 2: Befinden wir uns schon auf dem Weg zu neuem Analphabetismus, wie manche Kulturkritiker meinen? Hören wir lieber jemanden lesen, statt selber zu lesen? Für den Literaturwissenschaftler, der sich mit den Praktiken des Vorlesens, Deklamierens und Rezitierens von Texten seit der Goethezeit beschäftigt, ist ein anderer Gesichtspunkt von Interesse: die auffällige Diskrepanz zwischen diesem Boom akustischer Literaturrezeption und unserer Unfähigkeit, angemessene analytische Begriffe zu finden, um das, was wir hören, auch zu beschreiben, historisch einzuordnen und ästhetisch zu bewerten. So sind wir etwa unfähig, die verschiedenen Gattungen der Sprechkünste - Vorlesen, Rezitieren und Deklamieren - zu unterscheiden, oder etwas zur Angemessenheit bestimmter Vortragsstile gegenüber einem Text zu sagen, oder auch nur die sprech- und stimmtechnischen Voraussetzungen einer Lesung zu benennen. Uns fehlt alle Handhabe, um den Vortragsstil eines Gert Westphal treffend zu charakterisieren oder den neuen Ton von Peter Steins legendärem Schaubühnen-Ensemble der 70 und 80er Jahre zu bestimmen. Bei vielen Zuhörern von Sprechkunst reduziert sich die Reaktion auf das Geschmacksurteil: "Das macht mich an!" oder "Das lässt mich kalt!" - Reaktionen, die mehr über die Sprachlosigkeit der Zuhörer aussagen als über die Sache selber. Wir müssen uns eingestehen, dass wir analphabetische Hörer geworden sind, weil uns Begriffe fehlen, um das Gehörte in seiner Vielschichtigkeit zu beschreiben. Solange wir aber keine Begriffe haben, hören wir nicht - oder hören nicht, was wir hören könnten, wenn wir entsprechende Kategorien und historische Kenntnisse besäßen. Sprecher 1: Um Beispiele historischer Vortragskunst wie Alexander Moissis oder Ernst Ginsbergs Rezitation zu verstehen, muss man hören lernen, wiederholt den Aufnahmen lauschen und sie mit anderen Aufnahmen vergleichen. Nur so wird man sich über den Fremdheitsschock hinwegsetzen und die Besonderheit der Sprecher, ihres Textverständnisses, ihrer Vortragskonzeption und vokalen Ausdrucksmittel erkennen. Unverzichtbar ist aber auch ein Blick auf die schriftlichen Äußerungen, Selbstdeutungen, Theaterkritiken, literarischen Echos und andere Texte, von denen die Sprechkunst seit der Goethezeit begleitet wird. Geht man dem nach, so stößt man auf ein ganzes Archiv von Beschreibungen, wie jeweils vorgelesen, deklamiert und rezitiert wurde, sowohl bei Autorenlesungen als auch bei Lesungen professioneller Rezitatoren und von Laien, nicht zuletzt bei der Theaterdeklamation. 14. Tonbeispiel: Kurz collagierte Passagen aus dem Erlkönig Sprecherin 2: Zu lange haben Literaturwissenschaftler lediglich nach der Schriftlichkeit der Texte gefragt und dabei übersehen, in welchem Maße die Praktiken des Vorlesens und Rezitierens das Nachdenken der Autoren stimuliert haben, in welchem Maße sie Texte sogar im Hinblick auf die Vorlesbarkeit verfasst haben. Kaum ein Schriftsteller von Lessing bis Thomas Mann, bei dem man nicht fündig würde. Der Germanist und Publizist Lothar Müller hat dies kürzlich in seinem Buch 'Die zweite Stimme' im Hinblick auf Franz Kafka nachgezeichnet. Kafka liebte nicht nur selber vorzulesen, sondern hat eine Fülle von Überlegungen zum Vorlesen und zur Theaterdiktion hinterlassen. Solche schriftlichen Dokumente entschädigen uns in gewisser Weise dafür, dass wir ? wie in Kafkas Fall ? bis heute keine phonographischen Stimmaufzeichnungen gefunden haben. Sprecher 1: Viele Gründe mögen für die Sprachlosigkeit gegenüber der Sprechkunst verantwortlich sein, einmal der Niedergang des Ansehens der Sprecherziehung als Teil der Deutschlehrer- und Schauspielererziehung, dann das Verstummen großer Sprechkunst im Ausstrahlungsgebiet des Regietheaters und schließlich die methodische Neuorientierung der Theaterwissenschaft am Leitfaden des Körpers und der Körpersemiotik. Die Ästhetik des Performativen, wie sie heute unter Theaterwissenschaftlern en vogue ist, thematisiert zwar die Stimme, nicht aber das Sprechen. Wer heute nach Konzepten für die literarische Vortragskunst fragt, sieht sich an verstreute Ansätze der Vergangenheit verwiesen, einerseits an Autoren des russischen Formalismus, die die Vortragskunst als eigene Kunstform bestimmt haben, parallel zur Deklamationspraxis zeitgenössischer Dichter wie Majakowskij und Block. Sodann wird man an das verwiesen, was man die Sprechkunstbewegung nennen könnte, also jener Diskussionszusammenhang von der Goethezeit bis Mitte des 20. Jahrhunderts, der in der Sprecherziehung der 50 und 60er Jahre noch ein spätes Echo gefunden hat. Hier wurden die Praktiken der Deklamation, Rezitation und Vorlesung als eigene Kunstform entwickelt und theoretische Konzepte dafür geprägt. Ästhetiker, Sprecherzieher und nicht zuletzt Autoren (wie Lessing, Moritz, Goethe und Tieck) haben zentrale Kategorien der Sprechkunst entfaltet, etwa zum Unterschied der Redegattungen, zur Charakterisierungskunst und Musikalität der Sprechkunst, zum Verhältnis von Wort und Gestik und von Deklamation und Mimik. Schließlich wurde eine eigene Theorie des Vorlesens als Kunst des gemäßigten Ausdrucks entwickelt, die sich heute wie eine vorweggenommene Poetik des Hörbuchs liest. Sprecherin 2: Wer nun glaubt, er könne seine Analysekategorien aus diesen Diskussionen einfach schwarz auf weiß nach Hause tragen, der sieht sich getäuscht. Es gibt keine Theorie der Sprechkunst, an die man heute, unter veränderten Bedingungen medialer Vermittlung, ohne weiteres anknüpfen könnte. Näher betrachtet wird man erkennen, dass die Konzepte des russischen Formalismus und der deutschen Sprechkunstbewegung nicht komplex genug sind, um der Vielschichtigkeit des Gegenstandes gerecht zu werden. Stets wird nur ein Parameter in den Vordergrund gestellt - sei es Akzent, Rhythmus oder Prosodie, und die Fülle der ko-varianten Faktoren darüber vernachlässigt. So ist man auf eine eklektische Synthese von Aspekten angewiesen, die aus ganz unterschiedlichen Bereichen stammen, aus Linguistik, Sprechkunde, Literatur-, Medien- und Musikwissenschaft, um ein Raster für die Koordinaten der Sprechkunst zu entwickeln. Sprecher 1: Goethe hat das Vorlesen literarischer Texte einmal mit einer Zeichnung im Unterschied zum vollendeten Gemälde verglichen. Nur durch leichte Umrisse und einen an wenigen Stellen gesteigerten Ausdruck würden "Einbildungskraft und Gefühle" der Zuhörer geweckt. Auf traumwandlerische Weise folge dann das innere Ohr dem Rhythmus des Vorgetragenen, so dass ein Gleichklang zwischen dem Rhythmus der Stimme und der Bilder- und Vorstellungsfolge entstehe. Das Vorlesen dramatischer Texte erschien Goethe nicht nur als Hilfsmittel bei Proben oder als Ersatz für Theater-Aufführungen. Es war für ihn vielmehr eine originäre Kunstform, die geeignet ist, die Einbildungskraft des Zuhörers auf besondere Weise anzusprechen: Durchs lebendige Wort wirke Shakespeare und dies lasse sich durchs Vorlesen am besten erfahren, schreibt Goethe in 'Shakespeare und kein Ende!' von 1815. "Der Hörer wird nicht zerstreut, weder durch schickliche noch unschickliche Darstellung. Es gibt keinen höhern Genuß und keinen reinern, als sich mit geschloßnen Augen durch eine natürlich richtige Stimme ein Shakespearesches Stück nicht deklamieren, sondern rezitieren zu lassen. ... Wir erfahren die Wahrheit des Lebens und wissen nicht wie." Sprecherin 2: Das Vorlesen ist geeignet, die Imagination des Zuhörers "stufenweise in Bewegung" zu setzen. Auf der inneren Hörbühne sehen wir dann die Ereignisse an uns vorbeiziehen und vernehmen für jede Gestalt und jedes Gefühl eine eigene Stimme. Shakespeare arbeitet nach Goethe nur scheinbar "für unsre Augen; aber wir sind getäuscht. Shakespeares Werke sind nicht für die Augen des Leibes. ... Das Auge mag wohl der klarste Sinn genannt werden, durch den die leichteste Überlieferung möglich ist. Aber der innere Sinn ist noch klärer, und zu ihm gelangt die höchste und schnellste Überlieferung durchs Wort: denn dieses ist eigentlich fruchtbringend, wenn das, was wir durchs Auge auffassen, an und für sich fremd und keineswegs so tiefwirkend vor uns steht." Dies ist eine Apologie der Phantasie stiftenden Kraft des Wortes, an die gerade in Zeiten des Iconic turn, also der verstärkten Hinwendung zum Bild in den Geisteswissenschaften zu erinnern ist. Sprecher 1: Das Vorlesen war für Goethe auch der Prüfstein für einen angemessenen Vortrag, ob es sich nun um lyrische, epische oder dramatische Texte handelt: "Auf der Recitation ruht alle Declamation und Mimik. Da nun bei'm Vorlesen jene ganz allein zu beachten und zu üben ist, so wird offenbar, daß Vorlesungen die Schule des Wahren und Natürlichen bleiben müssen." Vorlesen setzt ein genaues Textverständnis voraus. Was nicht verstanden ist, kann nicht durch äußere Aktionen oder die "Eigenstellung" des Vortragenden überspielt werden. Goethe empfiehlt das Vorlesen deshalb nicht nur für Schauspieler und professionelle Rezitatoren: "Wie man von jedem Musikus verlange, daß er, bis auf einen gewissen Grad, vom Blatte spielen könne, so solle auch jeder Schauspieler, ja jeder wohlerzogene Mensch, sich üben, vom Blatte zu lesen, einem Drama, einem Gedicht, einer Erzählung sogleich ihren Charakter abzugewinnen, und sie mit Fertigkeit vorzutragen", heißt es einmal in 'Wilhelm Meisters Lehrjahren'. Von dieser utopischen Bildungsvorstellung sind wir nun freilich weit entfernt, eben deshalb mag die Erinnerung daran willkommen sein. 15. Tonbeispiel: Ausklang collagierte Passagen Bibliographische Hinweise Teil I Reinhart Meyer-Kalkus: Koordinaten literarischer Vortragskunst. Goethe-Rezitationen im 20. Jahrhundert, in: Gabriele Leupold und Katharina Raabe (Hg.): In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst, Göttingen 2008, S.150-198. Reinhart Meyer-Kalkus: Auch eine Poetik des Hörbuchs. Goethes Empfehlung des Vorlesens, in: Paragrana, 16/2007, S.36-43. Johann Wolfgang von Goethe: Regeln für Schauspieler, in: Sämtliche Werke, Bd.18, hg. Friedmar Apel, Frankfurt 1998, S.857-883. Gustav Anton von Seckendorff, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, Bd.1, Braunschweig 1816. Helmut de Boor und Paul Diels (Hg.), Siebs: Deutsche Hochsprache. Bühnenaussprache. 16., völlig neubearbeitete Auflage, Berlin 1957. 7