COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur - Nachspiel 4.5.2008 Im Laufrausch Wenn Sport zur Sucht wird Redaktion: Jörg Degenhardt Autorin: Stefanie Müller-Frank Musik 1 kurz freistehen lassen, dann unterlegen O-Ton 1 Naily Ich habe angefangen mit Sit-Ups, ich hatte einen Home-Trainer zu Hause, so ein Ergometer, da war ich halt ständig drauf, erstmal nur eine halbe Stunde am Tag, dann eine Stunde am Stück, dann ein paar Mal am Tag, dann die Treppen rauf und runter gerannt, ich bin in meinem Zimmer rumgehüpft, habe rumgetanzt, bin immer zu Fuß gegangen bis ans andere Ende der Stadt: Ich war ständig in Bewegung. (3, 6.13) O-Ton 2 S. Ich habe ehrlich gesagt ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal nicht auf dem Laufband bin. (001, 5.33) Ich kann da am besten abschalten, habe da meine Musik, und dann ist man auch irgendwo anders. Man gerät dann in so einen Lauftunnel. (001, 4.40) O-Ton 3 Hassan Na klar, das ist eine Wahnsinnsdisziplin. Jedes Mal regelmäßig hierher kommen. (...) Ohne Scheiß jetzt: Das ist eine Sucht. Bei mir ist es schon zur Sucht geworden und da nimmt man sich halt die Zeit. Da lässt man ein paar Sachen weg und nimmt sich halt die Zeit für Fitness. (006, 5.55) O-Ton 4 Naily Ich konnte auch nicht schlafen, weil ich solche Panik vor der Waage hatte. (...) Und wenn ich dann am nächsten Morgen gesehen habe: Ja, ich habe abgenommen, dann habe ich mir gedacht: Jetzt noch mehr. Heute machst Du wieder das volle Pensum. (03, 12.45) Musik 1 endet hart mit Ende O-Ton Sprecher Es begab sich im Jahr 490 vor Christus, dass das griechische Heer in der Bucht von Marathon die große Übermacht der Perser schlug. Von Ehrgeiz gepackt, als Erster von der Schlacht zu künden, lief ein griechischer Soldat ohne Pause die knapp 40 Kilometer von Marathon bis nach Athen. Wo ihm gerade noch die Luft blieb auszurufen: "Wir haben gesiegt!". Dann brach er auf der Stelle tot zusammen. Sein Kraftakt aber ging als erster Marathonlauf in die Geschichte ein. Autorin Marathonläufe sind heute so beliebt wie nie zuvor - der historische Botenbericht ist längst als Legende entlarvt. Im Jahr 2008 weist Deutschland die weltweit höchste Marathondichte auf: Von 15 Städten mit über 500.000 Einwohnern bieten allein 13 diese Herausforderung an. Joschka Fischer hat es im ersten rot-grünen Wahlkampf vorgemacht: Wer Sport treibt, bleibt nicht nur gesund, sondern erntet auch Anerkennung. Für seine schlanke Figur, einen gestählten Körper, die eiserne Disziplin. Sich immer wieder neue Ziele setzen, die eigene Leistungsfähigkeit steigern, über seine Grenzen gehen - wer sich dem Sport stellt, davon sind wir überzeugt, der nimmt auch andere Hürden. Atmo 1 Herzschlag steigend Autorin Immer mehr Menschen verlieren dabei jedoch das Gespür für das Maß an Bewegung, das ihrem Körper gut tut. Sie rennen, radeln, skaten bis zur totalen Erschöpfung. Sie trainieren nicht für einen Marathon, kämpfen nicht um Rekorde - sondern gegen den eigenen Körper: Wenn jedes Gramm Fett sofort wieder verbrannt werden muss, jede freie Minute zum Sport genutzt, ja der gesamte Tagesablauf nur noch um das Training herum geplant ist, dann kann Sport zur Sucht werden. Atmo 2 Ergometer Autorin Vor zwei Jahren, in der elften Klasse, hat Naily mit Kalorienzählen angefangen. Dann ging alles sehr schnell: Eine Diät nach der anderen, dann nur noch ein Apfel am Tag, schließlich gar nichts mehr. Und als ihr Gewicht trotzdem nicht weiter runtergehen wollte, musste das Laufen nachhelfen. O-Ton 5 Naily Weil ich abnehmen wollte. Ich habe immer nur an Kalorien gedacht: Und ich habe gerade einen Kaugummi gegessen, den muss ich ja jetzt verbrennen, also bin ich erstmal eine Stunde gelaufen. (03, 7:00) Autorin Heute hat die 19-Jährige drei Klinikaufenthalte hinter sich, sechs Monate betreutes Wohnen - und viele Therapiegespräche. Vor zwei Wochen ist Naily aus der therapeutisch betreuten Mädchen-WG ausgezogen. Aufrecht sitzt die Abiturientin auf ihrem Stuhl, die Beine übereinander geschlagen, ihre Hände liegen ruhig im Schoß. O-Ton 6 Nailiy In der Schule, das war sehr schwierig für mich, da zu sitzen. Ich habe da trotzdem immer so Übungen gemacht: Zum Beispiel die Bauchmuskeln angespannt oder die Beine hochgehoben. Und in der Pause immer nur gestanden, habe rumgezappelt. (03, 7.13) Autorin Auch nach der Schule hat sie nie gelernt, ohne sich dabei zu bewegen. Wie das ging? Naily lächelt schüchtern. Ganz einfach: Zettel in die Hand, Treppe rauf, Treppe runter. Hauptsache: Nie still sitzen. Musik 1 unter Autorentext hochkommen lassen O-Ton 7 Naily Wenn ich mich mit meinen Freunden treffen wollte, dann sind wir meistens in die Disko gegangen. Disko bedeutet Tanzen bedeutet Sport. Also wenn's mir total schlecht ging, bin ich trotzdem mitgegangen. Weil ich musste tanzen, ich musste Sport machen, ich musste abnehmen. (03, 9.51) Autorin Den Freunden ist das nicht aufgefallen - und wenn doch, hat sie sich rausgeredet. Dass der Sport ihr gut tut, ein guter Ausgleich ist. Dagegen kann niemand was sagen. O-Ton 8 Naily Ich habe mich psychisch gut gefühlt, weil ich gewusst habe, morgen wiege ich weniger. Aber körperlich war ich danach eigentlich immer relativ am Ende. (03, 11.50) Autorin Ob ihr das Tanzen, Schwimmen, Laufen auch mal Spaß gemacht hat? Naily zieht langsam die Schultern hoch und schaut verlegen auf den Boden. Eigentlich nicht, sagt sie. Aber es musste halt sein. O-Ton 9 Naily Bevor ich zum ersten Mal in die Klink gekommen bin, bin ich immer geschwommen. Jeden Tag 50 Bahnen. Ich habe nicht wirklich mitgezählt, ich habe nur auf die Uhr geschaut, dass es ja eine Stunde ist. (...) Und montags hatte das Schwimmbad immer zu, und ich bin da einmal hingegangen, ohne es gewusst zu haben und dann war das der totale Zusammenbruch für mich, dass ich da jetzt nicht schwimmen kann. Und dann bin ich nachts zum Sportplatz und bin erstmal eine halbe Stunde gelaufen. (03, 8.10) Musik 1 auslaufen lassen Autorin Andreas Schnebel nickt. Er ist der therapeutische Leiter von ANAD, einer Beratungsstelle für Essstörungen in München, die auch die WG betreut, in der Naily gewohnt hat. Vielen Sportsüchtigen, sagt Schnebel, geht es eigentlich gar nicht um den Sport. Sie arbeiten ein sich selbst auferlegtes Pensum ab - meistens alleine, und bis zur völligen Erschöpfung. O-Ton 10 Andreas Schnebel Das Thema ist wirklich dieses fast Besessene oder Zwanghafte: Dass es wirklich sein muss. Und dass häufig auch, wenn Sie mit diesen Menschen reden, die erzählen Ihnen nicht, wie schön das Frühlingserwachen ist und was man alles sieht, wenn man an der Isar joggt, sondern die haben wirklich nur sehr eingeengt diese 20 Kilometer, oder was da jetzt runtergelaufen werden muss, im Kopf. (1, 8.41) Atmo 4 Herzschlag Autorin Wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich betroffen sind, dazu gibt es bislang nur Schätzungen, sagt Jürgen Beckmann, Professor für Sportpsychologie an der TU München. Das liegt daran, dass Sportsucht nicht als eigene medizinische Diagnose gilt. Bislang zumindest nicht. O-Ton 11 Jürgen Beckmann Die Zahlen werden wahrscheinlich steigen, obwohl genaue Zahlen in diesem Bereich sehr schwer einzuschätzen sind, weil es natürlich eine sehr große Dunkelziffer gibt, eben weil Sporttreiben - und sogar exzessives Sporttreiben - eben nicht unbedingt mit Sucht gleichgesetzt wird und das Ganze erst dann auffällig wird, wenn es zu diesen Problemen im sozialen oder beruflichen Bereich kommt. (1, 2.35) Autorin Denn irgendwann wird alles - der Job, die Freunde, Familie - dem Training untergeordnet. Selbst die eigene Gesundheit. Man muss sich einfach bewegen, egal wie sehr die Knie schmerzen oder das Herz rast. Im Gegenteil: Je erschöpfter der Körper ist, umso mehr hat man sich ja gefordert. O-Ton 12 Jürgen Beckmann Ursprünglich waren es mal sehr stark Männer, die im Ausdauerbereich betroffen waren. Altersgruppen konnte man da eigentlich weniger eingrenzen. Jetzt haben wir aber offensichtlich einen Trend, dass mehr Frauen, und auch jüngere Frauen, betroffen sind. Das hängt zum Teil dann auch damit zusammen, dass wir eine Kopplung der Sportsucht mit Essstörung haben. Und davon sind ja in erster Linie jüngere Frauen betroffen. (2, 9.35) Autorin Sport als schnellstes und sicherstes Mittel, um abzunehmen: Immer häufiger tritt Sportsucht in Verbindung mit Bulimie oder Magersucht auf. Gerade unter ehrgeizigen, intelligenten jungen Frauen, die sich selbst beweisen wollen, dass sie ihren Körper unter Kontrolle haben. Atmo 6 Stoppuhr Autorin Der ständige Kampf um das vermeintliche Idealgewicht - gegen den eigenen Körper, davon sind auch Leistungssportler betroffen. Vor allem in besonders ästhetischen Sportarten wie Eiskunstlauf, Tanzen und Turnen, in Ausdauersportarten, und natürlich in allen Sportarten mit Gewichtsklassen. Symptomatisch dafür war nicht nur die Abmagerungsdebatte bei den Skispringern. Es hat auch schon Todesfälle gegeben: Bahne Rabe, Olympiasieger im Rudern, führte 1988 in Seoul als Schlagmann den deutschen Achter zur Goldmedaille. 2001 starb er an einer Lungenentzündung, weil sein Körper durchs Abnehmen so geschwächt war, dass er die sportliche Belastung nicht mehr ausgehalten hatte. Musik 2 kurz freistehen lassen, dann unter Autorin legen Autorin Trotzdem: Die Formel "fit und schlank gleich erfolgreich und sexy" hält sich hartnäckig. Diese Gleichung klingt deshalb so verlockend, weil sie suggeriert, dass ein toller Körper glücklich macht - und dass jeder dieses Glück selbst in der Hand hat. O-Ton 13 Jürgen Beckmann Man hat sich bislang immer sehr schwer getan mit dem Thema Sportsucht, weil Sport als solches natürlich in der Gesellschaft sehr positiv bewertet wird. (...) Aber dass es eben auch diesen negativen Effekt haben könnte, wurde dabei natürlich nicht gesehen. (1, 1.20) Autorin Problematisch wird es, wenn das Selbstwertgefühl allein von einem durch Sport gestählten Körper abhängt. Als Einstiegsdroge, meint der Sportpsychologe Jürgen Beckmann, fungiert dabei häufig das Fitnessstudio. Bodyshaping, Bodystyling, Bodybuilding - die eigene Figur in Idealform zu trimmen, das entspricht nicht nur dem Körperkult, sondern auch dem Leistungsgedanken unserer Zeit. Und nicht selten wird mit unerlaubten Mitteln nachgeholfen. Atmo 7 Fitnessstudio Autorin Die Fitnessstudios bedienen natürlich diesen Wunsch nach einem perfekten Körper, meint Andreas Schnebel. Über fünf Millionen Mitglieder sorgten im vergangenen Jahr für 2,67 Milliarden Euro Umsatz - ein Plus von 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr. O-Ton 14 Andreas Schnebel Ich denke, dass mit der ganzen Fitnesswelle die Zahl natürlich gestiegen ist. Man spricht ja auch in Fitnessstudios von sogenannten "permanent residents" - also Leuten, die täglich und viele Stunden da sind und sozusagen zum Inventar gehören. Und es wird ja auch in den Fitnessstudios zum Teil propagiert und ist ja dann auch erstmal was Positives. (1, 14.40) Atmo 8 Display einstellen Autorin Mittwochabend, kurz vor fünf: S. stellt ihre Wasserflasche neben das Laufband, gibt Geschwindigkeit und Minutenzahl ins Display ein und steckt sich die Kopfhörer des MP3-Players ins Ohr. Musik 3 hart einsetzen und Atmo 9 Laufband Autorin Das Band ruckt an, die 29-Jährige läuft automatisch los. O-Ton 15 S. Es ist das Gefühl, ich muss mich bewegen. Weil ich arbeite im Büro und dann sitze ich den ganzen Tag und dann muss ich mich einfach bewegen. (001, 10.20) Autorin S. lächelt entspannt, ihr Nasenpiercing wippt im Rhythmus ihrer Laufschritte. Direkt nach Feierabend aufs Laufband, das klingt nach ganz schön viel Selbstdisziplin. O-Ton 16 S. Für mich nicht. Mich kostet es auch keine Überwindung. Klar, für andere schon, die neu anfangen. Ich habe auch mit 20 Minuten angefangen, dann 30, dann 40 und habe mich gesteigert. Und jetzt manchmal nach einer Stunde will ich schon gar nicht mehr runter. Aber ich zwinge mich dann runter, damit ich auch Krafttraining mache oder andere Ausdauergeräte. (I, 001, 4.20) Musik 3 nochmal kurz aufziehen Autorin Seit sieben Jahren geht die Verwaltungsangestellte regelmäßig ins Fitnessstudio. Unter der Woche immer direkt nach dem Job, am Samstag und Sonntag frühmorgens, nach dem Aufstehen. Nur ohne Musik geht's nicht. Eigentlich hört sie am liebsten Soul und RnB, aber fürs Laufen hat das zu wenig Tempo. O-Ton 17 S. Auf dem Laufband habe ich doch lieber eher Techno und so weiter, weil das spornt doch schon mehr an als wenn dann so langsamer Soul und RnB kommt. Dann wird man auch langsamer im Schritt. Ein Trainer meinte zu mir: Mach mal ganz ohne Musik, aber dann geht's gar nicht. Ich brauche die Musik, um irgendwie so in meinen Tunnel reinzukommen. (II, 002, 4.07) Atmo 10 Laufband steigert sich Autorin Das Laufband wird schneller, S. gerät kaum aus der Puste. Die 29-Jährige schaut konzentriert geradeaus in den Wandspiegel, vor dem sechs Laufbänder aufgereiht nebeneinander stehen. Eine zweite S., braungebrannt, in türkisfarbenem Top und schwarzer Sporthose, joggt ihr direkt entgegen, trotzdem: Sie scheint sich selbst im Spiegel nicht zu sehen. O-Ton 18 S. Endorphine werden frei geschüttet und ich kann wirklich abschalten. Auf der Arbeit ist im Moment viel Stress. (...) Und hier stehst Du drauf und denkst einfach gar nichts. Denkst nicht an die Termine, nicht an die Telefonate, denkst nicht an morgen, denkst nicht: Was ziehst du morgen wieder an? Nein, man ist drauf und ist mit sich selbst beschäftigt. So nach dem Motto: Das schaffst du jetzt noch, das Stück. (II, 004, 6.20) Autorin Der tote Punkt, sagt S., kommt so nach einer Stunde, mal erst nach anderthalb. Aber genau dann, wenn du das Gefühl hast, du kannst nicht mehr, es geht einfach nicht mehr - dann wird alles plötzlich ganz leicht. Es durchströmt dich so ein Glücksgefühl, dass du nie mehr aufhören willst mit Laufen. Musik 4 hart einsetzen Autorin Das berühmte "Runner's High": Jeder Langstreckenläufer kennt diesen Laufrausch. Und viele glauben, dass Endorphine diesen Zustand auslösen. Endorphine sind opium-ähnliche Stoffe, die das Gehirn ausschüttet. Körpereigene Schmerzmittel, die einen Läufer jenseits der 30 Kilometer davor schützen, in Ohnmacht zu fallen. Musik 4 nochmal aufziehen Autorin In der Forschung war diese Endorphin-Hypothese bislang allerdings umstritten, denn ein Beweis dafür konnte nie erbracht werden. Erst vor kurzem, im März 2008, ist es einer Forschergruppe aus Nuklearmedizinern und Neurologen von der Universität Bonn und der TU München gelungen, diese Theorie tatsächlich zu belegen. Dass der Laufrausch süchtig macht, daran glaubt der Sportpsychologe Jürgen Beckmann trotzdem nicht: O-Ton 21 Jürgen Beckman Denn Endorphine werden ja normalerweise nur ab einer sehr starken körperlichen Anstrengung ausgeschüttet: Man geht immer so davon aus 4 Millimol Laktatgrenze - das ist also ein Belastungswert, den erreicht der Durchschnittsbürger vielleicht nach 45 Minuten, einer Stunde laufen. Und da kommen die meisten Menschen mit Problemen erstmal gar nicht hin. (002, 1.40) Autorin Und selbst wenn - Jürgen Beckmann hält die Botenstoffe Dopamin und Serotonin für entscheidender. Während Serotonin beruhigend wirkt, erzeugt Dopamin ein Belohnungserlebnis. Jeder, der Sport macht, kennt das: Man ist erschöpft, aber zufrieden, ja stolz und denkt nicht mehr an die Probleme zu Hause oder im Job. Wogegen nichts einzuwenden ist, meint Beckmann, solange der Sport nicht zur Flucht wird. Atmo 11 Herzschlag (fallend) Autorin Denn so wie Junkies müssen auch Sportsüchtige ihre Dosis ständig erhöhen: Noch fünf Kilometer mehr, noch zwanzig Kilo drauf, nochmal zehn Minuten länger auf dem Laufband. Wie bei jeder anderen Sucht, sagt Jürgen Beckmann, kommt es sonst zu Entzugserscheinungen. Atmo 12 Hintergrund Fitnessstudio Autorin Sechs Uhr im Fitnessstudio. S. hat sich schnell frische Sachen angezogen, sie hat einen eigenen Mietschrank hier. Jetzt wartet die junge Frau an der Theke auf Janis, ihren Trainer, nippt an einem Eiweißdrink mit Erdbeer-Kokos-Geschmack. Alle paar Wochen erstellen die beiden gemeinsam einen neuen Fitnessplan. Atmo 13 Begrüßung S. und Janis Autorin Janis empfiehlt ihr, nicht so viel Ausdauertraining zu machen, und stattdessen mehr Krafttraining. Vor allem soll sie auch mal einen Tag pausieren. S. nickt folgsam, dann muss sie grinsen und zieht leicht verlegen die Schultern hoch. Janis hat ihr das wohl schon öfters geraten. O-Ton 22 S. Gut, er sagt auch immer noch, dass ich nicht so oft da sein soll. (lacht) Aber das kann ich irgendwie nicht so beeinflussen, weil ich doch kommen möchte, weil es schon so eine Art Sucht ist, würde ich sagen. (001, 9.14) Autorin Dauert die Arbeit mal länger, dann trainiert sie eben erst später. Das Fitnessstudio hat schließlich rund um die Uhr geöffnet. Und wenn mal was dazwischen kommt? O-Ton 23 S. Nein, ich kann das schon so einrichten, dass ich immer hierher kommen kann. (001, 6.40) Ich habe ehrlich gesagt ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal nicht auf dem Laufband bin. Weil ich das dann einfach vermisse. (001, 5.33) Autorin S. kennt die meisten Leute hier - ebenso wie die Geräte. Neuen Mitgliedern erklärt sie auch mal, wie man zum Beispiel einen Schluck Wasser trinkt, ohne das Laufband ausstellen zu müssen. O-Ton 24 S. Es ist wie eine Familie. Also es ist schon familiär. Man kennt viele vom Tresen einfach, die Trainer kennt man, die Leute. Man hat seine Freunde hier, man kann's wirklich als Familie schon bezeichnen. (001, 7.30) Autorin Janis, ihr Trainer, sieht das mit Sorge. Er versucht den Mitgliedern zu erklären, dass der Körper nur in den Ruhephasen Muskeln aufbaut, zu viel Training also kontraproduktiv ist. O-Ton 25 Janis Glöden Man kann reden, aber man merkt, dass man da gegen eine Wand redet. Dann probieren wir, da zumindest ein wenig zu steuern. Das heiß, man hört sich an, warum sie das macht oder was sie da erreichen will, und probiert es wenigstens in bestimmte Richtungen zu lenken, um den Schaden in Grenzen zu halten. (002, 0.42) Autorin Neben seinem Job als Trainer studiert der 25-Jährige Sportprävention und Gesundheitsmanagement. Bevor er einen Trainingsplan erstellt, kontrolliert er routinemäßig Gewicht, Blutdruck und Körperfett und bespricht gemeinsam das Trainingsziel. Immer wieder erlebt er allerdings, dass sich die Leute nicht an den Plan halten - und übers Ziel hinausschießen. Atmo 14 Echolot Autorin Aber wie kommt es, das immer mehr Menschen das Gefühl für ihren eigenen Körper verlieren und sich bis zur Erschöpfung verausgaben? Der Irrtum liegt in der Überzeugung, dass Sport zu treiben per se einen erholsamen Effekt hat, meint der Professor für Sportpsychologie an der TU München, Jürgen Beckmann. Eine Überzeugung, die gerade bei Managern in Führungspositionen anzutreffen ist, die im Sport einen Ausgleich zu ihrem Berufsalltag suchen: O-Ton 26 Jürgen Beckmann Weil die Vorstellung besteht: Wenn du dich von deinem stressigen Job erholen willst, dann musst du Sport treiben. Und da gibt's dann die abenteuerlichsten Formen, wie Leute glauben, dass sie sich jetzt von ihrem stressigen Job erholen können. Also wir haben in einem Fall zum Beispiel jemanden gehabt, ein Top- Manager, der immer bis nachts um eins gearbeitet hat und sich dann sagte: Ich muss Sport treiben, damit ich für meinen Job fit bin und morgens um fünf den Neoprenanzug angezogen hat und durch einen Fluss geschwommen ist erstmal eine Stunde, bevor er dann in den Job gefahren ist. Bei dem war es so: Der wunderte sich dann, dass seine allgemeine Leistungsfähigkeit immer weiter runter ging. (2, 16.20) Autorin Jürgen Beckmann erstellt so genannte "Erholungs- Belastungs-Bilanzen" mit dem Ziel, das individuelle Pensum an Sport herauszufinden, das der Person gut tut - und sie nicht zusätzlich unter Stress setzt. O-Ton 27 Jürgen Beckmann Es macht keinen Sinn, wenn jetzt jemand sagt: Tennis zu spielen ist für mich eine erholende Aktivität, aber durch den vereinbarten Tennistermin kommt er selbst wieder in Stress, telefoniert noch, wenn er auf den Platz geht, mit irgendeinem Geschäftspartner - auch dann kommt es nicht zu einem erholenden Effekt, weil er nie ankommt im Tennis. (2, 21.10) Autorin Martin Dewald schüttelt energisch den Kopf, lacht und widerspricht. Alles nur eine Frage von Organisation, meint der 58-Jährige: O-Ton 28 Martin Dewald Ich arbeite unheimlich gern, ich arbeite unheimlich viel. Mir ist es auch völlig egal, welcher Wochentag, Feiertag und welche Uhrzeit. Die Zeit zum Sport muss man, ich sowieso, einkämmen. Das ist ein Thema von Organisation, von Flexibilität. Man kann auch an der Bushaltestelle trainieren, indem man einfach sich auf die Zehenspitzen stellt und die Wadenmuskulatur trainiert. (001, 1.10) Atmo 15 Sprung ins Wasser Autorin Martin Dewald leitet die Generalagentur einer großen Versicherung in Berlin. Jeden Tag steht er zwischen fünf und sechs Uhr auf, geht erstmal eine Stunde laufen oder schwimmen - je nach Jahreszeit. Und nach einem 12 bis 14-stündigen Arbeitstag folgt dann der zweite Teil: Tennis oder Klettern, Karate oder Surfen. Außerdem ist der große, drahtige Mann Triathlon-Seniorenmeister von Sachsen-Anhalt. O-Ton 29 Martin Dewald Zwischendurch mache ich noch ein paar Liegestützen im Büro, wenn's zu langweilig wird. Oder gehe auf Händen übern Flur. Zeige ich Ihnen anschließend. (..) Wie viele Stunden das sind? Keine Ahnung. Aber ich brauche bloß 4-5 Stunden Schlaf. (001, 3.10) Atmo 16 Sprung ins Wasser O-Ton 30 Jürgen Beckmann Das sind vor allem diejenigen, die ihren beruflichen Stress auch auf den Sportbereich übertragen. Das heißt also: Statt jetzt Sport als Ausgleichsmaßnahme zu nehmen, wo man an der frischen Luft einfach die Bewegung genießt, wird daraus wieder der berufliche Wettbewerb gemacht: Ich will jetzt den anderen zeigen, dass ich besser bin. (2, 2.20) Autorin Martin Dewald findet diesen Leistungsgedanken nicht verwerflich. Letztlich ist Sport doch competition, sich messen wollen - ob mit anderen oder mit sich selbst. Warum werden denn so viele Pulsuhren verkauft, fragt er und lacht herausfordernd. O-Ton 31 Martin Dewald Klar müssen Pausen sein, ist gar keine Frage. Ist immer nur die Frage, ab wann höre ich auf meinen Körper und sage: Ich bin schlapp, ich muss sofort beenden. Oder man sagt sich: Ich bin zwar schlapp, aber ich beende gar nicht. Nun gerade gar nicht. Und genau in dem Wissen darum, wenn ich mich jetzt durchquäle, es dann anschließend wieder besser wird, in diesem Wissen kann man sich dann auch durch Täler quälen. Und das ist, glaube ich, auch eine ganz wichtige Erfahrung fürs Leben zu sagen: Ich bin zwar vermeintlich am Ende - egal wobei, und wenn's finanziell ist. Aber wenn ich richtig will, bin ich eigentlich nicht am Ende. Ich hole das wieder auf, ich kriege das wieder hin, ich muss nur richtig wollen. Und im Sport kann man's gut lernen. (002, 4.04) Autorin Diese Erfahrung beschreibt auch die Kanurennsportlerin Birgit Fischer, Deutschlands erfolgreichste Olympionikin überhaupt: O-Ton 32 Birgit Fischer Man muss bis an Grenzen gehen und es gibt immer auch Trainingseinheiten, wo man diese körperliche Grenze überschreitet. Auch wenn ich dann schon völlig erschöpft bin, dann setze ich beim Paddeln eben noch eine Strecke drauf. (002, 2.30) Musik 5 schon unter O-Ton einblenden Autorin Trotzdem gelten Leistungssportler nicht als sportsüchtig - auch wenn sie sieben Tagen die Woche viele Stunden täglich trainieren. Denn sie arbeiten auf ein konkretes Ziel hin: Zu gewinnen. O-Ton 33 Birgit Fischer Ich denke, wenn man Wettkämpfe gerne fährt, ja sich überhaupt gerne dem Leistungstest stellt, sich gerne mit anderen misst, kann das eine Sucht sein im Sinne von: Ich will gewinnen, ich will mich mit der Konkurrenz messen. Ich würde das jetzt aber nicht Sucht nennen, sondern eine logische Schlussfolgerung, die ein Leistungssportler hat, wenn er trainiert. Dass er auch genau diese Wettkämpfe machen will. (002, 3.55) Autorin Leistungssportler haben ein bestimmtes Ziel und vor allem: einen klar definierten Trainingsplan, in dem auch die Pausen verzeichnet sind. Das unterscheidet sie von Sportsüchtigen, sagt Jürgen Beckmann, denn die haben immer das Gefühl, nie genug zu machen. Aber wird nicht auch der Druck von außen immer größer - ob Leistungssport oder nicht? O-Ton 34 Birgit Fischer Ich denke, dass es mehr geworden ist. (..) Man guckt immer nach vorne, setzt sich ständig Ziele in allen Lebensbereichen. Die Kinder werden natürlich auch von Anfang an dazu gebracht, sich immer klarer zu definieren und Ziele zu setzen und da kann schon mal verloren gehen, dass das Leben nicht nur aus Zielen besteht, sondern ab und zu auch aus sich zurücknehmen. (005, 0.40) Atmo 17 Kraftraum Autorin Janis streift durch den Kraftraum, nickt drei jungen Männern zu, die Gewichte stemmen. Besser gesagt: Einer pumpt, die anderen beiden sitzen auf ihren Bänken und versuchen, den Kumpel mit Sprüchen aus dem Konzept zu bringen. Kalter Schweißgeruch liegt in der Luft. O-Ton 35 Janis Glöden Es fängt sehr früh an. (..) Es ist sehr auffällig, dass die immer früher fragen: Ja, was kann man denn noch machen? Und wie kann ich denn noch schneller Muskulatur erhalten? (..) Jetzt kommen halt 14, 15- Jährige, die mich sehen und sagen: Ich will jetzt so aussehen wie du. Und denen muss ich dann klarmachen, dass ich seit zehn Jahren Krafttraining mache und probiere, das denen zu erklären. Verstehen tut's in dem Fall keiner. (006, 5.14) Atmo 18 Gewichte stemmen O-Ton 36 Hassan Wer schön sein will, muss leiden. (lacht) Macht mir aber nichts aus. Macht Spaß. Wird halt nach einer Weile zur Sucht. Klar. Nach einer Weile will man immer mehr. Oder bei manchen, die übergewichtig sind, immer weniger. Du kannst jeden hier fragen: Jeder hier hat bestimmt die Sucht schon. (006, 4.03) Autorin Hassan kommt seit vier Jahren ins Fitnessstudio. Sein Muskelshirt gibt den Blick frei auf braungebrannte, muskelbepackte Arme und Schultern. Am Anfang, sagt der 18-Jährige, war er jeden Tag hier, musste erstmal richtig abnehmen. Seit er auf Masse trainiert, also nicht mehr an den Ausdauergeräten, sondern mit Gewichten, hat der Abiturient sein Pensum runtergesetzt auf fünfmal die Woche. Auf Rat von Janis. Der junge Mann grinst. O-Ton 37 Hassan Na klar, das ist eine Wahnsinnsdisziplin. Jedes Mal regelmäßig hierher kommen. (...) Ohne Scheiß jetzt: Das ist eine Sucht. Bei mir ist es schon zur Sucht geworden und da nimmt man sich halt die Zeit. Da lässt man ein paar Sachen weg und nimmt sich halt die Zeit für Fitness. (006, 5.55) Atmo 19 Gewichte ablegen Autorin Was er weglässt? Hassan wirft sich ein Handtuch um den Hals, schaut sich verschwörerisch im Kraftraum um und schlägt dann die dunklen Augen auf: O-Ton 38 Hassan Was ich weglasse? Viel Unterricht. Also ich mache mehr Sport als Unterricht, muss ich zugeben. Aber das soll nicht mein Lehrer hören. (006, 5.50) Autorin So durchtrainiert, wie der junge Mann aussieht, könnte man meinen, dass er sein Ziel bald erreicht hat. Der Trainer ist da skeptisch. O-Ton 39 Janis Glöden Also es gibt niemanden, den wir jetzt in die Richtung Sucht schieben würden, der sagt, er will in fünf Monaten zehn Kilo weniger wiegen zum Beispiel. Dieses Ziel haben die nicht. Weil wenn die in fünf Monaten so etwas erreicht hätten, dann ist es auf jeden Fall nicht genug. (008, 2.15) Musik 6 unter Autorin einblenden Autorin Birgit Fischer wird im Sommer nicht nach Peking fahren. Anfang 2008 hat die Kanutin mit 46 Jahren ihren Abschied vom Leistungssport bekannt gegeben. Dass sie über einen Zeitraum von 25 Jahren sportliche Höchstleistungen erbringen konnte, sagt sie, war nur möglich, weil sie immer auch Pausen eingelegt hat. O-Ton 40 Birgit Fischer Also wenn ich mir über Jahre nicht immer wieder meine Ruheoasen genommen hätte, dann wäre das auch nicht gut gegangen die vielen Jahre. Und wenn ich heute hier sitze und körperlich unversehrt bin, also der Leistungssport keine Spuren an meinem Körper und meiner Seele hinterlassen hat, dann ist es glaube ich auch deshalb, weil ich einfach auch es geschafft habe, vernünftig zu trainieren. (005, 0.50) Atmo 20 Metallbolzen Autorin Hassan hantiert an den Gewichten und lässt den Metallbolzen einrasten: Noch mal zehn Kilo drauf. Grinsend zieht er die Schultern hoch, dann stemmt er weiter. O-Ton 41 Hassan Ich will mehr. (lacht) Kann nicht aufhören. Bestimmtes Ziel hat man nie. Ne, gibt's nicht. Man macht soviel, wie es geht. (006, 4.40) Musik 6 kurz aufziehen und ausblenden 19