Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 23. September 2017 – 11.05 – 12.00 Uhr KW 38 Mauern des Schweigens: Das österreichische Männergefängnis Stein und seine Geschichte Eine Sendung von Antonia Kreppel Redaktion und Regie: Marcus Heumann Musikauswahl: Simonetta Dibbern (DLF 2016) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – VOGELFLUG schwarzer Rabe Unfreiheit bist eingeflogen in die Mauernwelt das vergitterte Fenster passierend wirfst Schatten in meine Zelle schwarzer Rabe Unfreiheit du begleitest mich du bist mein JETZT Die warme Spätsommersonne taucht die alte Terrassenlandschaft mit den steilen Weinbergen in ein mildes Licht. Die Donau glitzert und zieht große Schleifen; in der Ferne zeichnet sich die Silhouette von Stift Göttweig ab. Krems in Niederösterreich ist das Tor zum Weltkulturerbe Wachau. Und mittendrin liegt das größte Männergefängnis des Landes. Die Weinberge reichen fast bis zu den Gefängnismauern; Donauuniversität, Karikaturmuseum und Kunsthalle Krems sind unmittelbare Nachbarn. Österreichs einziges Hochsicherheitsgefängnis liegt auf dem Gelände eines ehemaligen Frauenklosters. Hohe Mauern mit Stacheldrahtzäunen und riesige Eisentore sichern die Justizanstalt; Kameras überwachen den Gehsteig vor den verspiegelten Fenstern des Verwaltungsgebäudes. Was hinter diesen Mauern geschieht, wissen nur wenige. Immerhin die Eingangshalle des Gefängnisses ist gut überschaubar. Ein Häftling wischt den Boden. Es riecht nach Putzmittel. Mitten im Raum ist ein Modell des Gefängnisareal aufgebaut. Das 60.000 Quadratmeter große Gelände sieht hier aus wie eine Spielzeuglandschaft. Oberleutnant Roland Wanek beugt sich über das Miniaturabbild der monströsen Anstalt. „Die große Problematik ist die Lage. Wir sind so das Zentrum der Doppelstadt Krems-Stein geworden, was für ein Hochsicherheitsgefängnis halt nicht grad optimal ist. Wir haben keine Sicherheitszonen nach außen hin, sind unmittelbar verbaut bis nahezu an die Außenmauern, haben keine vier Winkeln oder Ecken, sondern in Summe san’s 12 Ecken, die natürlich einer relativ personalintensiven Überwachung bedürfen; technisch so weit als möglich.“ Die gefährlichsten Strafgefangenen Österreichs sitzen hier ein; viele lebenslänglich. Fünfundzwanzig Jahre ist Roland Wanek schon Justizwachebeamte in Stein: Aufgeschlossen und freundlich wirkt er, trotz seines routinierten Auftretens. Er leitet die Direktionsstelle und den Erstvollzug. „Wir haben zwei Haftraumtrakte, das ist der alte, dieser sternförmige, das sogenannt Pennsylvanische - oder Nürnberger Gefängnissystem; das wurde erbaut in den Jahren 1870-73. Und in den späten Achtzigern, beginnend Neunziger Jahren wurde dann dieser Trakt 2 völlig neu gestaltet. In beiden Trakten sind so knapp 400 Insassen untergebracht.“ Der Pennsylvanische Trakt mit seiner typischen Strahlenbauweise sieht in der Nachbildung aus wie ein zu groß geratenes Modelleisenbahn-Häuschen. Hier sind die alten Traktflügel nach den Himmelsrichtungen benannt; im Trakt West sitzen ca. 130 Insassen mit hohem Sicherheitsrisiko ihre Strafe ab. Der Weg dorthin führt über den Ökonomiehof. Alles ist grau: Gitter, Wände, Böden. Die Zellenfenster sind auf der Hauswand mit großen schwarzen Zahlen durchnummeriert. Tür auf, Tür zu. Immer wieder greift der Justizwachebeamte nach seinem dicken Schlüsselbund. Roland Wanek zeigt die Werkstätten, in denen die Häftlinge auch Arbeit für Betriebe der freien Wirtschaft verrichten. Der Stundenlohn für einen Strafgefangenen liegt, je nach Tätigkeit, zwischen knapp fünf und sieben Euro. Wanek bedauert, dass es zu wenig Fachkräfte für die Ausbildung der Gefangenen gibt. „Viele unserer Insassen sind sogenannte Wiederkehrer; die durchlaufen einmal eine Ausbildung und wenn sie dann ein halbes Jahr später wiederkommen, dann wissen wir schon, dass sie gelernte Fachkräfte sind, und dann kann man sie schon sozusagen einsetzen. Grundsätzlich haben wir eine sehr hohe Rückfallsquote, die liegt durchaus bei 60 -70 %.“ In der Tischlerei zimmern die Insassen Reviereinrichtungen für die Jagd : Ansitzkanzel, Marderfallen, Drückjagdbock. Die große Schlosserei ist mit modernsten Maschinen ausgestattet; Zelleneinrichtungen werden hier zusammengeschweißt; Feuerkörbe geschmiedet. Roland Wanek beeilt sich, den Werkstättenbereich zu durchqueren; seine Augen sind überall. Plötzlich wirkt er nervös. Auf den langen Gängen tauchen immer mehr junge Männer in Trainingsanzügen auf, mit Plastiktüten in der Hand. „Ab 14 Uhr beginnt das Einrücken von den Betrieben. Wir haben ja um 15 Uhr Dienstschluss, d.h. um 15 Uhr beginnt der Nachtdienst , und ungefähr eine Stunde vorher beginnen alle 700 Insassen - ah geht eh schon los - bewegen sich Richtung ihre Hafträume und da muss ich nicht unbedingt mitten drin sein.“ In Trakt 1, dem Pennsylvanischen Trakt, wird renoviert. Stein ist eine ewige Baustelle, seit Jahrzehnten. Die ständigen Bauarbeiten müssen zusätzlich überwacht werden. Zur Zeit werden abgetrennte WC-Räume in die alten Zellen eingebaut. Es mischt sich der Geruch von Staub und Schweiß. Doppelte Gittertüren sichern den Zugang zu den Gängen mit den Zellen. „Das ist dieser Sicherheitstrakt, vor allem diese Ebene West E, wo eben das Gefährlichste vom Gefährlichen - da sind halt besondere Sicherheitsregeln im Spiel. Die haben einen eigenen Metalldetektor; also wenn jemand aus dieser Abteilung hier heraus muss, dann durchläuft er einige Sicherheitskontrollen.“ Hier sitzt beispielsweise der Terrorist und Flughafenattentäter Tawfik Ben-Achmed Chaovali seit nunmehr dreißig Jahren in seiner kleinen Zelle. Er hat Beamtinnen als Geiseln genommen und versucht auszubrechen. Auf West E darf der Haftraum nur gleichzeitig von drei Justizwachebeamten geöffnet werden, erzählt Roland Wanek. Eine Stunde “Spaziergang im Freien ” am Tag ist gestattet. Im gesamten Sterntrakt werden die Türen direkt nach dem Zählappell um 14:30 geschlossen und erst wieder um 7 Uhr früh geöffnet. Im Stock darüber, im Trakt West 1, waren bislang vor allem Maßnahmenhäftlinge untergebracht, sogenannte “zurechnungsfähige geistig abnorme Rechtsbrecher”. Der Maßnahmenvollzug ist vergleichbar mit dem Maßregelvollzug im deutschen Strafrecht; im Gegensatz zur Haftstrafe ist die Maßnahme nicht zeitlich begrenzt. Nur dass die Häftlinge nicht wie in Deutschland nach ihrer Haftzeit in psychiatrisch-forensischen Fachkrankenhäusern untergebracht werden, sondern in Sonderabteilungen der Justizanstalten inhaftiert bleiben. „Die Maßnahmen- oder die Untergebrachten sind in 3 Spezialabteilungen untergebracht. Es sind ein paar verstreut noch auf der Abteilung West 1, aber wir sind seit einigen Wochen, Monaten dabei, diese Maßnahmenabteilung auf West 1 mehr oder weniger zu räumen bzw. stillzulegen.“ Im Zentrum des Sternentrakts liegt die rundum verglaste Kommandozentrale; Beamte wuseln umher. Roland Wanek erkundigt sich kurz nach besonderen Vorkommnissen. Soweit ist heute alles ruhig. Der schwarz gestrichene Gang mit den Zellen ist von hier aus komplett einsehbar; er ist völlig leer. Dass hinter einer dieser Zellentüren ein Häftling so weit verwahrloste, dass sein Fuß zu verwesen begann, ist für den Besucher von außen unvorstellbar. Das war 2014. Wilhelm S., verurteilt wegen versuchten Mordes an einer Frau, wurde nach Auffliegen des Skandals verlegt; inzwischen ist er verstorben. Sein Fall war Auslöser dafür, dass der österreichische Justizminister eine Reform des Maßnahmenvollzugs beschloss. Umgesetzt ist sie bis heute nicht. Der Justizbeamte zuckt die Schultern, schweigt. Lieber möchte er noch Trakt 2 zeigen; ein Neubau; hier sind die Gänge breit und gut beheizt. „Wir sind jetzt im 2. Stock in der Sonderabteilung für den Erstvollzug. Das sind in sich geschlossene Abteilungen, mit großteils Wohngruppenvollzug. D.h. die Insassen haben hier Schlüsseln für ihre Haftraumtüren und können sich innerhalb eines gewissen Zeitfensters völlig frei innerhalb der Abteilung bewegen. D.h. die können jederzeit in den Haftraum hinein aber auch heraus.“ Roland Wanek wirkt jetzt sichtlich entspannt: Das hier ist seine Abteilung, die oberste Sprosse in Stein, die man erreichen kann. Hier kennt er jeden Häftling. Es gibt einen Fitnessraum, eine kleine Küche. Die Insassen können kochen und ihre Wäsche selbst waschen. Die Zellentüren sind offen, auch am Wochenende; von sieben bis zwanzig Uhr. Wer ihn sich leisten kann, hat einen Fernseher. Robert Wanek seufzt. Denn angeheizt werden öffentliche Diskussionen um solche Hafterleichterungen auch durch Mobbing in den eigenen Reihen; Shit-Storms in den Sozialen Medien häufen sich. „Also mir würde es nie einfallen wenn ich irgendwas entdecke, das nicht im Dienstwege anzusprechen. Aber des muss ich doch nicht gleich an die Öffentlichkeit spielen. Und das ist in meinen Augen ein gefährliches Spiel. Wir haben ja doch Kriminelle als “Arbeitsmaterial”, wenn man das so neutral formuliert, die natürlich jede Schwäche ausnützen. Die wissen ganz genau Bescheid, der kann mit dem nicht oder die zwei verstehen sich nicht oder die san nit von der selben Gesinnung, die kann man blendend ausspielen.“ An den Wänden hängen Ikonen, von den Gefangenen selbst gemalt. Roland Wanek ist stolz darauf, was die Jungs in Gefangenschaft alles erlernen. Im Wohnraum der Abteilung, in einer hellgelben Polstermöbellandschaft, sitzt ein über sechzig jähriger Mann und möchte seine Geschichte erzählen. Das hat er geübt, in Therapiestunden und in Gebetsrunden mit dem Anstaltspfarrer. Auch das ist eine Geschichte aus Stein. „Mein Name ist Augustin Z., ich bin Austro-Argentinier, geboren bin ich in Argentinien Buenos Aires. Vor ca. 5 Jahren hab ich eine Tat begangen, lebenslang bekommen ich habe. Ich habe jemandem das Leben weggenommen, wo ich sehr bereue und sehr belastet bin und diese seelische Belastung ist sehr spürbar. Besonders der Druck in Brust und viele Leiden von Herzschmerzen. Denn ich lebe in Wirklichkeit in der Erinnerung, in der Vergangenheit. Und das tut weh. Weil da ist nur die Vergangenheit, gibt’s keine Zukunft. Am meisten fehlt meine Familie. Und die Stimme von meiner Familie, dieses Anfassen und Umarmen. Kommen mich besuchen, sagen Papa, ich liebe dich, pass auf dich auf. Diese ganze Liebe, diese Sehnsucht; das ist sehr wichtig“. DIE SCHULD lässt mich nicht in Ruhe sie rasselt mit Ketten ihre Stimme spielt Zither auf meinen Gefühlen sie erschwert mein Atemholen ihre Schattenringe fesseln halten fest am Moment ausbruchsicher ich will sie bezwingen zurückdrängen später lande ich vor ihr wundgescheuerte Knie geteertes Innen kraftlos gemacht von ihr allein sie lässt sich nicht aussperren 1999 gründete ein straffällig gewordener Musiker den Gefangenenchor von Stein; inzwischen hat er sich wieder aufgelöst. Leszek Urbanowicz hat ihn damals betreut und sogar eine CD aufgenommen. Er ist Anstaltsseelsorger; ein umtriebiger Mann in Jeans und Pullover um die Mitte Fünfzig. Der Weg zu seinem Büro in einem alten Seitentrakt des Gefängnisses führt durch mehrere Sicherheitsschleusen. Der gebürtige Pole ist ein Grenzgänger, zwischen drinnen und draußen. „Ich bin nicht aufdringlich. Viele Insassen erzählen mir von der Tat, vom Tatort. Es gibt schon Insassen, die sagen, das was sie getan haben tut man nicht. Ich warte, ich habe Zeit. Die Leute kennen mich, ich bin wie ein Postmann, ich bin fast jeden Tag in ihrer Gasse, einmal schnell, einmal kürzer, aber jeder hat die Chance mich einzuladen, mich anzusprechen. Das ist meine Rolle hier, meine Aufgabe, dass ich einfach zur Verfügung stehe. Sie erzählen, erzählen, erzählen; nicht unbedingt das, was er vor Gericht erzählt hat oder erzählen wollte. Die Leute wollen das - entschuldigen Sie den Ausdruck – ausspucken.“ Das fensterlose Büro von Leszek Urbanowicz ist schlicht eingerichtet. Neben dem Kreuz und einem Marienbild steht das Foto einer jungen Frau. Ein fragender Blick - lächelndes Schweigen. Pause. Der Seelsorger verschränkt seine Hände: Die Arbeit mit den Gefangenen in Stein braucht viel Kraft. Schon zwanzig Jahre betreut er sie. „Gefängnisse sind Probleme, ja, Gefängnis ist ein Leid, ist ein Schmerz, ja. Der Insasse wird kontrolliert von früh bis Abend, bevormundet. 800 Menschen leben ständig unter einem Druck. Die Insassen müssen das machen was der Beamte sagt, aufstehen, niederlegen, arbeiten gehen, schlafen gehen. Das kommt zum Stress, das macht Stress. Rufen mich sehr oft Beamte und sagen, du Leszek, hier ist ein Häftling, der gefällt uns nicht. Er ist traurig, er verlässt seine Zelle nicht. Ich schaue mir das an, geh ich hin. Ja ich bin da, ich bin da.“ Die Pinnwand von Leszek Urbanowicz ist voll gespickt mit Wochenplänen und Terminzetteln. Sein Aufgabenbereich ist vielfältig: Wohnungen und Zimmer für die entlassenen Gefangene vermitteln; mit Firmen sprechen; ein Stück Schokolade, Zigaretten besorgen. Christliche Seelsorge reiche weit, erklärt er schmunzelnd. Die Gebetsstunden gleichen Therapiesitzungen. Themen sind Gesundheit, Familie, Sexualität und vor allem die Schuld. „Diesen Menschen ist es schon bewusst, dass sie gewisse Regeln oder Gesetze gebrochen haben. Und viele sind mit dem Ausmaß der Strafe nicht einverstanden, sehr viele. Weil das ein komplexes schwieriges Thema ist Schuld, wer will schon schuldig sein. Ein Insasse hat mir einmal gesagt wortwörtlich, wer will sich schuldig fühlen. Und er, der Insasse - hat sehr lange Strafe - hat mir einmal gesagt, schauen Sie Herr Rektor - das ist mein Titel -, auch Kinder in Sandgrube, wenn sie kämpfen miteinander und auf einmal Erwachsene kommen, Kinder zeigen wer schuldig ist. Und bei zwei Kindern gibt es zwei Schuldige. Das hat mir zum Denken gegeben. Das war unheimlich interessante Beobachtung.“ Der Anstaltsseelsorger saß selbst einmal im Gefängnis, in Polen vor der Wende, wegen politischer Opposition. Hier in Stein hat er keine Angst, direkt in die Zellen zu gehen. Alleine. Das darf nur er. „Das Strafvollzugsgesetz gibt uns die Möglichkeit, dass wir mit Insassen sprechen ohne überwacht zu werden. Und Angst, warum soll ich Angst haben, wenn ich als Mutter und Vater zu Insassen komme(lacht), wenn ich mit einer Botschaft der Liebe und des Friedens zu ihm komme. Warum soll ich Angst haben? Gab es schon Gespräche mit Insassen, die mich aufgerufen haben, die sich auf Sicherheitsstock befinden, wo ich dankbar war, dass ein Beamter in der Nähe ist. Und die wollten meistens belanglose Dinge, Zigaretten, Kaffee; und es passiert bei den Gesprächen doch etwas anderes. Ich denke, wenn ich Vertrauen gewinne, beginnt wunderbare Geschichte, wunderbare Gespräche. Oft muss man auf diese Gespräche viele Jahre warten. Draußen ist alles irgendwie so schnell, flüchtig, und hier kommen die Insassen und beobachten mich wie ein Jäger ein Opfer.“ Bei Wilhelm S., dem verwahrlosten Häftling auf West 1, hatte Leszek Urbanowicz keine Chance. Er hat den seelsorgerischen Beistand stets höflich abgelehnt. In Stein gibt es Aufseher, die die resozialisierende Arbeit des Seelsorgers für überflüssig halten und die es nicht gerne sehen, dass er die Häftlinge in der Zelle besucht. Das sind vor allem Justizbeamte, die in der Gewerkschaft AUF der rechtspopulistischen FPÖ organisiert sind, wissen Insider. „Es gibt diese Kräfte, es gibt Menschen, die sich schon geäußert haben und gesagt haben, wir brauchen euch nicht. Und diese meinen nicht nur Seelsorger, sondern Betreuungsdienste sind hier überflüssig: Wir sind hier Justizwachebeamte und wir müssen die Insassen überwachen; alles andere ist nicht notwendig. Das ist ein Hindernis, hab ich sogar einmal gehört. In der Bibel steht: Lass Getreide mit Unkraut wachsen. In unser Leben ist auch etwas Böses einkalkuliert, aber damit müssen wir umgehen können, damit müssen wir leben.“ Das Männergefängnis von Stein: Für Leczek Urbanowicz ist es eine Berufung. Über seine “Gemeinde hinter Gittern” hat er eine ganze Dissertation verfasst. Kurz schließt er die Augen. Er kann sich noch gut erinnern, als er hier seine Arbeit begonnen hat. „Als ich vor der Mauer hier gestanden bin, hab ich weiche Knie gehabt. Weil viele Menschen haben gesagt, wo gehst du hin, weißt du was Stein ist? Und jetzt nach 20 Jahren meiner Arbeit muss ich sagen, die Leute haben leider wenig Ahnung über Stein. Hier wohnen auch Menschen mit Gefühlen, und sie können sich auch aufopfern für andere Menschen. Viele Menschen wurden selbst Opfer. Ich höre von Insassen, meine Mama hat mich mit Füssen geschlagen, als ich 7,8 Jahre alt… Also hier sitzen sehr viele Menschen, die das Wort ich hab dich lieb nie gehört haben im Leben. Gibt es auch Menschen, die ein neues Leben anfangen wollen, und sie bemühen sich, und viele Menschen draußen machen es ihnen nicht leicht. Und die Leute erzählen mir, ja ich bereue das, das Wort höre ich schon oft, oder das was ich getan habe hab ich nicht gerne gemacht. Wie gesagt, mit feinen Worten formuliert gestehen sie ihre Schuld. Ja. Ganz höflich würd ich sagen, ganz vorsichtig, ganz zärtlich erzählen sie mir über Sachen, die ganz furchtbar sind.“ GEFÄNGNISINSASSE Ein abgeschobener Delinquent, Nummeriert dorthin, Wo kein Leben rauscht - und niemals kommen wird; nur wenig Dasein noch in der Vegetation. Bald vergessen, erdrückt, mit dem Rücken zur Mauer, in der Subkultur sprachlos gemacht -, so steht er da. “Im Firnis der Zivilisation zeigen sich Risse“, beschreibt der Kriminologe Wolfgang Gratz die Zustände in der Justizanstalt Stein. Er spricht auch von einem “System der organisierten Verantwortungslosigkeit”. Für den investigativen Journalisten Florian Klenk, selbst Jurist, ist Stein - Zitat - „ein Stück Österreich en miniature, verwaltet von visionslosen Politikern.“ Hier sei der Strafvollzug des 19., ja 18. Jahrhunderts archiviert. Doch der Leiter des größten Männergefängnis in Österreich zeigt sich reformwillig. Seit 2013 ist er im Amt. Bruno Sladek empfängt offen und gutgelaunt. Der Gefängnisdirektor im Range eines Majors trägt Tracht: Eine lange Lederhose in sanftem Beige; ein weißes Kittelhemd aus grobem Leinen mit Hirschhornknopf, und Häferlschuhe. Inmitten seiner uniformierten Beamtenschaft wirkt er wie der würdiger Besitzer eines edlen Weinguts. Ein schweres Erbe hat der über Sechzigjährige Anstaltsleiter von seinem Vorgänger übernommen. Den Moloch Stein könne man nur “kalt abtragen“, wird dieser zitiert , - also abreißen. „Ich seh das nicht so, ich glaube nicht dass er das genauso gesagt hat, aber es wurde halt so in der Öffentlichkeit präsentiert. Ich glaube dass man sehr wohl gezielt nachjustieren muss, um einigermaßen dem Strafvollzug des 21. Jahrhunderts sich anpassen zu können. Und das gelingt uns auch, nur ist es immer wieder die Frage der finanziellen Ressourcen. Und die budgetäre Lage ist derzeit im österreichischen Strafvollzug nicht unbedingt ideal um große Veränderungsprozesse durchführen zu können." Bruno Sladek ist kein Schreibtischhocker; auf seinen beiden Arbeitstischen herrscht beschwingtes Chaos. Lehrtätigkeiten an der Strafvollzugsakademie sowie ein Amt als Laienrichter in Wien halten ihn auf Trab. Und eigentlich könnte er schon in Rente gehen. Einundvierzig Jahre lang hat er als Justizwachebeamter in verschiedenen Strafanstalten seinen Dienst getan. „Und mir war schon bewusst, wie schwierig es sein wird, Leiter der Justizanstalt Stein zu werden, dass halt die Pragmatisierung in Österreich für die Justizwache logischerweise eine sehr große Bedeutung hat und dementsprechend ist man auch im Beamtendienstrechtsgesetz, sind ihnen als Anstaltsleiter die Hände gebunden . D.h. man hat wenig Möglichkeiten um Leute, die halt weniger motiviert sind, dementsprechend zurechtweisen zu können. Wenn man Veränderungsprozesse durchführen möchte, wenn man sagt, man wird Leiter der Justizanstalt Stein, der größten Strafvollzugsanstalt Österreichs mit dem schwierigsten Klientel zusätzlich dem Maßnahmenvollzug, dann hat man natürlich einiges an Illusionen.“ “Ohnmächtig wie ein Schuldirektor” fühle er sich, sagt der erfahrene Gefängnisleiter mit ruhigem Gesichtsausdruck. Natürlich, der Fall Wilhelm S., jener Maßnahmenhäftling, dessen Füße nur einige hundert Meter entfernt in einer veralteten Zelle verfaulten, hat ihn empört. Die schockierenden Fotos habe er gleich an die Staatsanwaltschaft geschickt. „Ich hab natürlich von dem nichts gewusst, sonst hätt’ ich etwas unternommen. Sobald ich es erfahren hab, hab ich sofort etwas unternommen, aber da bist ohnmächtig. Und dann kommt dieser mediale Druck bis hin zu doch den einen oder anderen sag ich mal nicht unbedingt klaren Aussagen, vielleicht auch der eine oder andere Beamte, der unter Umständen etwas gesehen hätte und es nicht gesehen hat, und das mein ich jetzt unter Ohnmacht. Du hast eine Position in so einer großen Anstalt: Sie müssen sich vorstellen, 800 Insassen und ca.400 Personal, das sind 1200 Leute. Und da bist du sehr auf das Team angewiesen. Und wenn dieses Team kein geschlossenes Team ist, und wenn die Loyalität bei gewissen Köpfen ein Fremdwort ist, dann hab ich so das Gefühl der Ohnmacht.“ Bruno Sladek blickt aus seinem Bürofenster im obersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes direkt auf die Kulturmeile Krems, das Karikaturmuseum, das Kunsthaus. Eine andere Welt. Der Gefängnisdirektor, auch wenn er als gemütlicher Wachauer gilt, kennt die Gesetze der abgeschotteten Gefängniswirklichkeit mit dem festgefahrenen Beamtenapparat gut. Psychiatrische Behandlung für die Häftlinge im Maßnahmenvollzug gäbe es zu wenig, räumt er ein. „Ich war fast 20 Jahre im Maßnahmenvollzug tätig in Wien. Daher kenn ich sehr viele Psychiater. Ich sags ihnen ganz offen, es hat niemand die Motivation hier arbeiten zu wollen, auch aus dem finanziellen Background her.“ Die Akte Wilhelm S. ist inzwischen geschlossen. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen drei Justizwachebeamte und die Leiterin des psychologischen Dienstes wurden eingestellt; die Beamten nur kurzfristig vom Dienst suspendiert. Sie hätten - so wörtlich - “auf eine ausreichend hygienische Pflege geachtet”. Bruno Sladek zuckt mit den Schultern. Resigniert? Als Gefängnisdirektor habe er immerhin versucht, die Aufgabenbereiche der Beamten besser zu koordinieren. „Ich hab versucht zu evaluieren, wo sind Ressourcen seitens der Beamtenschaft bzw. so goldene Regeln net abgeschafft. Schauen Sie, wenn man etwas für das Klientel tut, dann kommt das so rüber, unser Chef, der ist nur für die Insassen da und nicht für uns. Aber natürlich bin ich auch Leiter der Beamtenschaft bzw. der Fachdienste, und daher muss ich auch eine Leistung verlangen dürfen, und wenn ich da vielleicht etwas mehr verlange als es andere Kolleginnen oder Kollegen machen, dann hast du dementsprechend einfach eine Blockade. Bis hin, dass eben der gewerkschaftliche “Touch” sprich die Dienststellen-versammlung, mich auch absetzen wollte. Was ja vollkommen falsch war, weil sie per se nicht befugt sind mich abzusetzen. Aber das sind für mich alles Herausforderungen, denen stell ich mich. Und ich bin der Auffassung, dass jemand der hier auch hereingeht und gutes Geld verdient, trotz Pragmatisierung eine gewisse Leistung bringen soll und auch muss. Und da hat man nicht nur Freunde.“ Wenn Major Sladek die Hafttrakte aufsucht, kommt er an einem Gedenkstein vorbei, der an das Massaker 1945 erinnert. In Stein, im größten Zuchthaus der “Ostmark“ mit 1800 Häftlingen waren in der NS-Zeit viele Regimegegner eingesperrt, Kommunisten, Saboteure, Widerständler aus Österreich und Osteuropa, vor allem Griechenland. Manche hatten nur “schwarz geschlachtet“, oder “Feindsender” gehört. Als die Front näher rückte und die Lebensmittel in der Strafanstalt knapp wurden, entschloss sich Gefängnisdirektor Franz Kodré, Gefangene zu entlassen und Stein zu räumen. Einen Monat vor der Befreiung Österreichs ließ er die Gefängnistore öffnen. NS-Aufseher alarmierten daraufhin die SS; unter Mithilfe der Wachauer Bevölkerung wurden die sich in Freiheit wähnenden Häftlinge gejagt wie die Hasen. Auch der beherzte Anstaltsleiter wurde hingerichtet; der Bürgermeister von Krems soll ihn persönlich erschossen haben. „Ich muss gestehen, mir hat dieser Begriff Hasenjagd eigentlich, obwohl ich hier aus dieser Region stamme, nichts gesagt. Ich wurde eigentlich erst vor kurzem, weil wir hier eine Veranstaltung bzw. eine Präsentation hatten in der Klosterkirche, mit dieser Hasenjagd konfrontiert. Und ich bin froh, dass diese Veranstaltung hier in der Justizanstalt Stein in der Klosterkirche stattgefunden hat.“ Seit 1.September 2017 ist Bruno Sladek, der bisherige Leiter der Justizanstalt Stein im Ruhestand. Ihm folgt Christian Timm, der das Männergefängnis bereits vor Bruno Sladek geleitet hat; er war der einzige Bewerber. NACHRUF lebendig begraben bloß eingesperrt und doch längst tödlich getroffen illusionslos und mit flachem Atem vegetiere ich die Zellenwände als Grufthöhle die Eisentür als Grabstein in Ruhe sanft noch nicht entschlafen vor Auferstehung geschützt im Namen der Republik Eine Exkursion mit Robert Streibel und seinem Vater Josef durch das heimatliche Krems ist eine Reise zu den Toten. Die NS-Geschichte der Stadt verbindet beide auf schicksalhafte Weise: Der Vater hat die „Kremser Hasenjagd“ als Augenzeuge miterlebt, der Sohn erforscht als Historiker die Hintergründe. Die Sonne brennt unbarmherzig auf den Steiner Friedhof; er liegt gleich ums Eck neben der Justizanstalt. Am Eingang befindet sich das Massengrab für die ermordeten Häftlinge; ganz in der Nähe liegt die Ruhestätte des griechischen Widerstandskämpfers Gerasimos Garnelis. Er hat das Massaker überlebt, blieb in Krems, trat später der KPÖ bei, organisierte Tanzveranstaltungen und Boxkämpfe und starb verarmt. Robert Streibel wischt sich den Schweiß von der Stirn und setzt sich auf den Grabrand im Schatten. „Des wollte keiner hören. Man muss sich vorstellen, da gibt’s einen griechischen Häftling, der wird daher deportiert, 1944 mit 300,400 anderen griechischen Häftlingen, überlebt das Massaker hier, baut sich hier eine Existenz auf und lebt unter all den Menschen, die weggeschaut haben. Die Täterfamilien haben ja weiterhin da gewohnt, also die Täterfamilien, die am Massaker beteiligt waren. Das ist ein weites Feld. Da geht’s natürlich auch um Gerichtsbarkeit. Ein Teil der Täter ist verurteilt worden in einem großen Prozess 47; aber 1955 ist keiner mehr im Gefängnis gesessen, sind eigentlich alle schon freigelassen gewesen oder begnadigt worden. Und die Frage, wie ist man damit umgegangen in der Familie, hat es eine Schuldeinsicht gegeben. Das hat’s ja bei den meisten ja wahrscheinlich nicht gegeben.“ Robert Streibel zeigt auf den steil ansteigenden Weinberg hinter dem Friedhof: Wie die Hasen wurden die Häftlinge hier auf der Flucht abgeschossen. “Eine Geschichte von Anpassung, Verrat und Widerstand“, so hat er sein Buch “Krems 1938-1945 “ untertitelt. „Krems war eine kleinbürgerliche Schulstadt, und natürlich die Studenten haben mit den Studentenverbindungen in der Zeit sicher auch maßgeblich zum Klima beigetragen. Jetzt kommt natürlich dazu, dass Krems, Wachau, altes Kulturland ist. Krems war sehr stark Vorreiterrolle, was den Nationalsozialismus betrifft. Es hat nirgends große Begeisterung gegeben, sich der Vergangenheit zu stellen, aber da in Krems noch viel weniger. Und bei uns geht’s immer auch da eigentlich mehr ums vertuschen und ums rechtfertigen.“ Dass die Ratsherrenprotokolle, eine wesentliche Quelle der NS-Geschichte der Stadt, durch “ein Versehen” im Archiv der Stadt Krems vor wenigen Jahren vernichtet wurden, war für den Historiker ein großer Rückschlag. Einige Überlebende des Massakers hat er noch interviewen können und ihre Erinnerungen in dem Roman “April in Stein” verarbeitet. „Fragen Sie meinen Vater,“ sagt Robert Streibel, und verlässt mit schnellen Schritten den Friedhof. Der pensionierte Eisenbahner Josef Streibel hat mit dreizehn Jahren die schrecklichen Ereignisse hautnah miterlebt. Er ist nur einige Häuser entfernt vom Gefängnis Stein groß geworden, im ehemaligen “Kloster zur Donauwelle“; später wurde es zum Wohnhaus umgebaut und ist heute ein Seminarhotel mit Restaurant. Josef Streibel, ein braungebrannter agiler Rentner, streift aufgeregt durch die Gänge. „Jetzt wenn sie da hinaufschauen ganz vorne am Dach, also unterm Dach, da bin i geboren drinnen.“ Aus dem Fenster vom 2. Stock blickt man direkt auf graue Vorkriegshäuser mit ehemaligen Dienstwohnungen der Justizanstalt Stein. Den 6. April 1945 wird Robert Streibels Vater sein Leben nicht vergessen. „Wir san schon im Hof gewesen in der Früh, und da san Frauen kommen und haben gesagt, du, des Gefängnis, die lassen alle heraus, weil die haben nix mehr zu essen gehabt drinnen. Und auf einmal san zwei Auto kommen, sans ausgestiegen, und da warn einige Uniformierte, und hab’n vorm Gefängnis ein Maschinengewehr aufgestellt gehabt. Im Gefängnishof drinnen hat man die Schüsse gehört, und dann san wir natürlich untergetaucht. Und vielleicht kurz vor Mittag hast’s in die Weinberge auch gehört schießen. Und da hat man auch schon gehört, dass sie den Anstaltsleiter und ein paar andere a verhaftet haben. Bis abends ist des gangen, die Schiesserei. Dass 380 oder über 400 erschossen worden san, ja des hab i erst dann erfahren, wie es den Robert schon geben hat." Dass sein Sohn das Massaker von Krems so akribisch erforscht hat, macht ihn stolz, auch wenn seine Freunde vom Alpenverein das nicht so sehen. „In seiner Schulzeit ist er schon aktiv gewesen und hat schon verschiedene Aktionen gesetzt. Also der ist ja sabotiert worden bis in die achtziger Jahre hinein oder später. Von die Akten haben’s ihn überall ausgeschlossen.“ Robert Streibel schiebt die Schildmütze tiefer in die Stirn. Einen Ort in Krems möchte er mit mir noch unbedingt aufsuchen: Den jüdischen Friedhof. Er liegt zwischen Autobahnauffahrten, Einkaufszentrum und Mc.Donalds. Häftlinge von Stein mähen ab und zu das Gras, damit das Metallband des Künstlers Heinz Kuppelwieser nicht ganz zuwächst. Dort sind die Namen der Juden eingestanzt, die in Krems gelebt haben und vertrieben worden sind – bis auf den Letzten. Im Friedhofswärterhäuschen hat Robert Streibel eine kleine Dauerausstellung eingerichtet; sie erzählt die Geschichte der Juden von Krems. Niemand kümmert sich um ihren Erhalt. Inzwischen schlafen hier Obdachlose und flicken mit den zerschlissenen Ausstellungstafeln die zerborstenen Fenster. „Ja, das ist ein Teil der Ausstellung; ist eine gute Installation. So muss man Geschichte präsentieren…“ Robert Streibel setzt sich am Rande eines Grabes in das Gras, schweigt, schaut umher. Der Verkehr brandet; die Nadelgehölze riechen intensiv nach Sommer. „Geschichtsaktivist“ und „Gedenkarbeiter“ nennt ihn sein Schriftstellerfreund Ernst Hackl. „Und ich ändere auch nichts, da fallen die Sachen runter, so ist es. Es müsste eine Stadt Verantwortung übernehmen für ihre Geschichte. Auch wenn ich jetzt Tourismusstadt bin, kann ich natürlich auch zu meiner Geschichte stehen. Es hat sich schon verbessert, auf alle Fälle was Stein betrifft, das Massaker. Da organisiert jetzt die Stadt das Gedenken seit 2 Jahren. Man kann eigentlich nicht aufhören. Ich hab schon so oft aufgehört mit Stein, und dann kommen immer wieder neue Geschichten. Ich glaub es gibt noch vieles was nicht erforscht ist.“ DAS ZELLENFENSTER Zu erklettern ist verboten ich stehe am Stuhl und sehe durchs staubige Glas alles davor wirkt trübstaubig gegenüber ein Teil vom alten Zellenbau daneben und dahinter Kastanienbäume und etwas von der schmutziggrauen Donau manchmal ein schwerbeladener Schlepper er erinnert mich an mein Sein Buschwerk und weiter drüben noch in Einzelheiten erkennbar ein idyllischer Ort am Fuße des Berges und obenauf Stift Göttweig Ich öffne das Fenster in Klarsicht sehe ich zu Fenstern fremder Wohnungen träume was dort drinnen wohl geschieht manchmal sehe ich junge Frauen aus dem Haus kommen mit einem Baby am Arm ich höre sie lachen rufen und auch streiten beim Ballspiel drei Birken verdecken die Sicht zur nahen Straße … Dort oben am Kreuzberg in der Wiese darunter verborgen von aufblühenden Reben auf schmalen Wegen dazwischen könnte man sich der Welt entziehen träumen vom anderssein händchenhaltend engumschlungen lieben und zärtliche Worte flüstern Vom Fruchtsaft des Lebens trinken blinder Mensch spielen Die Hausordnung verbietet mir den Blick aus dem Fenster Meine Schultern sacken ab ich klettere vom Stuhl taumle zum Bett von wo ich nur ein Fleckchen wolkenverhangenen Himmel seh Gegenüber von Stein, auf der anderen Seite der Donau, thront Stift Göttweig über den Weinbergen. Am östlichen Hang gibt es einen aufgelassenen Ziegelofen. Dort haben Häftlinge aus dem Gefängnis in der NS Zeit gearbeitet. Heute ist das aufgelassene Gelände eine Art Schrebergarten; das barock anmutende Ziegelarbeiterhäuschen Wochenenddomizil. Besitzer ist das Benediktinerstift und hat es vor kurzem neu verpachtet. Am Eingangstor steht ein Bildstock mit einer Gedenktafel. Udo Fischer, Pfarrer im benachbarten Paudorf, möchte den neuen Pächter kennenlernen. Der werkelt mit Arbeitern im Garten, ein bärtiger stämmiger Mann; neugierig stellt er sich vor. Vorsichtig beginnt der Priester ein Gespräch. Er erzählt, dass Tote hier unter der Erde liegen. Der Vorpächter, ein Herr Mannert, sei bereits auf Gebeine gestoßen. (Pater Fischer): „Und zwar im Rahmen dieses sogenannten Massakers sind ja nicht nur in Krems viel umgebracht worden, sondern es sind Richtung St. Pölten um die 60 umgebracht worden, darunter 26 hier, und die sind nie exhumiert worden. Und der Mannert hat mir erzählt, er hat hier irgendwo graben, hat aber glei wieder zugemacht, weil er auf Knochen gekommen sei.“ (Bernreiter): „Dass liegen - es steht da drauf sie sind hier verscharrt worden. So, und mein Frau traut sich da net schlafen (lacht) I tät ja gern im Sommer am Abend wenn’s a bissl feucht-fröhlich word’n is, wenn’st was trunken hast - ja, sie traut sich net schlafen da.“ Udo Fischer hört ruhig zu. Der Benediktinerpater, Jahrgang 1952, tritt bescheiden auf; die Gesichtszüge sind weich. 1995 hat er in seiner Pfarrgemeinde einen Gesprächskreis ins Leben gerufen. Jeder sollte erzählen, wie es denn damals war, zur Zeit der NS-Herrschaft hier in den Dörfern. Es sind vor allem Frauen gekommen; sie waren ja während des Krieges zuhause. Und so konnte er die Stimmen der letzten Zeitzeugen aufzeichnen, die die “Kremser Hasenjagd” und ihre Ausweitung auf die Dörfer erlebt hatten. Was er erfuhr, sammelte er in einer Art Pfarrchronik. Und er protokollierte die Aussagen, wo genau die Häftlinge aus Stein bei Hörfarth und Panholz ermordet wurden und höchstwahrscheinlich heute noch verscharrt in der Erde liegen. Er leitete das Protokoll auch an die zuständigen Gemeinden weiter. Pater Udo Fischer lässt seine Augen über das teils neu gestaltete Gartengelände schweifen. Unter einer Pergola machen die Arbeiter Brotzeit. (Pater Fischer): „ Es gibt keinerlei Informationen, dass die Toten je exhumiert worden sind. Was mich befremdet ist, dass sich überhaupt niemand von der Wissenschaft, von der Geschichtswissenschaft, von der Politikwissenschaft , niemand interessiert hat. Die Göttweiger oben, da war ja auch niemand da. Der Göttweiger Konvent war ja vertrieben. Des war halt nationalsozialistische Erziehungsanstalt, Göttweig war enteignet, gehörte ja der Stadt Krems.“ (Bernreiter): „Des wusst i gar net. Ja wir haben ja gar nix gehört von dera Zeit. Also wie i noch in die Schul gangen bin, des war pscht, pscht, pscht. Wir haben überhaupt nix von der Hitlerzeit oder der NSDAP-Zeit gehört.“ (Pater Fischer): „Im Geschichtsunterricht sind wir immer nur bis zum 1. Weltkrieg gekommen, aber auch nur bis zum Anfang…“ (Bernreiter): „ Ja es ist halt so, es ist Geschichte.“ Sanftes Spätsommerlicht spiegelt sich in den Glasscheiben des Gartenhäuschens. Herr Bernreiter zeigt bereitwillig seinen Garten; er hat das Biotop des Vorpächters zugeschüttet und neu bepflanzt: Kürbisse wachsen besonders gut. Pater Udo Fischer deutet auf die Stelle, wo der Vorpächter bereits auf Gebeine gestoßen war und nicht weiter gegraben hat. Er beharrt darauf, dass sie exhumiert werden sollten. (Pater Fischer): „Der Garten wäre Gebeine frei und sie wären bestattet. Ist ein Vorteil für beide Seiten. „ (Bernreiter): „ I hätt nix dagegen…Gut, dann wünsch ich einen schönen Tag…“ (Pater Fischer): „Wiederschauen“ Herr Bernreiter muss weiterarbeiten. Pater Udo Fischer bleibt nach einigen Schritten stehen und dreht sich noch einmal um. Eine Wolke wirft ihren Schatten über die Gartenidylle. „Es sollten auf jeden Fall die Gebeine exhumiert und würdig bestattet werden. Vielleicht findet man irgendwelche Erkennungsmarken oder Hinweise, wer diese Menschen gewesen sind, und man könnte noch nachträglich mit Überlebenden, Verwandten Kontakt aufnehmen. Denn die Verwandten der hier Ermordeten wissen nichts, haben nie eine Information bekommen, dass da vielleicht ein Bruder, ein Vater, ein Sohn da begraben liegt. Privat kann man nicht graben. Wir haben das zu Protokoll genommen, es liegt alles schriftlich vor, d.h. die offiziellen Stellen wissen davon. Nicht nur durch irgendeinen anonymen Anruf, sondern durch eine Druckschrift. Es ist beweisbar. Aber es hat nie wer bis jetzt eine Initiative ergriffen. Es hätte ja irgendwer einen Antrag stellen können auf Exhumierung. In meinen Fällen sind alle Augenzeugen tot. Bin überhaupt betroffen gewesen, dass sich in den Jahrzehnten niemand interessiert hat.“ …Fata-Morgana und WIRKLICH Ob Licht oder keines Sonne oder Schatten Regen oder Nebel Wach oder träumend Morgens und Abends Tag und Nacht in allen Bildern ist ein Raster Gitter in und nach allen Richtungen und wo ein Ausweg Das war „Gesichter Europas“: Mauern des Schweigens. Das österreichische Männergefängnis Stein und seine Geschichte. Eine Sendung von Antonia Kreppel. Ton und Technik: Kiwi Eddy und Gunther Rose. Redaktion und Regie: Marcus Heumann. Sie hörten eine Wiederholung vom September 2016. Die Gedichte dieser Sendung, gesprochen von Tom Jacobs, stammen von Jack Unterweger. Der wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteile Österreicher saß sechzehn Jahre in Stein und begann dort zu schreiben. 1990 vorzeitig entlassen, wurde er 1994 erneut wegen neunfachen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe, diesmal ohne Begnadigungsmöglichkeit verurteilt. In der Nacht nach dem Schuldspruch beging er Selbstmord.