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O-Ton 2 Dr. Stefan Gäbler: In der Gehörlosengemeinde besteht ja eigentlich so die Auffassung, dass man eben gehörlos ist und ein Recht drauf hat, auch so gehörlos, wie man ist, zu bleiben, und teilweise wird das ja als Körperverletzung angesehen, wenn man also praktische diesen Zustand verändert. Sprecher / Andreas Costrau: Lieber stocktaub, dann lebst Du in einer Welt. Autor: Diese Meinung formuliert Andreas Costrau mit den Händen, in Gebärdensprache. Ein Dolmetscher übersetzt für ihn, ein Sprecher leiht ihm für diese Sendung seine Stimme. Andreas Costrau ist taub. Er ist Mitglied der Gehörlosengemeinschaft und fordert Respekt vor der Taubenkultur. Sprecher / Andreas Costrau: Wir sind taub. Warum dürfen wir nicht taub bleiben? Warum müssen wir hören können, um mit denen zu kommunizieren. Wir können mit denen sowieso nicht kommunizieren, auch mit Cochlea-Implantat oder Hörgerät nicht. Die Barriere ist immer da. Autor: In Costraus Familie ist Taubheit verbreitet. Seine Großeltern und Eltern sind taub. Seine Schwester ist taub, deren beiden Kinder sind taub und seine Nichte hat ebenfalls ein taubes Kind. Untereinander verständigen sie sich problemlos mit Gebärden - einer vollwertigen Sprache. Sprecher / Andreas Costrau: Ich sag immer: Es gibt mehr Gebärdensprachbehinderte als Hörbehinderte. Da muss was getan werden. Autor: Andreas Costrau provoziert gern. Mit solchen Sätzen will er die übliche Wahrnehmung verändern. In der Öffentlichkeit kämpft er für die Gleichstellung von Tauben. Dafür stellt er auch mal gerne die üblichen Sichtweisen auf den Kopf. Sprecher / Andreas Costrau: Als Beispiel hab ich im Behindertenparlament in Tegel - ist schon acht Jahre her - da gab es so ein Tagesprotokoll und da stand drauf: Ein Gebärdensprachler stellt sich vor. Hab dann gebärdet, fünf Minuten lang und die Leute haben sich aufgeregt und haben gesagt: Wir haben nichts verstanden. Hab ich gesagt: ja auf der Tagungsordnung steht Gebärdensprache, hättet ihr einen Dolmetscher mitbringen sollen, nicht immer wir. Also soviel zur Barriere-Freiheit. Dann haben sie verstanden, was unsere Barrieren sind. Das sind ja nicht nur meine Barrieren, das sind ja auch deren Barrieren, aber weil wir eine Minderheit sind, ist es unsere Barriere. Wo ist da die Gleichstellung? Autor: Der Vierzigjährige geht mit seiner Gehörlosigkeit sehr offensiv um. Er hat ein Kinderbuch herausgegeben, in dem die Gebärdensprache erklärt wird. Er betreibt einen Gebärdensprachservice und er lehrt die Gebärdensprache. Für ihn ist die Taubenkultur mit ihrer Gebärdensprache der natürliche Lebensraum für gehörlose Kinder. Sprecher / Andreas Costrau: Wenn ich hörende Eltern sehe mit einem gehörlosen Kind, dann denke ich immer, es wäre meins. Autor: Energieraubende Versuche, gehörlose Kinder dazu zu drängen, sprechen zu lernen, lehnt Andreas Costrau ab. Ebenso skeptisch steht er technischen Hilfen gegenüber. Hörgeräte findet er OK, aber ein Implantat geht ihm zu weit. Ihn stört, dass die Medizin versucht, die Gehörlosigkeit mit unzureichenden Mitteln zu beheben, anstatt die Taubheit als kulturstiftendes Merkmal zu respektieren. Sprecher / Andreas Costrau: Uns fehlt das Gehör. Wir können nicht sprechen lernen. Ob mit Cochlea-Implantat oder ohne. In meinen Augen ist das Cochlea-Implantat für Kinder eher eine Manipulation unserer Tauben-Kultur. Regie Musikimpuls O-Ton 3 Prof. Dr. Heidi Olze: Also optimal stellen wir uns das so vor: Wenn wirklich ein Kind taub zur Welt kommt. Es wird erfasst im Neugeborenen Hör-Screening, das ist, wie der Name schon sagt, nur ein Screening. Autor: Unter tausend Neugeborenen sind zwei taube Kinder. Die Rate ist relativ konstant, erklärt Heidi Olze. Sie ist Professorin an der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde der Berliner Charité. O-Ton 4 Prof. Heidi Olze: Und wenn man dann sieht, bei der noch maligen Untersuchung, das wirklich das Kind an Taubheit grenzend ist und wir haben von den Befunden her die Indikation für ein Cochlea-Implantat dann ist optimal eben die Versorgung zwischen dem neunten und zwölften Lebensmonat, weil die Kinder dann praktisch vergleichbar mit den Altersentsprechenden Altersgenossen dann auch in die Sprache kommen. Und keine Verzögerung haben. Atmo OP - Atmo (Regie bitte besorgen!) hoch, drunter legen Autor: Die Operation wird stationär durchgeführt, Klinikaufenthalt drei Tage, Vollnarkose. An der Charité hat sich Heidi Olze darauf spezialisiert, das Cochlea-Implantat - kurz auch CI genannt - in das Ohr einzusetzen. 500mal hat sie diese filigrane Operation unter dem Mikroskop bereits durchgeführt. O-Ton 5 Prof. Dr. Heidi Olze: Und man muss sagen, dass wir mit den neuen, schonenden Operationstechniken und auch mit den sehr kleinen Implantaten inzwischen zum Vergleich noch vor einigen Jahren eben auch sehr kleine Kinder versorgen können. Autor: Hinter dem Ohr schneidet sie die Haut auf und klappt sie nach hinten. Aus dem freigelegten Schädelknochen wird eine Vertiefung ausgefräst, von dort fräst die Medizinerin einen Kanal durch das Felsenbein bis ins Mittelohr. Durch diesen Kanal bohrt sie ein Loch in die Cochlea, die Hörschnecke, die ungefähr so groß ist wie eine 1-Cent-Münze. In die Windung der Hörschnecke schiebt Heidi Olze einen 15 bis 20 Millimeter langen feinen Draht mit winzigen Platinperlen - die Elektrode. O-Ton 6 Prof. Dr. Heidi Olze: Die Elektrode ist praktisch jetzt direkt in der Hörschnecke, und in der Mitte der Hörschnecke, da mündet sozusagen der Nerv mit den einzelnen Aussprossungen, und je dichter man die Elektrode an diese Strukturen bringt - wir haben eine elektrische Reizung - und dadurch wird der Nerv gereizt, in bestimmten Anteilen und je dichter die Elektrode da daran ist, umso besser ist es einfach. Autor: Diese Elektrode verbindet die Professorin mit einem kleinen Funk-Empfänger samt Magneten, der idealer weise genau in die ausgefräste Vertiefung im Schädelknochen passt. Noch während solch einer Operation prüft der Audiologe Dr. Stefan Gäbel mit geringen Stromstößen, ob die Elektrode Verbindung zu den Nerven in der Hörschnecke hat. O-Ton 7 Dr. Stefan Gäbler: Es gibt ja so einen Reflex, der bei uns Normalhörenden so ab 80 Dezibel ungefähr ausgelöst wird, um das Innenohr vor Schallüberlastung zu schützen. Da zieht sozusagen der Stapedius-Muskel an der Gehörknöchelchen Kette und stellt die etwas unempfindlicher, und das kann man eben auch bei elektrischer Stimulation intraoperativ direkt beobachten. Autor: Nach anderthalb Stunden Operationszeit wird der Schnitt hinter dem Ohr wieder verschlossen. Zurück bleibt eine unscheinbare Narbe. Unter der Kopfhaut warten nun Elektrode und Funk-Empfänger auf Impulse: das Cochlea-Implantat ist damit die Hoffnung auf Hören. Regie Musikimpuls Autor: Ganz ohne Worte erläutert Steffen Thiede seine Sprache. Es ist Dienstagnachmittag im Gebärdenservice. Auf dem Stundenplan steht Deutsche Gebärdensprache - kurz DGS. Die sieben Teilnehmer können alle hören und sprechen. Manche lernen Gebärdensprache aus Neugier. Die 23jährige Sophie Seifert braucht die Gebärden für ihren Beruf. O-Ton 8 Sophie Seifert: Ich lerne die Sprache, da ich im Rahmen meiner Ausbildung zur Erzieherin ein Praktikum an einer Schule für hörgeschädigte Kinde mache. Das ist eine Schule, die eigentlich den Lautspracherwerb fördert, aber viele Kinder sind so wenig in der Sprache drin, dass es für den Unterricht und für das alltägliche Leben schon förderlich ist, wenn man als Erzieher oder als Lehrer, die Gebärde unterstützend benutzt, um mit den Kindern kommunizieren zu können. Autor: Sophie Seifert belegt bereits den Kurs Teil II. Ihr Gebärden-Lehrer schreibt eine Vokabel an die Tafel und zeigt die entsprechende Gebärde. Die 23jährige kennt schon die Grundbegriffe: Zahlen, Farben, Wegbeschreibungen. Es gibt hunderte Gebärden und tausende Kombinationen. Sophie Seifert achtet auf jede Bewegung des Lehrers. Die Gebärdensprache basiert auf visuellem Verstehen. O-Ton 9 Sophie Seifert: Ja, es ist eine Herausforderung fürs Gehirn, man hört nicht das Wort und kann es sich unter diesen Speicher irgendwie ablegen, sondern man muss es mit einem Bild verknüpfen. Und das ist schon eine Herausforderung für die Gehirnhälften, aber es war sehr gut, also ich kann bildlich auch gut lernen so, und deswegen war es glaub ich auch einfach - in Anführungsstrichen - aber ganz gut für mich so. Diese Bilder zu lernen. Autor: Seit 2002 ist die Gebärdensprache offiziell als eigene Sprache anerkannt. Davor war sie lange Zeit ein Stiefkind der Linguistik, sagt Diplom Pädagogin Sylvia Wolf von der Berliner Humboldt Universität. O-Ton 10 Sylvia Wolf: Von der Gebärdensprachlinguistik ging es so in den ersten Jahren, als es so ansetzte Ende der 50er vor allem erst mal darum, zu beweisen dass es eine Sprache ist, wie jede andere auch. Und man hat erstmal belegt, auch erfolgreich, dass es die verschiedenen Sprachebenen gibt. Also die phonologische Ebene, das heißt die Ebene der kleinsten Einheiten, die der Wortebene, der Syntax und hat vor allem die Strukturen herausgearbeitet, die gleich funktionieren, wie auch in Lautsprachen. Autor: Dabei funktioniert die Lautsprache sequenziell, also ein Wort wird nach dem anderen formuliert. Die Gebärdensprache hingegen funktioniert simultan. O-Ton 11 Sylvia Wolf Wir setzen in der Gebärde einmal die Hände ein, um die einzelnen Gebärdenzeichen zu machen, wir setzten aber auch die Mimik ein, das Gesicht, die Mundbewegung, Schulter, Kopfbewegung und das alles läuft dann gleichzeitig, sodass dann also bestimmte grammatische Funktionen dann über den gesamten Körper ausgedrückt werden - gleichzeitig und nicht nacheinander, wie wir das in der Lautsprache kennen. Autor: Diese Komplexität wurde lange Zeit nicht wahrgenommen. Oft wurde die Gebärdensprache als Affensprache verunglimpft, bestenfalls als Pantomime. Weil sie aus Bewegungen besteht - glaubte man - könne sie im Gehirn nicht im Hörzentrum verarbeitet werden, wie gesprochene Sprache, sondern in den Arealen für räumliches Denken. Erst mit modernen bildgebenden Verfahren konnte man beobachten, welche Teile des Gehirns beim Sprechen und beim Gebärden aktiv sind. Sylvia Wolf: O-Ton 12 Sylvia Wolf: Genau die gleichen Gehirnareale sind beteiligt in der Produktion und im Verstehen der Sprache. War ein wesentlicher Beleg auch dafür, dass die Sprache überhaupt anerkannt wurde als Sprache. Autor: Weil Gebärdensprache ebenfalls im Sprachzentrum verarbeitet wird, entwickelt sich die Sprachkompetenz genau wie bei Lautsprachen. Sie ist keine Not- oder Behelfssprache, sondern hat zu hundert Prozent das Zeug zur Muttersprache. Voraussetzung ist, das Kind kommt möglichst früh mit Gebärdenden zusammen. Spätestens am Ende des ersten Lebensjahrs. Regie: Musik Atmo: Paula brabbelt: Da du mam. Autor: Alexandra Jakus hat ihre kleine Tochter auf dem Schoß. Paula ist eindreiviertel Jahre alt. Nach dem Neugeborenen-Hör-Screening und weiteren Untersuchungen war klar: Paula ist taub. O-Ton 13 Alexandra Jakus: Ich hatte mich schon mit einer Gebärdensprachlehrerin getroffen, die das natürlich sehr befürwortet hat, und wie toll das ist, dass wir uns auch für Gebärdensprache interessieren, und dass das doch für Paula ein Zugewinn wäre, weil es doch eben kontroverse Meinungen gibt, dass mit Gebärdensprache dann auch die sprachliche Entwicklung irgendwie ein bisschen gehemmt wird oder zurückgesetzt wird, wenn das Kind auf Gebärdensprache getrimmt wird, sozusagen. Das kann stimmen, muss nicht stimmen, ich weiß es nicht. Das hat uns aber alles ein bisschen davon ab bewegt. Autor: Dann hörten die Jakus vom Cochlea-Implantat und die Aussicht, Paula das Hören zu ermöglichen, überwog alle Bedenken. O-Ton 14 Alexandra Jakus: Am Anfang dachte ich sogar noch, da kommen irgendwo Kabel hinten aus dem Ohr raus, also ich hatte da noch verquere Vorstellungen, die den Ängsten noch zusätzlich Vorschub geleistet haben und die ... . Ja, es war für uns dann klar, es werden Cochlea-Implantate und da haben wir die beste Entscheidung getroffen damit. Autor: Mit neun Monaten wurde Paula operiert. Seitdem trägt sie hinter jedem Ohr einen Sprachprozessor und einen schwarzen Sender. Die sehen zwischen den feinen Locken aus wie Haarspangen, übertragen aber das Signal in die Hörschnecke. Der Sprachprozessor muss regelmäßig angepasst werden. Alexandra Jakus und Paula kommen deshalb alle vier Monate aus Leipzig nach Berlin. Hier im CI-Zentrum der Charité spielt Paula mit bunten Plastikförmchen, während Dr. Klaus Berger ihr mit einer routinierten Bewegung den linken Sender vom Kopf nimmt. Regie: Atmo Paula krähen Autor: Paula fasst sich an die Stelle, an der eben noch der Sender war. Links hört sie plötzlich nichts mehr. Klaus Berger prüft kurz die Mikrofone. Dann der nächste Test. Er macht ein langes Kabel an den Sender und legt ihn Paula wieder hinters Ohr. Jetzt kann er direkt von seinem Computer Signale in Paulas Ohr schicken. O-Ton 15 Klaus Berger: Da wird die Stromstärke erhöht und wir bekommen über die Software eine Antwort, wann der Hörnerv anfängt zu arbeiten. Paula hört dabei so ein Geräusch, wie ein Dieselmotor. Brbrbrbrbrbr, macht das. Jetzt geht es los ... brbrbrbrbrbr. Autor: Paula sieht sich nach der Geräuschquelle um, aber der Brumm-Ton existiert nur in ihrem Kopf. Mit Paulas Implantat ist alles in Ordnung. Elektrode und Nerven haben eine gute Verbindung. Paula hört Sprache und lernt Sprechen. Alexandra Jakus zeigt dem Audiologen einen Zettel: hundert Wörter, die Paula schon sagen kann. O-Ton 16 Alexandra Jakus: Kann auch schon vier Wort Sätze, da ist der Mond, da ist der Bär, solche Sachen macht die Kleine. Atmo Musik Autor: Von den rund 1000 gehörlosen Kindern, die jedes Jahr in Deutschland geboren werden, bekommen 600 bis 700 von ihnen schon früh einem Cochlea-Implantat. Rund 40.000 Euro kostet das, einschließlich der Nachsorge. Die Krankenkassen übernehmen diese Kosten. Eine sinnvolle Investition in die Zukunft tauber Kinder, glaubt Franz Hermann, der Präsident der Cochlear-Implant-Gesellschaft. O-Ton 17 Franz Hermann Also man geht davon aus, dass ungefähr 60 Prozent in die Regelschule gehen können, etwa 20 Prozent müssen noch in die Hörbehindertenschule gehen und der Rest muss dann noch in Gehörlosenschulen gehen. Das ist also eine sehr große Bandbreite, die man da erreichen kann, wie die Kinder sich entwickeln. Natürlich kommt es noch auf das persönliche Umfeld an, das soziale Umfeld an. Autor: Fachleute warnen davor, die Hoffnung allein auf das Implantat zu setzen. Kinder, die die Hörhilfe ablehnen oder trotz Cochlea-Implantat schlecht hören oder sprechen, verlieren Zeit und lernen das Gebärden zu spät. Bei Paula ist das anders: sie hat die Implantate gut angenommen. O-Ton 18 Alexandra Jakus: Also mit ihren zwei Jahren versteht sie, dass die CI ihr das Hören ermöglichen. Also sie verlangt nach ihnen, wenn sie hören will, also jetzt nach dem Aufstehen, zum Beispiel oder nach den Sitzungen bei Herrn Berger. Autor: Tatsächlich zeigt Paula mit ihrem kleinen Zeigefinger auf die Stelle, an der der Sender sitzt. Das Zeichen für: Ich will hören. Mit einem geschickten Griff befestigt Alexandra Jakus die Hörhilfe an Paulas Kopf. O-Ton 19 Alexandra Jakus: Genauso zeigt sie einem auch, wenn sie wirklich den Kanal voll hat, und ihre Ruhe braucht, dann macht sie die ab und will sie dann auch nicht wieder ran haben. Also dann ist so die Phase, wenn sie schlafen geht, beispielsweise. Das zeigt sie schon sehr deutlich. Und sonst den ganzen Tag über aber bleiben die anstandslos dran und ja, Paula erfreut sich des Hörens! Stimmt es? Ja! Autor: Für schwierige akustische Situationen bietet die Elektronik Zusatzfunktionen. Auf Bahnhöfen können Durchsagen Paulas Ohr über Funk erreichen, genauso Vorträge, der Ton des Fernseher oder der Stereoanlage. Und während ein reiner Gebärdensprachler im Kino die Untertitel verfolgt, könnte sich Paula den Filmton direkt in ihr Cochlea-Implantat übertragen lassen. Oder Telefongespräche. Selbst ein Lehrer, wenn er ein entsprechendes Mikro benutzt, könnte über Funk direkt in ihre Hörschnecke sprechen. Regie: Musik O-Ton 20 Anna Spree: Also es ist so, dass viele Gehörlose Angst haben, dass dadurch, durch die vermehrten Implantationen ihre Sprache ausstirbt, O-Ton 21 Jenny Voiges: Das ist eine Angst auf jeden Fall. O-Ton 22 Anna Spree: Aber ich glaube, dass viele Gehörlose Angst haben, dass wenn alle Kinder, sofort mit CI versorgt werden, dann lernen sie die Gebärdensprache erst gar nicht, weil sie sich sie sozusagen nicht brauchen. Und das ist glaub ich das Problem, dass sie denken die Kultur stirbt aus, weil die Sprache ausstirbt. Autor: Anna Spree und Jenny Voiges sind Absolventinnen des noch jungen Studienganges "Deaf Studies", die Lehre von den Tauben. Hier studieren Hörende und Gehörlose zusammen. Lehrsprache ist die Gebärdensprache. Für ihre Abschlussarbeit an der Berliner Humboldt Universität haben die beiden Studentinnen ein heikles Thema gewählt: "Wie reagiert die Gemeinschaft der Tauben auf erwachsene Mitglieder, die die Welt der Stille verlassen möchten, mittels eines Cochlea-Implantats?" O-Ton 23 Anna Spree: Anfänglich haben alle unsere Probanden geschildert, dass sie auf starke Kritik gestoßen sind, dass einige am Anfang geschockt waren, über diese Entscheidung und sie überhaupt nicht nachvollziehen konnten: Und viele auch angegeben haben, dass sie Angst hatten, dass sich ihr Freund oder ihre Freundin dadurch verändert, durch diese Implantation, dass sie auf einmal anders wird, dass sie nicht mehr gebärdet, sich zurückzieht oder einfach diese Angst, dass diese Person jetzt auch in die hörende Welt rein kann, das war einfach eine große Angst. Autor: Als Gründe für ihre Entscheidung gaben die befragten Gehörlosen an: Ihre Lautsprachkompetenz zu verbessern, Musik hören zu können und die Kommunikation mit Hörenden zu erleichtern. Der Erfolg war ganz unterschiedlich. O-Ton 24 Jenny Voiges: Eine Person, der hat ganz, ganz viel trainiert und geübt und Logopädie gehabt und bei dem hat sich nichts verbessert, der hat gar keinen Erfolg. Der hat allerdings auch immer starke Kopfschmerzen, wenn er das CI trägt. O-Ton 25 Anna Spree: Aber bei den meisten ist es schon so, dass sie zufrieden sind, mittlerweile mit ihrem Hör- und Sprecherfolg, den sie durch die CIs erzielen und dass sie froh sind über die Vorteile, die sie mitbringen, alsodass Kommunikationsbarrieren mit Hörenden reduziert werden. Regie Musik Sprecher Costrau: Wenn wir auf einen Gehörlosen treffen, fragen wir als erstes: Auf welche Schule bist du gegangen? Sind deine Eltern taub? Wie viele Generationen? Und dann unterhalten wir uns. Und wir haben das Gefühl - wir sind ein Völkchen - und wir haben eine Menge durchgemacht. Autor: Als Beginn dieses Leidensweges gilt der sogenannte Mailänder Kongress. 1880 haben Taubstummenlehrer aus mehreren Ländern dort eine Resolution verabschiedet, nach der die Lautsprache im Unterricht zu bevorzugen sei. Ein Beschluss mit gravierenden Folgen. O-Ton 26 Claudia Becker: In der Praxis wurde daraus ein Gebärdensprachverbot. Also wirklich Hände auf den Rücken und die Schüler mussten also alles vom Mund absehen, die mussten alles verschriftlichen beziehungsweise artikulieren und durften keine Gebärden mehr benutzen. Autor: Professor Claudia Becker von der Berliner Humboldt Universität erforscht die Geschichte der Gebärdensprache, die gezeichnet ist von beständiger Unterdrückung der Gehörlosen. Im Dritten Reich wurden 80.000 Gehörlose zwangssterilisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die meisten Gehörlosenschulen lautsprachlich orientiert, die Gebärdensprache war bestenfalls eine Notlösung, galt meist sogar als pädagogisches Hindernis. Das ist bis heute so, meint Andreas Costrau. Sprecher /Andreas Costrau: Und Kindern mit CI wird man Gebärdensprache auch heute noch verbieten, weil sie Angst haben, dass sie Sprechen nicht lernen können. An meiner Schule, einer Schwerhörigenschule - leider - hat man mir die Gebärdensprache verboten, ich bin aber vierzig, das ist nicht lange her. Ich mache jetzt zwar Gebärdensprachkurse an einer Hörgeschädigten-Schule, aber ich merke, die sind eigentlich auch dagegen. Autor: Dabei hat sich die Taubenkultur in den letzten Jahrzehnten emanzipiert. Es gibt die "Deaf Pride Bewegung", die stolz ist auf die gemeinsame Kultur. Festivals für Gebärdenpoesie finden vielerorts statt, das Internet schafft neue Räume, in denen sich Gehörlose treffen und miteinander gebärden. Der finnische Rap-Musiker Sign Mark gebärdet auf der Bühne seine Texte, die ein Freund mitsingt. Beispiel Musik Autor: Gebärdensprache sickert langsam in die Alltagskultur. Immer mehr Hörende besuchen Gebärdensprachschulen und selbst für hörende Kleinkinder gibt es heute sogenannte Babysignkurse. Und die sollten von all jenen besucht werden, die ein gehörloses Kind haben, empfiehlt Katja Belz vom Bundesverband gehörloser Eltern. O-Ton 27 Katja Belz: Gehörlose Kinder brauchen genau denselben Input, und selbst wenn sie Hörgeräte haben oder ein CI bekommen, müssen sie das Hören ja erst lernen, aber das Sehen können sie schon. Das heißt, man kann also mit einem ganz kleinen Kind auch schon ganz viel Informationen austauschen über Gebärdensprache und dann der zweite Schritt ist eigentlich erst das Sprechen lernen. Autor: Denn auch bei einem Cochlea-Implantat ist nicht gesichert, dass die Kinder gut hören und sprechen lernen, so die Erfahrung nach zwanzig Jahren Implantationspraxis. O-Ton 28 Katja Belz: Also bei einem Drittel ungefähr funktioniert es recht gut, bei einem Drittel einigermaßen und bei einem Drittel eher mangelhaft. Autor: Deshalb sei es ein Fehler sich nur auf die Technik zu verlassen und Fähigkeit des Kindes die Signale des Sprachprozessors zu verarbeiten. Die Mutter dreier Kinder hat Erfahrung mit gehörlosen Kindern, sie war Elternsprecherin einer Gehörlosenschule, ihr zweites Kind - ein Mädchen - ist taub geboren. Das war vor 16 Jahren. Das Vorurteil, dass Kinder, die Gebärdensprache lernen, niemals sprechen lernen, kursiere noch heute in vielen Beratungsstellen, sagt Katja Belz. Aber das sei inzwischen schon mehrfach widerlegt. Studien zeigen sogar das Gegenteil: O-Ton 29 Katja Belz: Also es gibt auch viele Ergebnisse, die sagen, dass die Gebärdensprache das Verstehen des Sprachsystems sogar fördert. Wenn ich verstanden hab, was ein Sprachsystem ist, kann ich auch ein anderes Sprachsystem viel besser lernen. Wenn ich weiß, was ein Wort bedeutet, wenn ich eine Gebärde dazu hab, und ich weiß das, was ich da jetzt sprechen soll, bedeutet das, dann hab ich auch eine viel größere Motivation das Sprechen zu üben, das Sprechen zu lernen. Autor: Ist das Cochlea-Implantat tatsächlich eine Bedrohung der Taubenkultur? Katja Belz glaubt nicht daran. O-Ton 30 Katja Belz Dafür sind diese Sprache und diese Kultur zu schön, als dass sie von so einer Technik ausgelöscht werden könnte. Was schade ist, dass es den Kindern, die jetzt ein CI bekommen, dass denen so viel Zeit genommen wird, diese Kultur zu entdecken, weil sehr viele kommen dann später doch wieder dahin. Anstatt dass man ihnen von Anfang an beides anbietet. Autor: Auch Franz Hermann, der Präsident der deutschen Cochlear-Implant-Gesellschaft glaubt an ein unverkrampftes Miteinander von CI und Gebärde. O-Ton 31 Franz Hermann: Wenn die Gehörlosen sich nicht mehr so relevant und so extrem gegen das CI wehren würden, und in ihrer Gemeinschaft mit aufnehmen würden, wird sich die Gebärdengemeinde verändern - aber nicht auflösen. Autor: Das bestätigt auch die kleine Studie von Jenny Voiges und Anna Spree mit erwachsenen Gehörlosen, die sich erst später für ein Cochlea-Implantat entschieden haben: O-Ton 32 Jenny Voiges: Bei unseren Probanden war das bei allen so, dass sie weiterhin die Gebärdensprache benutzen, und damit ist ja diese Angst schon mal unbegründet und damit ist diese Angst schon mal unbegründet, dass die Gebärdensprache ausstirbt. O-Ton 33 Anna Spree: Also hat sich die anfängliche Skepsis umgewandelt und jetzt sind sie alle wieder gute Freunde. Autor: Nur Andreas Costrau bleibt skeptisch. Sprecher Andreas Costrau: Es gibt die Taubenkultur und es gibt die Gebärdensprachgemeinschaft. In der Gebärdensprachgemeinschaft treffen sich alle, die Gebärdensprache können, aber Taubenkultur ist der Kern vom Apfel. Der pflanzt sich fort. Deswegen sind wir noch da. Autor: Die aktuelle Debatten zeigt aber auch: Die Barrieren zwischen der Taubenkultur und den Hörenden werden niedriger. Vor allem die Gebärdensprache hat es verdient, stärker wahrgenommen zu werden, mit ihrer Schönheit und ihrer Dynamik. Sie ist ein Gewinn, für alle, die sich damit beschäftigen und kann - genau wie das Cochlea- Implantat - ein Bindeglied werden zwischen Hörenden und der Kultur der Tauben. Bedroht das Cochlea-Implantat die Taubenkultur? Gerhard Richter Seite 1