COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 7. Mai 2007, 19.30 Uhr Die Schülerfeuerwehr - Wie Konfliktlotsen an Schulen Streit schlichten Eine Sendung von Brigitte Schulz Atmo: Schule (kurz frei, unter O-Töne legen, hochziehen) 1. O-Ton (Mädchen) Halt, Stopp, auseinander. Meistens sagen wir das auch ein bisschen lauter und dann erschrecken die sich meistens auch ein bisschen und dann versuchen wir, sie zu beruhigen. 2. O-Ton (Ortrud Hagedorn) Ich habe Konfliktlotsen ausgebildet und dann gemerkt, dass da ein irrer Bedarf ist, Konflikte zu regeln von Schülern für Schüler. 3. O-Ton (Luzie Haller) Ich habe nie auch nur einen Tag gezweifelt, dass das funktioniert, das funktioniert so gut, das ist so wirkungsvoll. Auch die Konfliktlotsen selbst, die sind am Anfang immer sehr kritisch und meinen, das haut doch nicht hin und die hören doch nicht auf zu kloppen, nur weil ich das sage, Sie haben es gehört, es funktioniert. Atmo Kinder, Schule, Klingeln Spr. vom Dienst Die Schülerfeuerwehr - Wie Konfliktlotsen an Schulen Streit schlichten Eine Sendung von Brigitte Schulz 4. O-Ton (Mädchen) Ich helfe halt gerne und ich kannte auch die anderen Konfliktlotsen, und ich fand es immer toll, wie die Streite lösen konnten und das hilft einem auch selbst im Leben weiter, zu Hause, wenn man Probleme hat oder so, dass man nicht gleich einen anderen mit Worten beschimpft. Sprecherin Birkengrundschule, Berlin-Spandau. Zehn Konfliktlotsen vermitteln hier zwischen den Schülern, acht der Streitschlichter sind Mädchen. Im Turmzimmer der Schule treffen sie sich zur Lagebesprechung ? hier schlichten sie auch die Konflikte. Die meisten Streitigkeiten entstehen in den Pausen auf dem Schulhof: 5. O-Ton (Mädchen) Meistens sind es Ausdrücke, die sie sich gegenseitig an den Kopf werfen, dann geht das immer so weiter, und dann entwickelt sich das dann oft leider auch zu Prügeleien. Sprecherin In der Birkengrundschule greifen die Konfliktlotsinnen direkt in den gewalttätigen Streit ein. 6. O-Ton (Mädchen) Wenn da jetzt zwei Personen beteiligt sind, gehen meisten zwei Konfliktlotsen dazwischen und wir achten halt darauf, dass wir ihnen nicht an den Kapuzen ziehen oder die eine geht halt mit dem einen hin und beruhigt den und das macht der andere Konfliktlotse halt mit der anderen Person, dann suchen wir eben eine entsprechende gute Lösung zu finden. Sprecherin Entwickelt hat das Konfliktlotsenmodell 1993 die Berliner Lehrerin Ortrud Hagedorn. Sie reagierte damit auf die zunehmende Gewalt an deutschen Schulen. Ihr Konzept ?Schüler schlichten für Schüler? basiert auf Forschungsergebnissen: Kinder und Jugendliche lernen von Gleichaltrigen viel mehr über Verhalten und Grundeinstellungen als von Erwachsenen. Ortrud Hagedorn: 7. O-Ton (Ortrud Hagedorn) Es gibt natürlich Kinder, die wenden sich nicht so vertrauensvoll an Erwachsene, aber sie haben leichten Zugang zu Altersgleichen. Sie sprechen die Sprache der Jugendlichen, sie kennen auch die Nöte, es gibt auch Dinge, die entgehen den Erwachsenen, also es gibt Vieles, was so verdeckt ist oder was auf dem Schulweg passiert und das kriegen Konfliktlotsen eher mit. Sprecherin Vor fast 15 Jahren begann Ortrud Hagedorn, Schüler und Lehrer im so genannten Berliner Konfliktlotsenmodell auszubilden. In all den Jahren hat sie erfahren, dass es auch an sozialen Brennpunkten funktioniert: zum Beispiel an Hauptschulen mit einem hohen Migrantenanteil: 8. O-Ton (Ortrud Hagedorn) Wir müssen sehen; dass wir unter den Konfliktlotsen repräsentativ Schüler haben wie beim Arche Noah Prinzip, zwei Polen, einen Russe, zwei Türken, einen Araber. Es gibt auch Hauptschulen, da sind große kräftige Jungs, die lernen dazwischen zu gehen und sagen: ?Auseinander!? und: ?Schau mir in die Augen!? Aber es gibt auch welche, die sagen: ?Wissen Sie, Frau Hagedorn, ich bin Kurde und wenn ich sage, gib mir Messer, dann gibt mir Messer.? Er meint, weil er Kurde ist, deshalb gibt man ihm Messer. Er empfindet, dass er das Vertrauen der Mitschüler so weit genießt, dass sie ihm das aushändigen. Und das kriegen die Lehrer gar nicht mit, der wird ihm das irgendwann beim Nachhauseweg wiedergeben und sagen:? Lass das weg! Nicht in der Schule!? Sprecherin Das Berliner Konfliktlotsenmodell ist eine Bewegung von unten: Ortrud Hagedorn hat es mit Schülern zusammen entwickelt und an deren Sprache und Verhaltenskodex angepasst. Die Direktoren einer jeden Schule entscheiden selbst, ob sie es einsetzen oder nicht. Und sinnvoll ist es nur, wenn Schulleitung und Lehrer dahinter stehen und die Konfliktlotsen unterstützen. Auch werden mit diesem Modell nur die Konflikte in Angriff genommen, die in der Schule oder auf dem Nachhauseweg eskalieren. Durch das Konfliktlotsenmodell kann Gewalt zwar eingedämmt und das Schulklima erheblich verbessert werden ? ein Allheilmittel ist es aber nicht. Die Lehrerin Luzie Haller beobachtet, dass vor allem Jungen oft sehr brutal sind: 9. O-Ton (Luzie Haller) Wenn ein Opfer am Boden liegt, muss genug sein und da stelle ich fest, ist es oft nicht genug. Da wird oft einfach nachgetreten. Das Gefühl von Schmerz und wie gebrechlich ein menschlicher Körper ist, das ist nicht verankert, dass ein Knochen einfach splittert und bricht, wenn man mit dem Absatz auf die Rippe drauftritt, dass die einfach bricht und dass drunter Organe liegen, also ganz banale körperliche Erfahrungen oder sensible Vorwegnahmen finden oft bei Jungs nicht mehr statt. Sprecherin Luzie Haller ist Lehrerin an der Birkengrundschule in Berlin. Sie geht davon aus, dass die meisten Gründe für die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen außerhalb des schulischen Bereichs liegen. So weiß sie, dass viele ihrer Schüler schon einige Zeit vor dem Fernseher verbracht haben, wenn sie die Schule betreten. Zwei Drittel kommen, ohne gefrühstückt zu haben und ihr Proviant reicht nicht aus, um den Hunger für den ganzen Tag zu stillen. Die Folge: Sie sind unkonzentriert und gereizt. Einen weiteren Grund für aufgestaute Aggressionen vermutet Luzie Haller in mangelnder Bewegung der Kinder und Jugendlichen am Nachmittag. Die Polizei führt keine gesonderte Statistik über die Gewaltdelikte, die an Schulen begangen werden. Doch fest steht: Allein bei den 14- bis 18-Jährigen hat sich die Zahl der Gewalttaten in den letzten zwölf Jahren mehr als verdoppelt. Als Konflikte und Brutalität an der Birkengrundschule überhand nahmen, wollte Luzie Haller etwas dagegen tun. Sie machte eine Fortbildung bei Ortrud Hagedorn und begann 1996, die ersten Konfliktlotsen an ihrer Schule auszubilden. Die lernten auch, den Anlass eines jeden Konflikts zu ergründen: 10. O-Ton (Luzie Haller) Die häufigsten Streitpunkte sind Missverständnisse, ganz banal: Missverständnisse, üble Unterstellungen, Missinterpretationen zum eigenen Nachteil, das ist etwas ganz Häufiges dass man dem anderen unterstellt, er meine es böse mit einem, und aus dieser irrigen Annahme heraus wird gehandelt. Ich würde sagen, das sind Minimum 90 Prozent aller Konfliktfälle, die wir hier haben. Wir haben es ganz wenig zu tun mit Diebstahl, Sachen entwenden oder so ne Dinge, aber Missverständnisse und die danach erfolgte Tat ist eigentlich unser Geschäft. Sprecherin Ein Beispiel: Zwei Jungen finden auf dem Schulhof einen Ball und beginnen, mit ihm zu spielen. Das sieht der Besitzer des Balls, der ihn seit einiger Zeit vermisst. Ohne zu fragen, beschuldigt er die Jungen, sein Eigentum gestohlen zu haben. Die sehen ihre Ehre verletzt und der Streit nimmt seinen Lauf. Dieser Konflikt auf dem Fußballplatz ist kein Einzelfall, wissen die Konfliktlotsinnen: 11. O-Ton (Mädchen) Das war, da hatten Jungs und die haben Fußball gespielt, es ging drum, dass ein Junge einem anderen Jungen den Ball weggenommen hat, obwohl der nur zum Tor hinspielen wollte, aber der andere wurde da geschubst und hat sich da angegriffen gefühlt dann hat der mit einem Fuß getreten, ist gegen den Fuß gekommen und da war der schon richtig sauer, hat den halt angespuckt und so ging das so weiter. Die meisten Streite, die ich jetzt habe, sind wirklich nur da, wo der Fußballplatz ist, also es ist wie im richtigen Fußballleben, wenn man so im Fernsehen sieht, da beschimpfen die sich ja auch so richtig doll. Sprecherin Nachdem die Konfliktlotsen die Streithähne getrennt haben, beginnt die eigentliche Schlichtung: die Mediation. Die Mädchen nehmen darin die Rolle von Mittlerinnen zwischen den einzelnen Parteien ein: Ortrud Hagedorn: 12. O-Ton ( Ortrud Hagedorn) Mediation ist Vermittlung in Konflikten, es ist auch eine Hilfe, fair zu streiten, es ist eine Hilfe, hart zu verhandeln: alles, was die Menschen nicht ganz alleine hinkriegen. Manches ist eben so verhärtet oder schiefgelaufen, dass sie gut damit bedient sind, wenn jemand mitkommt, der nicht da reinverwickelt ist und da wieder rauswickelt. Sprecherin Das Besondere an der Mediation: Die Teilnahme ist freiwillig, die Gespräche sind präzise und vergleichsweise kurz. Es gelten klare Regeln, die den Beteiligten vorher mitgeteilt werden: Sie müssen verschwiegen sein, den anderen ausreden lassen, dürfen nicht beleidigen und natürlich nicht schlagen. Die Konfliktlotsen müssen unparteiisch sein. Wichtig ist nicht die Frage: Wer ist schuld? Sondern: Was ist passiert? 13. O-Ton (Mädchen) Zuerst reden wir über Ihre Probleme, erst einmal der eine und dann der andere, dann müssen wir spiegeln, d.h. die Meinung, die der eine Streitpartner gesagt hat, die muss man wiederholen, der Konfliktlotse, damit man es richtig verstanden hat. Sie erzählen uns etwas und das geben wir ihnen wieder, dass sie auch wissen, dass wir ihnen auch wirklich gut zugehört haben. Dann sagen wir aber auch zum Schluss, was würdest du dir denn von dem wünschen, dann sagt der seinen Wunsch und dann fragen wir den anderen Streitpartner. Dann kommt meistens, dass er mich nicht mehr schlägt oder dass der keine Ausdrücke mehr sagt, und dass er mich auch mal mitspielen lässt. Und dann schließen wir zum Schluss auch einen Vertrag ab, dass sie damit einverstanden sind, über unsere Lösung, die wir gefunden haben, von ihrem Streit. Atmo Schulhof Sprecherin Während Jungen sich oft um den Fußballplatz, um Besitz oder Machtpositionen streiten und sogar schlagen, verlaufen die Konflikte zwischen Mädchen meist subtiler und ohne körperliche Gewalt. Auch Streitanlässe unterscheiden sich. Ortrud Hagedorn: 14. O-Ton (Ortrud Hagedorn) Eifersucht, Neid, sich benachteiligt fühlen. Die hat mir meine Freundin geklaut, die hat schlecht über mich geredet. Die lassen mich nicht mitmachen, Ausgrenzung. Sprecherin Ausgrenzung unter Mädchen ist besonders dann ein Problem, wenn viele Kinder aus Einwandererfamilien kommen ? wie an der Birkengrundschule in Berlin-Spandau. Die Mädchen suchen sich oft eine Mitschülerin aus, auf der sie gezielt herumhacken: 15. O-Ton (Mädchen) Weil die eine Ausländerin ist, haben sie dann ihre Eltern beleidigt und ihr Land, nur, weil sie eben nicht Deutsche war. Wenn die eine sagt, fick deine Mutter, sagt die andere, fick du doch deine Mutter und dann sagt die andere: Du Russin, du stinkst und so, und dann sagt die, ihr Deutschen sein ja nicht viel besser. Man muss nicht immer denken, dass Mädchen so unschuldig sind, wie sie eigentlich aussehen, weil es gibt Mädchen, die haben es richtig faustdick hinter den Ohren und da fallen schon Ausdrücke, wie jetzt die eine sagt zur anderen: Hurentochter und so Ausdrücke, die richtig beleidigend sind. Sprecherin In diesem Fall waren die Konfliktlotsen überfordert. Es handelte sich um keinen spontanen Streit, sondern um Mobbing. Mobbing verläuft subtiler und wird deshalb von den Lehrern oft erst spät bemerkt. Dann hat es jedoch keinen Sinn, die ursprünglichen Gründe zu suchen. Mobbing ist vorsätzlich, es ist das gezielte Fertigmachen einer Person und verläuft über einen längern Zeitraum. In diesem Fall sprachen die Konfliktlotsinnen mit den Beteiligten, holten aber nach der ersten Sitzung ihre Lehrerin Luzie Haller zu Hilfe: 17. O-Ton (Luzie Haller) Es ging also darum, diese Grenze ganz klar aufzuzeigen: Du bist erkannt, wir beobachten dich, wir sehen ganz genau, was du tust, und wenn du nicht aufhörst, wenden wir den gesamten Schulstrafkatalog an bis zum Schulausschluss, das ist eine klare Ansage. Sprecherin Mobbing ist kein Fall mehr für die Konfliktlotsen ? hier sind die Lehrerinnen und Lehrer gefragt. Auch bei schwerer Körperverletzung, Waffenbesitz oder Drogenhandel intervenieren die Konfliktlotsen nicht, sondern überlassen das den Lehrern und der Schulleitung. Bei schweren Vergehen holt diese die Polizei. Die Birkengrundschule arbeitet jedoch auch präventiv mit den Beamten zusammen und Luzie Hallers Einsatz gegen Gewalt endet nicht am Schultor. Als sie beispielsweise einmal davon erfuhr, dass ein Junge auf dem Nachhauseweg von Klassenkameraden verprügelt werden sollte, informierte sie die Polizei und ließ es die beteiligten Schüler wissen. Dies reichte aus ? der Junge wurde in Ruhe gelassen. Zum Glück kommt es nur selten zu gravierenden Vorfällen. Trotzdem wünscht Luzie Haller sich, dass auch ihre Kolleginnen und Kollegen in Gewaltprävention ausgebildet werden. Denn bislang ist sie die einzige Pädagogin an der Birken- grundschule, die Konfliktlotsen unterstützt und in brisanten Fällen intervenieren kann. Atmo Gewaltprävention 1 18. O-Ton (Axel Becker) Das war eben unsere Gruppe mit den großen Schülern, 9. bis 12. Klasse, die machen ein Streitschlichtertraining, um dann in den Pausen aktiv zu sein und die Schüler haben alle irgendwie Streiterfahrung, weil es ihnen auch nicht so leicht fällt, damit umzugehen, das sind alles, was man eben Sonderschüler nennt und haben von daher auch eine ganz heftige Reaktion und ne Vorgehensweise, die nicht so ganz zart ist und ich denke, die machen ganz viele soziale Erfahrungen dabei. Es geht also nicht nur darum, Streit zu schlichten, sondern auch, soziale Erfahrungen zu machen. Sprecherin Comenius-Schule, Berlin-Wilmersdorf. Hier trainiert der Lehrer Axel Becker Schülerinnen und Schüler, in einen gewaltsamen Streit einzugreifen, ohne sich dabei zu verletzen. Atmo Gewaltprävention 2 Sprecherin Die Comenius-Schule ist eine integrative Sonderschule, besucht wird sie von Schülern im Alter von 5 1/2 bis 18 Jahren. Hier war Ortrud Hagedorn Lehrerin und hier hat sie die ersten zwölf Pädagogen im Berliner Konfliktlotsenmodell ausgebildet. Die Schule war Vorreiter bei der Einführung eines Gesamtkonzeptes gegen Gewalt. Initiiert und unterstützt wurde es von der Schuldirektorin Ulla Glitz. Sie hielt es für dringend notwendig, denn rüdes Benehmen und Schlägereigen waren vor allem bei den älteren Schülern an der Tagesordnung ? ab der 7. Klasse haben alle hier einen Sonderschulstatus: 19. O-Ton (Axel Becker) Bei den älteren Schülern, also wenn ich das jetzt mit Gymnasien vergleiche, sind die Konflikte hier sicher handgreiflicher und unmittelbarer, also in der Sprache ziemlich herb, vielleicht ähnlich wie in den Hauptschulen auch. Es wird eher weniger gemobbt als direkt provoziert und die Auseinandersetzung ist unmittelbar. Die meisten dieser Schüler, denke ich, haben sprachlich doch solche Schwierigkeiten und sind auch schüchtern, was die sprachliche Ebene betrifft, so dass sie zwar Selbstbewusstsein entwickeln können, wenn sie einen Streit schlichten - in der Pause und zwischen anderen Kindern, aber das mit sprachlichen Mitteln zu bearbeiten, fällt ihnen einfach sehr schwer. Sprecherin Die Kinder und Jugendlichen werden von den Lehrerinnen und Lehrern unterstützt ? die meisten Pädagogen der Comenius-Schule haben mittlerweile eine Ausbildung in Gewaltprävention ? auch Axel Becker: 20. O-Ton (Axel Becker) Ich glaube, was hier noch wichtig ist, dass alle Lehrer darauf geprägt sind, hinzuschauen und direkt einzugreifen. Wenn man etwas sieht, spricht man den Schüler darauf an, eine gewisse konfrontative Art und Weise, etwas nicht zu übersehen, sondern auch bei Beschimpfungen oder Provokationen den Schüler direkt anzusprechen, so dass die Schüler schon wissen, man achtet darauf. Sprecherin Diese Haltung ist Voraussetzung dafür, dass ein positives Schulklima entsteht. Doch der Comenius-Schule geht es um mehr: Hier ist Gewaltprävention die Basis für ein sinnvolles Lernen ? sie gehört zum Schulprofil: 21. O-Ton (Axel Becker) Das Ganze muss in den Schulalltag eingebettet sein, es muss ein System sein, das aufeinander aufbaut, was den Schülern im Unterricht und während des ganzen Tages ähnliche Erfahrungen vermittelt: die Erfahrung, akzeptiert zu sein, nicht bedroht zu sein, Anerkennung zu finden und wenn man das durchgängig durch den ganzen Unterricht bringt, hat das langfristig einen Erfolg. Sprecherin Zur Gewaltprävention gehören auch klare Absprachen und Regeln, an die sich alle halten müssen. Die fünf wichtigsten hängen für alle sichtbar in den Klassenräumen und im Flur. Die Lehrerin Petra Rosansky: 22. O-Ton (Petra Rosansky) Es gibt für alle Schülerinnen und Schüler z.B. die Stoppregel, die kennen alle Schüler, wenn die hier in die 1.Klasse kommen, dann lernen die das. Stoppregel bedeutet, dass wenn man etwas nicht möchte, es sagt, dann haben die Schüler darauf zu reagieren, dass dann damit aufgehört wird und wenn sie es alleine nicht können, es ist sehr oft schon so, dass die Kinder sich gegenseitig darin unterstützen, denjenigen, der STOPP gesagt hat, zu unterstützen. Atmo Gewaltprävention 3, steht allein, dann unter Text ziehen b. z. nächsten Atmo Sprecherin Axel Becker und Petra Rosansky bilden zurzeit auch Fünftklässler als Streitschlichter aus. Die meisten von ihnen sind keine Sonderschüler, so dass sie auch lernen, leichte Konflikte mit sprachlichen Mitteln zu lösen. Atmo Gewaltprävention 4 Sprecherin Um Gewalt vorzubeugen, hat die Comenius-Schule auch eine so genannte Schulstation: Sie befindet sich in ehemaligen Klassenräumen, wo je zwei fest angestellte Mitarbeiter und Praktikanten ab 7.30 Uhr für die Schüler da sind. So können diese schon vor Schulbeginn über Frust und Probleme sprechen oder sich einfach erst einmal austoben und spielen. Denn viele kommen schon auf Krawall gebürstet in die Schule: Weil es morgens Konflikte mit Eltern und Geschwistern gab oder weil zur Lernbehinderung vieler auch Verhaltensstörungen und eine erhöhte Aggressivität gehören. In der Schulstation können Kinder und Jugendliche auch ihre Freistunden und Pausen verbringen - ein wichtiges Element gegen Gewalt, da es meistens außerhalb des Unterrichts zu Handgreiflichkeiten kommt. Hier werden aber auch Streits zwischen Schülern geschlichtet: Von Hans-Peter Löffler, einem Erzieher, der eine Mediationsausbildung hat. Er ist jederzeit erreichbar, und bei heftigen Konflikten können die Betroffenen auch während der Unterrichtszeit zu ihm kommen. Atmo Faires Kämpfen Sprecherin In dem großen Bewegungsraum toben die Kinder sich aus, sie lassen ihre aufgestaute Energie raus und bauen Aggressionen ab. Es gibt Matten, Kissen, Bälle, Sportgeräte und ein Netz zum Volleyballspielen. Hier lernen sie auch unter der Anleitung von Hans-Peter Löffler, fair miteinander zu kämpfen: 23. O-Ton (Löffler) Dann müssen sie aber vorher Regeln ausmachen, was nicht geschehen darf, wenn sie kämpfen. Fair kämpfen heißt: sie dürfen nicht treten, nicht schlagen, nicht beißen, nicht Ausdrücke sagen, sie sollen innerhalb von einer Minute nur einen Ringkampf stattfinden lassen, dann wenn einer auf der Schulter ist und den drei Sekunden hält, dann hat der normalerweise gewonnen ? das schafft aber keiner innerhalb von einer Minute. Sprecherin Den Lehrern der Comenius-Schule geht es darum, dass die Schülerinnen und Schüler ein gutes Körpergefühl entwickeln und sensibel werden für Schmerz bei sich und anderen. Sie versuchen aber auch, ihnen Alternativen zu Beschimpfungen und Gewalt zu zeigen ? etwas, was viele zu Hause nicht lernen, meint Lehrer Axel Becker: 24. O-Ton (Axel Becker) So komisch das klingen mag, wenn man sagt, du hast dich völlig verkehrt verhalten und das war falsch: Sie wissen nicht, wie man sich besser verhält, man muss ihnen positive Beispiele bringen, man muss ihnen positiv zeigen, das wäre eine andere Möglichkeit, das ist ne Möglichkeit, sich anders zu verhalten. Sprecherin Die umfassende Gewaltprävention an der Comenius-Schule zeigt Erfolg: Die aggressiven Auseinandersetzungen sind deutlich zurückgegangen. Doch das Kollegium musste oft hart kämpfen: um Personal und finanzielle Mittel. Es hat sich gelohnt: In der vergangenen Woche feierte die Schulstation ihr zehnjähriges Bestehen. Atmo Schulhof Sprecherin Das von Saldern-Gymnasium in Brandenburg an der Havel, 70 Kilometer westlich von Berlin. Voriges Jahr wurde es zur Schule des Jahres gewählt: für die beste Atmosphäre und Ausstattung. In einer bundesweiten Umfrage haben Schülerinnen und Schüler diesem Gymnasium den Preis zuerkannt. Die gute Schulatmosphäre ist auch ein Resultat dessen, dass Probleme von Konfliktlotsen und durch Mediation gelöst werden: 25. O-Ton (Barbara Jechow) Das Klima war nicht schlecht, aber ich hatte den Eindruck, dass wir uns manchmal mit kleinen Konflikten oder Kommunikationsproblemen sehr lange aufhalten und ich fand die Energie, die in die Klärung diese Probleme ging, die tat mir einfach leid, die wollte ich für andere Dinge einsetzen. Sprecherin Barbara Jechow hat als stellvertretende Direktorin des von Saldern-Gymnasiums vor einiger Zeit die Konfliktlotsenausbildung ihrer Schüler initiiert. Außerdem haben 30 Lehrerinnen und Lehrer eine Fortbildung als Mediatoren abgeschlossen - das ist die Hälfte des gesamten Kollegiums. Das von Saldern-Gymnasium ist damit eher eine Ausnahme: Die neuen Bundesländer gelten als zurückhaltend beim Einsatz dieser Konfliktlösungsmethoden. Atmo Schule Sprecherin An Gymnasien ist rohe Gewalt eher die Ausnahme, die Angriffe erfolgen meist subtiler und durch Worte. Deshalb lernen die Konfliktlotsen hier nicht, in körperliche Auseinandersetzungen einzugreifen. In einer akuten Situation beruhigen sie die Kontrahenten durch Worte, anschließend führen sie mit ihnen ein Schlichtungsgespräch. Konfliktlotsen werden an einem Gymnasium deshalb vor allem die Schüler, die besonders redegewandt und einfühlsam sind ? wie zum Beispiel der 14-jährige Moritz Harms. Er ist heute Streitschlichter am von-Saldern- Gymnasium, weil er selbst gute Erfahrung mit Mediation gemacht hat: 26. O-Ton (Moritz Harms) Ich war selbst ab und zu ein Fall für den Streitschlichter. In der 5. Klasse hat mich einer ziemlich geärgert und da habe ich selbst gemerkt, wie toll und positiv das ist. Es ging um Lappalien, er hat mir was weggenommen, geärgert, getreten, immer wieder beleidigt. Und dann hat er mich angegriffen und wollte mich prügeln unten auf dem Hof, und dann habe ich ihn halt dabei festgehalten und ihm wehgetan dabei. Es war eigentlich ein Kleinkinderstreit, aber es wurde dann doch ziemlich ernst. Sprecherin Durchgeführt wurde die Mediation von Barbara Jechow ? es gab damals noch keine Schüler als Konfliktlotsen. Durch das gelenkte Gespräch konnte sich Moritz auf die Sicht des anderen Jungen einlassen. 27. O-Ton (Moritz Harms) Ich konnte es nachvollziehen ? zwar nicht sehr gut, muss ich ehrlich dazusagen, aber ich konnte ihn verstehen und ich habe auch gemerkt, dass er das nicht nur gemacht hat, um mich zu ärgern, sondern dass da auch andere Gründe da waren. Da steckt was hinter, das hätte ich nie gedacht. Er hat gesagt, Moritz kann so gut reden und dann macht er mich fertig, und dann dachte er, dass ich ein totaler Streber bin, und das konnte er nicht leiden ? er dachte, ich bin der total dumme Idiot. Sprecherin Dieses Gespräch eröffnete Moritz neue Perspektiven, Streits zu verstehen und zu lösen. Mittlerweile hat er selbst schon in einigen Streits vermittelt. Doch auch seine Sicht auf die eigenen Konflikte hat sich gewandelt: 28. O-Ton (Moritz Harms) Ich überdenke meine eigene Situation in einem Streit mal schneller, ich weiß, wenn ich jetzt sofort losrennen würde und den schlagen oder ausrasten, einen Fehler machen würde. Ich habe ja gelernt, dass da mehr dahintersteckt und ich überlege: Was habe ich denn falsch gemacht? Ich suche auch mal die Fehler bei mir, was gar nicht so leicht ist und gucke dann mal, einen Kompromiss dadurch zu steuern. Sprecherin Da am von Saldern-Gymnasium so viele Lehrkräfte eine Mediationsausbildung haben, werden auch Streits zwischen Erwachsenen mit dieser Methode gelöst: So vermittelt etwa ein Pädagoge zwischen zwei Lehrern oder auch in Konflikten zwischen Lehrern und Eltern. Bei schweren Regelverstößen, die laut Gesetz als Straftaten definiert sind, intervenieren die Pädagogen: Zum Beispiel bei Körperverletzung, Sachschaden oder Diebstahl. Man sieht von einer Strafanzeige ab und fordert die Beteiligten zu einem schulischen Täter-Opfer-Ausgleich auf, der immer auf eine Wiedergutmachung hinausläuft. Barbara Jechow erinnert sich an einen Fall, in dem ein Junge das Fahrrad eines Mitschülers zerstört hatte: 29. O-Ton (Barbara Jechow) Es gab einen Täter-Opfer-Ausgleich, die haben zusammen das Fahrrad repariert, da war der Schlauch zerstört und der Mantel von dem Fahrrad. Der eine hat es bezahlt und gemeinsam haben sie das Fahrrad wieder in Ordnung gebracht und der Junge hat sich entschuldigt, der ihn verletzt hat und der Verletzte hat das Fahrrad in Ordnung gebracht und damit haben sie gemeint, war es in Ordnung und es gab auch nicht wieder Probleme. Atmo Schule Sprecherin Die Birkengrundschule, die Comenius-Schule und das von Saldern-Gymnasium konnten durch den Einsatz von Konfliktlotsen und Mediation die Gewalt erheblich eindämmen. Aber obwohl diese Methoden immer mehr eingesetzt werden, existiert eine umfassende und sinnvolle Gewaltprävention längst nicht an allen Schulen. Dafür, da sind die Lehrer sich einig, fehlt die Unterstützung auf politischer Ebene: etwa durch zentrale Lehrerfortbildung und Freistellung vom Unterricht. Denn die Lehrer bilden sich selbst und die Schüler zum größten Teil in ihrer Freizeit zum Thema Gewaltprävention fort. Die Lehrerin Petra Rosansky: 30. O-Ton (Petra Rosansky) Ich kann gut verstehen, wenn Schulen sagen, wir können das nicht auch noch, weil ich denke, es ist etwas, was sehr, sehr viel Aufwand erfordert. Der einfachere Weg ist, da müssen wir uns ja nichts vormachen, ist zu sagen:?Sei ruhig? und damit ist die Sache erledigt. Und ich bin der Meinung, dass das überhaupt nicht hoch genug gewürdigt wird. Also mit Stundenermäßigung oder irgendwelchen finanziellen Unterstützungen wird das überhaupt nicht gewürdigt und das finde ich auch schändlich, wenn ich das mal so krass sagen darf. Immer, wenn irgendwo was ins Wasser gefallen ist, wenn es Rütli gab, dann gibt es wieder einen neuen Sozialarbeiter ? haben wir jetzt auch gerade, ist toll, ist wirklich toll. Aber das, was an alltäglicher Arbeit erforderlich ist, ist wirklich viel zu wenig unterstützt. Sprecherin Die Initiatorin des Konfliktlosenmodells, Ortrud Hagedorn, ist mittlerweile im Ruhestand. Sie hat die meisten Lehrer in Berlin und viele in Deutschland ausgebildet ? noch immer leitet sie Fortbildungen. Vor fünf Jahren erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Gewürdigt wurde damit ihre ?herausragende Leistung in der Gewaltprävention und die Förderung eines offenen, demokratischen Schulklimas?, heißt es in der Urkunde. Ortrud Hagedorn selbst hat ihre Arbeit immer als gesellschaftlich-politisch verstanden: 31. O-Ton (Ortrud Hagedorn) Diese Jugendlichen, die man eigentlich zum Verhandlungshelfer ? ist ja eigentlich ein Konfliktlotse, die man dazu befähigt, dass sie das hinkriegen, leisten im Grunde einen gesellschaftlichen, pädagogischen Beitrag für die ganze Zukunft. Die gestalten im Grunde ihre zukünftige Welt, indem sie miteinander lernen, Auseinandersetzun- gen müssen geführt werden und wenn wir das nicht hinkriegen, holen wir uns jemanden dazu, der neutral ist dabei. Sprecherin Von Konfliktlotsen eine Lösung für alle Formen von Gewalttätigkeit zu erwarten, hieße sie zu überfordern. Aber sie können wesentlich dabei mitwirken, an den Schulen eine friedfertige Atmosphäre zu schaffen, die Gewaltausbrüche verhindert und in der vernünftiges Lernen überhaupt erst möglich ist. Die Politik ist gefordert. Sie darf engagierte Lehrer und Schüler nicht allein lassen. Spr. vom Dienst Die Schülerfeuerwehr - Wie Konfliktlotsen an Schulen Streit schlichten Von Brigitte Schulz Es sprach: Ilka Teichmüller Ton: Inge Görgner Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2007 Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de 1