Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 02. Mai 2015 – 11.05 – 12.00 Uhr Der Verlust – Flucht, Umsiedlung, Vertreibung und das vom Krieg gezeichnete Polen Eine Sendung von Johanna Herzing Redaktion: Katrin Michaelsen Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Die Menschen haben sich sehr nach ihrer Heimat gesehnt. Ich erinnere mich sehr gut an die Sehnsucht meiner Eltern. Für meinen Vater galt: Der Himmel, der war nur zuhause schön, dort nicht; das Wasser, das war nur daheim gut, hier nicht; die Pilze haben nur da gut gerochen, nicht hier. Und in so einer Atmosphäre bin ich aufgewachsen. Die Sehnsucht haben sie alle. Auch wenn die Hintergründe verschieden sind: In Deutschland klagen sie immer, dass man ihnen die Heimat genommen hat. Ich schüttel' dann immer den Kopf: 'Was ist denn mit eurer Heimat? Die liegt zwei Kilometer entfernt von Guben und meine liegt 1000 Kilometer von hier. Euch hat man aus eurer Heimat rausgeworfen und uns genauso! Aber die Umstände sind natürlich andere, denn wer hat es verschuldet, dass man euch vertrieben hat? Und manch einer hat sich freigemacht von den Debatten: Ich bin weder Polin, noch Deutsche – auch wenn es da diese deutschen Wurzeln gibt, aber Oberschlesien war einfach immer schon anders, das war die deutsche Peripherie. Ich bin also zu dem Schluss gekommen, dass ich einfach Schlesierin bin. Ich stehe irgendwie dazwischen, mit dem einen Bein da, mit dem anderen da. „Der Verlust – Flucht, Umsiedlung, Vertreibung und das vom Krieg gezeichnete Polen“. Eine Sendung von Johanna Herzing. Reportage 1 - Der Versöhner „S-A-U-D-E“ - „Saude“ Joachim Klos lenkt seinen alten Opel über den holperigen Feldweg durch ein Kiefernwäldchen. Der Weg ins Paradies, sagt er und kurvt um ein paar Schlaglöcher herum. Das Paradies liegt nur ein paar Kilometer von der Lausitzer Neiße, den Städten Guben und Gubin und der deutsch-polnischen Grenze entfernt und es trägt eben den Namen Saude, zumindest war das früher mal so. Die heutigen Bewohner aber nennen ihr Dorf Zawada und Joachim Klos eigentlich auch. Nur an diesem Nachmittag reist er ein wenig durch die Vergangenheit. Als wir raus mussten, sind die ganzen Bewohner von dem Dorf hier rum. Und ein Mädchen von dem Dorf und ich, wir mussten noch kurz pullern und sind hier rein. Auf einmal kam ein russischer Jeep: Stoi Stoi stoi stoi! Und die kamen hin, die wussten: das war alles vermint hier. Aber wir wussten das ja nicht und die wussten genau, wie die Minen gelegen haben und haben uns hier wieder raus geholt. Im Juni 1945 war das. Joachim Klos war gerade mal 6 Jahre alt und die meisten anderen Deutschen aus Saude waren schon weg. Geflohen vor der näher rückenden Front und vor den Gerüchten, dass ihre Heimat bald schon polnisch sein würde. Nur mein Großvater nicht. Der hat gesagt: Ne, wir bleiben. Wir waren: Meine Oma, icke und er! Wir drei. Er hat gedacht, Stalin meint die Glatzer Neiße und nicht die Lausitzer Neiße. Das war einer seiner großen Fehler. Und ein anderer großer Fehler war, dass er allen gesagt hat: Ihr habt nie wieder einen Fuß nach Saude zu setzen! Die Leute sind genauso rausgeschmissen worden wie wir. Da habt ihr nischt zu suchen! „Die Leute“, das waren Polen, deren Städte im Krieg zerstört worden waren oder Menschen aus dem Osten des Landes. Ihre Heimat hatte sich die Sowjetunion einverleibt. Als Ausgleich bekam Polen nach dem Krieg ehemals deutsche Gebiete im Norden und im Westen dazu. Darunter auch das Dörfchen Saude. Ach, mein Wauwauchen is wieder da, hat wieder nischt zu fressen. Joachim Klos fährt im Schritttempo vorbei an sorgfältig gekalkten Obstbäumen, parkt den Wagen dann auf einem Rasenstück links vom Feldweg. Auf der anderen Seite ein kleiner Hof, ein paar geduckte Gebäude. Lange ist Joachim Klos dem Verbot des Großvaters gefolgt, bis in die 90er Jahre. Da ist er dann zum ersten Mal seit der Flucht wieder auf das frühere Grundstück gegangen. Das Großelternhaus war abgerissen, stattdessen stand da ein neues Häuschen. Ich hab mir dann och mal n Herz gefasst und bin hier mal rumgefahren mit dem Fahrrad. Und dann war hier 'ne Oma und dann dacht' ich, ich geh nochmal rein und hab gefragt. Und die Oma sprach mich an und sagt: 'Herr Klos, warum kommen Sie so spät? Mein Mann, der Gerard, der hat Jahre gewartet, dass hier mal jemand her kommt, der hier gelebt hat.' Da hat's mir Tränen in die Augen getrieben, ist wirklich so! Musik dröhnt über den Hof, ein Radio, abgestellt auf einem Gartenstuhl spielt einsam vor sich hin. Vor dem Haus: ein Sofa und eine ausgediente Badewanne, die Regenwasser auffängt. Klos schiebt sich seine Brille auf die Nase und verschwindet durch die niedrige Haustür nach Drinnen. Pawel, wir kommen! Wenig später folgt er einem jungen Mann über den Hof, zum Scheunentor ein paar Meter weiter. Joachim Klos hat die Scheune vor Jahren schon von Pawels Vater Ryszard gepachtet - um sein altes Zeug irgendwo unterzubringen, wie er sagt. Na gut, wir gehen mal, Pawel, ja? No chodz, prosze! Im Innern: Werkzeuge, Ölkännchen, Lappen - ein schwarzes altes Motorrad, das auf seine Reparatur wartet. Pawel und Joachim Klos gehen eine Stiege hinauf. Hier ist das, wo Pawel ab und zu mit seinen Kumpels Party macht. Toilette haben wir auch, auch ein kleiner Schlafraum…. Auf mehrere kleine Kammern hat Klos seine Sammlung aufgeteilt. Alte Nähmaschinen, Bilder, ein Feuerwehrschutzanzug, Prospekte aus DDR-Zeiten, Kaffeegeschirr, Bücherschränke. Klos schiebt eine Vitrine auf: So, dann hab ich noch ganz alte Dinge. Das ist die Bibel von meinem Großvater… Wie gläubig man sein muss, wenn man durch den ersten Weltkrieg vier Jahre ein solches Buch mitschleppt und wieder nach Hause mitbringt. Und das ist von meinem Vater. Der hat auch von '39 bis '45 dieses kleine Ding mitgehabt, selbst in der Gefangenschaft, in Sibirien hat er das Ding wieder mitgebracht…. Pawel steht daneben und nickt. Die beiden kennen sich seit vielen Jahren: Ich verstehe viel, kann aber wenig Deutsch sprechen. Und er versteht auch viel Polnisch, spricht es aber wenig. Aber wir kriegen das irgendwie mit Hand und Fuß hin, irgendwie verstehen wir uns schon. Pawels Vater Ryszard ist inzwischen auf den Hof gekommen. Gemeinsam mit Joachim begutachtet er den Brunnen, den sie zusammen repariert haben. Daran, dass ein Deutscher seine Scheune zum Heimatmuseum machen wollte, hatte er nichts auszusetzen: Joachim kam mit einem Bekannten, der Deutsch und Polnisch konnte. Der hat mir dann übersetzt, worum es genau geht, dass Joachim mal hier gewohnt hat. Wir haben auch Fotos gemacht, die hab ich heute noch. Joachim hat die auch. Na, und er hatte die Idee, das hier hübsch herzurichten, da hatte ich nichts dagegen. Früher hat er hier oft mit seinen Freunden gefeiert; schick war das. Da gibt’s keine Schwierigkeiten, nichts…. Klos zeigt auf einige Weinstöcke, die an der Sonnenseite des Hofs ihren Platz gefunden haben. Eine alte Weinsorte, die es nur noch in Gubin und Umgebung gibt. Und dazu diese Ruhe! Joachim Klos atmet tief ein. Die „Wessis“, sagt Klos, würden ihm das ja immer nicht abnehmen, aber: Für mich gibt’s schon lange keine Grenzen mehr. Hier gibt’s keinen Unterschied zwischen Richard und meinen Kumpels. Wir sind nun mal ein Team, die helfen mir, die bringen mir Blaubeeren, die bringen mir Pilze. Und das ist das Schöne, im Wald, hier hundert Meter weiter, da gibt’s jede Menge Steinpilze, alles was man sich vorstellen kann…. Literatur 1 Adam Zagajewski: Fahne Am Morgen werde ich wach und versuche festzustellen mit meinem Theaterfernglas, welche Fahne über meiner Stadt weht. Die schwarze, die weiße, oder die graue wie Angst. Ob meine Stadt schon erobert wurde, ob sie sich noch verteidigt, ob sie die Sieger um Nachsicht bittet, oder ob sie Trauer trägt nach den paar Sekunden Vergessenheit, oder ob ich womöglich selbst diese Fahne bin und sie nur nicht sehen kann, so wie man das eigene Herz nicht sieht. Reportage 2 – Der „Zabugol“, ein Siedler aus dem Osten Wenn es die alten Gubener in ihre frühere Heimat zieht, dann brauchen viele von ihnen nicht mal ein Auto. Sie spazieren die Gubener Einkaufsstraße hinunter direkt über die kleine Brücke über die Neiße, und schon sind sie mitten im polnischen Teil der Stadt, in Gubin. Den Grenzübergang bemerken sie gar nicht mehr, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist er beinahe unsichtbar. Ganz anders die Situation für viele ihrer Nachbarn am polnischen Flussufer. Ihre alte Heimat ist weit entfernt. Bramburger: „Groß – Spannung kleiner, aber aktiv. Und das ist aktiv, Farbe aktiv. Hier isses aktiv. Die Landschaft ist viel Waagerechte und hier kommt eine Form… - Pawlikowski: Aha, juz wiem, o co chodzi… Gute Kollegen können sich ruhig auch mal kritisieren. Klaus Bramburger und Waldemar Pawlikowski stehen in der Rathausgalerie von Gubin und schenken sich nichts. Bramburger, ein älterer Herr mit Brille und grauem Vollbart, fuchtelt wild vor der Staffelei seines jüngeren Malerfreunds Pawlikowski herum. Mit der Landschaft ist er so gar nicht einverstanden. Etwas abseits: ein älterer schlanker Herr, kerzengerade Haltung, das leuchtend blaue Hemd akkurat gebügelt, der Knopf ganz oben am Kehlkopf drückt, so stramm sitzt der Kragen. Während die Kursteilnehmer der Malerei-Klasse Tische und Stühle wieder an ihre Plätze schieben, lässt sich Jerzy Czabator an einem schweren Holztisch nieder. Siedemdziesiatosiem, na razie... Achtundsiebzig Jahre ist er alt, da steht man nicht mehr gern lange in der Gegend rum. Fußball hat er früher gespielt, leidenschaftlich, aber jetzt geht das nicht mehr. Es heißt Sport ist gesund, totaler Quatsch! Sport ist nicht gesund, das ist der erste Schritt zum Invaliden-Dasein. Er lässt es jetzt ruhiger angehen. Engagiert sich im Senioren-Rat der Stadt, betreibt ein wenig Heimatforschung, obwohl der Begriff nicht ganz treffend ist, denn Gubin ist Czabators Zweitheimat. Ich bin ein „Zabugol“, ein Repatriant aus der Region jenseits des Bugs. Ich habe mehr als 1000 Kilometer zurückgelegt, um hierher zu gelangen. Mama, Papa, ich, meine drei Brüder und meine Schwester, wir wohnten in Nagorna. Unser Dorf lag 6 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Bis 1939 lebten wir dort in aller Ruhe. Da wohnten damals hauptsächlich Weißrussen, nur 7 polnische Familien, 5 jüdische Familien, und ein paar vermischte russisch-litauisch-lettisch-ukrainische. Das war ein totales Völkergemisch. Dreimal musste sich die Familie Czabator in der Zeit nach 1939 auf eine neue Besatzungsmacht einstellen: Hatte sich die Sowjetunion 1939 entsprechend dem Hitler-Stalin-Pakt das Territorium einverleibt und die Sowjetrepublik Weißrussland errichtet, marschierten 1941 deutsche Soldaten ein, ermordeten die jüdischen Familien und terrorisierten die verbliebenen Dorfbewohner. 1944 dann nahm erneut die Rote Armee Nagorna ein. Im Dezember 1945 haben wir dann eine klapprige Kuh, Ziegen, Heu, und ein paar Kleinigkeiten gepackt. Man hat uns in die 14 Kilometer entfernte Stadt Kleck gebracht zum Zug in so eine Art Güterwaggon. Dann nach Pinsk, ab da gab es ja eine andere Spurweite, dann nach Brest. Und dann nach Terespol. Das ging alles still und ruhig vonstatten; es schneite. Klitschnass saßen wir im Waggon und der Zug fuhr los. Wir sind dann immer weiter gefahren und so kamen wir nach Gubin. Da hat uns niemand begrüßt; der Lokführer rief: 'Weiter fährt der Zug nicht mehr!' Und damit war die Sache für ihn erledigt. Oft schon hat Czabator diese Geschichte erzählt; vor einiger Zeit haben sich die Gubener und Gubiner sogar hier im Gubiner Rathaus in einem Gesprächskreis zusammengesetzt und ihre Fluchtschicksale voreinander ausgebreitet. Da war er natürlich auch dabei; ein Übersetzer hat geholfen, denn Deutsch spricht er aus Prinzip nicht, da hätte er eben doch seine Vorbehalte: In Deutschland klagen sie immer, dass man ihnen die Heimat genommen hat. Ich schüttel' dann immer den Kopf: 'Was ist denn mit eurer Heimat? Die liegt zwei Kilometer entfernt von Guben und meine liegt 1000 Kilometer von hier.' Aber wir haben uns dann schon vertragen. Ich hab zu ihnen gesagt: 'Euch hat man aus eurer Heimat rausgeworfen und uns genauso! Aber die Umstände sind natürlich andere, denn wer hat es verschuldet, dass man euch vertrieben hat? Den Bauernhof, wo die Familie schließlich unterkam – nur Mutter und Kinder, den Vater hatte das NKWD ermordet – diesen Bauernhof kann Czabator nicht zeigen, denn er liegt ein wenig außerhalb von Gubin. Aber das alte Werksgelände der Gubiner Schuhfabrik, wo er mehr als 30 Jahre lang gearbeitet hat, da will er nochmal hin. Vom Rathaus aus sind es nur wenige Meter zu Fuß. Vor dem eisernen Werktor angelangt, lässt Czabator den Blick über das Gelände schweifen. Auf dem Torbogen in sozialistischer Manier die Aufschrift: 'Dzien dobry, przyjemnej pracy', übersetzt in etwa: 'Guten Tag und frohes Schaffen!' Ein Smiley ist auch noch daneben gemalt. Seit Ende der 1990er Jahre aber grüßt es keine Arbeiter mehr, das Werk wurde abgewickelt. Bis 1945 sei das ja die Fabrik eines Deutschen gewesen, sagt Czabator und linst durch die Gitterstäbe: Direkt nach dem Krieg, hat es niemanden interessiert, wem Gubin gehört. Die Stadt lag innerhalb der polnischen Grenzen. Klar, die ersten Siedler hier, die haben sich noch unsicher gefühlt, die saßen auf gepackten Koffern. Aber mit der Zeit hat sich das alles gegeben. Es gab das Werk, man hat eine Berufsschule eingerichtet, eine Kantine gebaut, eine Krippe, einen Kindergarten – man hat die Stadt gestaltet. Und heute? Heute sind wir im Grunde wieder auf dem Stand von 1945, wir haben alles zugrunde gehen lassen. Wir haben ganz bewusst all das, was staatlich und in Gemeinschaftsbesitz war, zerstört. Wir privatisieren bis zum geht nicht mehr! Literatur 2 Gedichte über Polen Ich lese Gedichte über Polen, geschrieben von fremden Dichtern. Deutsche und Russen haben nicht nur Gewehre, auch Tinte, Federn,auch etwas Herz und viel Phantasie. Das Polen in ihren Gedichten erinnert an ein verwegenes Einhorn, das von der Wolle der Gobelins sich nährt, das schön ist, schwach und unvernünftig. Ich weiß nicht, worin der Mechanismus der Täuschung besteht, aber auch mich, den nüchternen Leser, betört dieses märchenhafte, wehrlose Land, von dem sich die schwarzen Adler, die hungrigen Kaiser, das Dritte Reich und das Dritte Rom ernähren. Reportage 3 – Die „Zwischen-Identität“ Ganz eben verläuft sie noch nicht, die Strecke von der neuen an die alte deutsch-polnische Grenze. Von Gubin aus ruckelt das Auto erst einmal eine ganze Weile über Betonplatten in Richtung Südosten: Die Überreste von Hitlers Reichsautobahn nach Schlesien. Doch die Holperpiste währt nur kurz. Vorbei an Breslau und Oppeln, hinein ins oberschlesische Industrierevier führt bereits die nagelneue Autostrada 4. Schlote, alte Fördertürme und eine Ausfahrt nach der anderen – klare Stadtgrenzen sind in der Region schwer auszumachen: Bytom, Chorzow, Katowice – alles geht hier ineinander über. Und ähnlich ist es auch mit der Geschichte und Identität der Bewohner dieser Gegend. Sehen kann man das zum Beispiel auf Friedhöfen - wie dem von Swietochlowice, wo Monika Kassner entschlossen an Gräbern und Blumengestecken vorbei stapft. Prosze za mna! „Mir nach“ ruft die junge Frau im schwarzen Wintermantel. So als ob sie eine Schulklasse antreiben muss, bestimmte Dinge hat sie als Lehrerin einfach verinnerlicht. Sie bleibt vor einer Backsteinmauer am Rand des Friedhofs stehen. Kleine schwarze Tafeln sind darauf angebracht. Schauen Sie mal hier: 28. Juli, 5. August, 27. Juli, hier haben wir schon Oktober, aber dann wieder 13. August, 5. Juli, 1. August, 21. Juli – sehen Sie, das sind alles Daten im Juli und August. Warum? Weil damals im Lager eine Typhus-Epidemie ausbrach. Allein im August 1945 wurden 632 Todesfälle verzeichnet, im Juli 305 Todesfälle. Es sind nicht viele Tafeln mit Namen, Geburts- und Sterbedatum. Denn für die Toten des Arbeitslagers „Zgoda“ hat sich lange Zeit kaum jemand interessiert. Bis Januar 1945 hieß „Zgoda“ „Eintrachthütte“ und war ein KZ der Nazis. Im Februar dann, nach Abzug der Deutschen, nutzte die polnische kommunistische Geheimpolizei Gelände und Baracken für ihre Zwecke. Nachweislich fast 2000 Todesfälle hat es in „Zgoda“ zwischen Februar und November 1945 gegeben, dann wurde das Lager aufgelöst. Hier kam auch der Großonkel meines Ehemannes ums Leben, aber die Generation der Enkel weiß das nicht mal. Die wissen, dass ihn hier irgendjemand irgendwie ermordet hat, aber genau genommen ist er im August 1945 dem Typhus zum Opfer gefallen. Robert Oberreiche hieß er. Eine Gedenktafel an der Mauer hat er nicht. Als sogenannter „Volksdeutscher“, also als Ortsansässiger, der sich während der Nazi-Besatzung in die sogenannte „Volksliste“ eintragen ließ, war er dem kommunistischen Nachkriegsregime grundsätzlich verdächtig. Rund 60 Prozent der örtlichen Bevölkerung hatten die Nazis in ihre Liste aufgenommen; so rekrutierten sie Arbeitskräfte und Soldaten für die Wehrmacht. Nach dem Krieg landeten deshalb viele Schlesier als sogenannte „Volksfeinde“ in einem der rund 80 Arbeitslager in der Region, selbst wenn sie sich nichts hatten zuschulden kommen lassen. Monika Kassner wendet sich zum Gehen, blickt noch einmal kurz zurück. Auch ihre eigenen Großeltern hatten sich in die „Volksliste“ eintragen lassen, als Ortsansässige hatten sie immer schon Deutsch gesprochen und wer nicht auf der Liste stand, dem spielten die Nazis mitunter übel mit. Kassners Großvater bezahlte das nach Kriegsende mit Zwangsarbeit und Gefängnis. Unter die Vergangenheit wollte die Familie einen dicken Strich ziehen; mit den Kindern wurde Polnisch geredet. Wenn meine Mama, meine Oma und meine Taufpatin nicht wollten, dass ich und meine Kusine verstehen, was sie sagen, dann haben sie immer Deutsch gesprochen. Ich hab mir natürlich schon überlegt, warum das so ist. Aber ich dachte einfach, Kinder sollten eben nicht alle Gespräche der Eltern und Großeltern hören und dass das in allen Familien so ist, dass das so eine Erwachsenensprache ist. Die junge Frau lächelt, überquert die Straße in Richtung ihres Autos. Ich bin weder Polin, noch Deutsche – auch wenn es da diese deutschen Wurzeln gibt, aber Oberschlesien war einfach immer schon anders, das war die deutsche Peripherie. Ich bin also zu dem Schluss gekommen, dass ich einfach Schlesierin bin. Ich stehe irgendwie dazwischen, mit dem einen Bein da, mit dem anderen da. Im Alltag spricht Kassner deshalb auch nicht polnisch sondern schlesisch: Wenn wir zum Metzger gehen, dann kaufen wir „Wurscht“, „Presswurscht“ und „Leberwurscht“. Beim Gemüsehändler gibt’s „Schnittloch“, „Marekwia“, „Radiesski“, „Aplusine“, solche Dinge eben…. Wir kaufen auch nicht in Kilo, sondern in Pfund. Und wir feiern „Geburtstag“ und zum „Geburtstag“ bringen wir „G'schinki“ mit, jeder bekommt ein „G'schenk“. Nach wenigen Minuten Fahrt biegt Monika Kassner ab, parkt auf einem Gelände, das von Pappeln umstanden ist. Links und rechts Schrebergärten, geradeaus etwas erhöht ein schmiedeeisernes Tor, mehr ist vom ehemaligen Arbeitslager Zgoda nicht geblieben. Monika Kassner läuft die Anhöhe hinauf. Tutaj zwasze sa wience. Wience sa polozone pod tablice... Hier lägen immer die Kränze, die junge Frau deutet auf eine Stelle unterhalb von drei großen Gedenktafeln. Als Mitglied der „Bewegung für die Autonomie Schlesiens“ organisiert sie mittlerweile die jährlichen Gedenkmärsche. Die Stadt habe die Überreste der letzten Veranstaltung, Blumen und Kerzen, aber schon wieder aufgeräumt, seufzt sie. Der schlesische Sejmik, das Regionalparlament, hat dieses Jahr offiziell dem Gedenken an die sogenannte „Oberschlesische Tragödie“ gewidmet. Man erinnert also an alle Opfer der Deportationen in den Osten, an die Opfer von Repressionen, Verhaftungen, Gewalt und Plünderung, aber eben auch an die Lagerinsassen in den kommunistisch geführten Lagern. Die Aussiedlung von Deutschen gen Westen ist aber außen vor. Ich glaube, dafür kommt erst noch die Zeit. Es ist ja schon ein großer Schritt, dass man über die Lager spricht. Reportage 4 - Die Rückkehrer Der A 4 weiter in Richtung Südosten folgend, entzerrt sich die Landschaft. Auf Krakau folgt lange keine Großstadt, die Abfahrten von der Autobahn werden seltener. Schon grüßen die Karpaten und in die Slowakei und die Ukraine ist es nicht mehr weit. Über die Schnellstraßen gen Süden rauschen LKWs in Richtung Grenze. Ein in beiden Weltkriegen umkämpftes Gebiet; alle paar Meter: Schilder, die auf Denkmäler, Gedenkstätten, Massengräber hinweisen. Ein von Tod, Zerstörung und Entvölkerung gezeichneter Landstrich, der für viele aber trotzdem immer eines geblieben ist: ein Sehnsuchtsort. Maria und Teodor Gocz setzen sich zum zweiten Frühstück zusammen. Durch die großen Fenster und den Wintergarten scheint die Sonne auf den Esstisch, auf den Maria Brot, Wurst, eingelegten Hering und selbstgemachte Paprikasauce stellt. Teodor aber beugt sich über den kleinen Haufen Blech, den er aus einer Plastiktüte auf den Tisch hat fallen lassen. Hier das stammt von toten Soldaten, oft haben wir das gar nicht erst mitgenommen, wozu auch? ... Das hier kann ich nicht lesen. Der alte Mann studiert die halb verrostete Plakette; eine deutsche Rangbezeichnung und eine Nummer sind darin eingestanzt. Da waren so viele Tote und die haben wir begraben. Uns Jungs haben sie dazu verdonnert, dass wir das so schnell wie möglich machen. Wie viele da begraben liegen, wo sie liegen, das weiß niemand. Hier zum Beispiel an der Straße liegt ein Deutscher. Hier irgendwo in der Nähe der Straße liegt er, aber heute finde ich das nicht mehr. Teodor Gocz ist 86 Jahre alt; er hat als Jugendlicher hier in dem kleinen Dörfchen Zyndranowa unweit der polnisch-slowakischen Grenze den Zweiten Weltkrieg erlebt und das, was danach geschah. Hier bekämpften sich nicht nur erbittert Deutsche, Slowaken und Rote Armee. Parallel dazu lief ein Bürgerkrieg zwischen Polen und der sogenannten UPA, der ukrainischen Aufstandsarmee, die eine unabhängige Ukraine forderte und dafür auch Massaker an polnischen Zivilisten beging. Weil die Umtriebe der UPA weder Polen noch Sowjets passten, begannen bereits vor Kriegsende 1945 Umsiedlungsaktionen im gesamten polnischen Südosten. Ukrainer und solche, die man dafür hielt, wurden von den sowjetischen Machthabern in die neu entstandene Sowjetrepublik Ukraine abgeschoben. Weil das jedoch nicht den gewünschten Erfolg brachte, griff das kommunistische Nachkriegspolen 1947 mit der sogenannten „Aktion Weichsel“ durch. Hunderttausende verloren so ihre Heimat; viele von ihnen wurden in die ehemals deutschen Gebiete, also nach Westpolen umgesiedelt. Auch Teodor Gocz: 180 Familien gab es hier, 175 Hausnummern, weil in manchen Häusern zwei Familien lebten. Unter diesen 180 Familien waren 5 Zigeuner-Familien, die haben dort am Fluss gelebt, und 4 jüdische Familien. Der Rest waren Lemken, früher hat man sie Russinen genannt. Aber als man uns von hier vertrieben hat, da hat man uns als Ukrainer vertrieben. Teodor schiebt sich ein Stück Butterbrot in den Mund, räumt die Abzeichen auf dem Tisch beiseite. Heute gelten die Lemken als eine von vier anerkannten ethnischen Minderheiten in Polen, mit eigener Sprache und Kultur, sagt er; für den kommunistischen Staat aber seien sie nach dem Krieg schlicht Ukrainer und Kollaborateure gewesen. Maria Gocz und ihre Familie, ebenfalls Lemken aus der Region um Zyndranowa, wurden auch gezwungen wegzuziehen. In der Gegend um Stettin, nahe der damals neuen deutsch-polnischen Grenze, wurde ihnen eine Wohnung zugewiesen. Sie erinnert sich noch gut an die prächtigen Häuser, die früher Deutschen gehört hatten, und in denen jetzt Polen lebten. Für die Neuankömmlinge aus dem Südosten allerdings gab es nur noch „Restbestände“, sagt Maria Gocz und steht auf, sie muss nach draußen, zwei Besucher warten. Anfang der 1960er Jahre ist sie aus Westpolen hierher zu ihrem Mann gezogen, Teodor war schon ein paar Jahre früher in seine alte Heimat zurückgekehrt. Erst lebten sie im alten Blockhaus des Urgroßvaters, erbaut im Stil der Lemken, einfach, mit einem Strohdach und den Gerätschaften aus vielen Jahrzehnten. 1968 dann konnten sie ihr neues Haus mit den drei Stockwerken beziehen. Die alte Hütte nebenan wurde nach und nach zum Museum für die Kultur der Lemken. Eine Frau aus der Ukraine will sich gerne umsehen. Sie komme aus der Gegend um Saporischschja, im Südosten des Landes, sagt sie. Von Tag zu Tag werde die Situation da schlimmer. Ursprünglich stammt ihre Familie hier aus Zyndranowa. Maria Gocz öffnet das Tor zu den Museumsgebäuden, führt durch Wohnhaus, Stallungen, Werkstatträume und Maria Gocz setzt sich schließlich in der Stube an den Holztisch. Die Menschen haben sich sehr nach ihrer Heimat gesehnt. Ich erinnere mich sehr gut an die Sehnsucht meiner Eltern. Für meinen Vater galt: Der Himmel, der war nur zuhause schön, dort nicht; das Wasser, das war nur daheim gut, hier nicht; die Pilze haben nur da gut gerochen, nicht hier. Und in so einer Atmosphäre bin ich aufgewachsen. Teodor Gocz nickt. Er ist vom neuen Haus herübergekommen, hat sich neben seine Frau auf die schmale Bank gesetzt. Die Lemken hätten immer schon sehnsüchtige Lieder gesungen, dieses zum Beispiel: Er: So, jetzt reichts… Ach, das geht einfach nicht mehr, früher mal, aber jetzt.... Sie: Na, weil du nicht mehr singst... Er: Ich bin eben ein alter Opa, was soll ich da singen?... Ein alter Opa soll sterben, nicht singen... Reportage 5 – Das fremde Erbe Heute sind es LKWs auf dem Weg in die Slowakei, die durch Dukla fahren, vor rund 70 Jahren waren es deutsche und sowjetische Panzer. Bevor die Front über Dukla hinwegzog und das Städtchen zerstörte, lebte man in der Grenzregion vom regen Handel. Vor dem Krieg waren über 70 Prozent der Bevölkerung jüdisch. Die meisten von ihnen: kleine Kaufleute und Handwerker. Die Flucht vor den Nazis gelang nur sehr wenigen, heute lebt in Dukla kein einziger Jude mehr. Es sind Polen wie Jacek Koszczan, die ihr historisches Erbe verwalten. Von der jüdischen Kultur in Dukla ist nicht viel erhalten: die Ruine der alten Synagoge, die Synagoge von Zvi Leitner, die heute ein Supermarkt ist und zwei jüdische Friedhöfe. Vorsichtig platziert der rundliche Mann eine alte Porzellankanne und feine Teetassen auf der gehäkelten Spitzedecke, die den Wohnzimmertisch ziert. Der einzige freie Platz in der engen 2-Zimmerwohnung, hier im vierten Stock eines 70er-Jahre-Wohnblocks. Dukla war nach dem Krieg zu über 80 Prozent zerstört. Das war nur noch eine Ruine. Erst Ende der 50er Jahre tat sich hier was. Ein Problem dabei war, dass der Großteil der Häuser und Plätze Juden gehörte. Die waren aber ermordet worden. Die Gemeinde konnte die Grundstücke also nicht einfach erwerben, schließlich gab es manchmal Erben, die Parzellen oder Gebäude zurückerhielten, auch wenn sie fast komplett zerstört waren. Das waren ziemlich traurige Zeiten nach dem Krieg. 1944 schon war klar, dass nur 15 Juden überlebt hatten, die hier in der Gegend versteckt waren. Heute leben sie oder ihre Nachfahren über die ganze Welt verstreut. Jacek Koszczan schaltet die Telenovela aus, die gerade über den Bildschirm in der Zimmerecke flimmert, geht hinüber zu einer großen Schrankwand. Die Last der vielen darauf abgestellten Gegenstände wirkt fast bedrohlich. Hier haben wir eine Menora, hier Tefilline, also Gebetsriemen, das sind welche zur Bar Mitzwa, kleine, speziell für Kinder gemacht.... Sorgfältig legt Koszczan die Lederriemen wieder ins Regal zurück. Sztetl Dukla heißt sein Verein. Die Mitglieder mähen Rasen auf dem Friedhof, räumen rund um die Synagoge auf, organisieren die jüdischen Kulturtage, Zeitzeugen-Begegnungen für Schüler und noch viele andere Dinge. Keiner von ihnen ist jüdisch, auch Koszczan nicht. Gerade mal fünf Minuten dauert es von seinem Wohnblock bis zur Ruine der Hauptsynagoge. Das Gemäuer steht einzeln auf einer großen umzäunten Rasenfläche. Putz ist kaum noch erhalten, die unzähligen, verschieden großen Steine liegen frei. Das Dach fehlt komplett, aber man kann den geräumigen Bau von 1758 durch das Hauptportal betreten. Jacek Koszczan reißt ein paar Grasbüschel ab, deutet auf eine dunkle Stelle an der Innenwand. Die Deutschen haben 1940 während des Sukkot-Festes die Synagoge mitsamt den darin betenden Juden angezündet und niedergebrannt. Da kamen SS-Einheiten, die haben alles mit Benzin übergossen und alles niedergebrannt. Hier sieht man noch Brandspuren... Koszczan wendet sich zum Gehen. Vorher zeigt er aber noch die wenigen verputzten Stellen, von denen Reste hebräischer Inschriften abblättern. Natürlich würden wir das gerne wieder aufbauen, aber der Verein hat dafür nicht das Geld. Wenn aber zum Beispiel der Gemeinschaft der Juden von Dukla – so etwas gibt es in Israel -, also wenn der daran gelegen wäre, dann könnten wir das wiederaufbauen. Der Ball liegt auf ihrer Seite, wir haben dafür einfach kein Geld... Der Wind trägt immer wieder was herbei, das können wir wegräumen, aber mehr können wir nicht tun, um das jüdische Erbe hier zu bewahren. Literatur 3: Czeslaw Milosz: Erde Meine süße europäische Heimat, Der Falter, der sich auf deine Blumen niedersetzt, befleckt seine Flügel mit Blut, Blut füllt die Kelche der Tulpen, Schillert als Stern auf dem Boden der Winden Und spült das Korn deines Getreides. Deine Menschen wärmen ihre blauen Hände An der Wachskerze der Schlüsselblume Und hören im Feld den Wind In den Läufen entsicherter Waffen heulen. Land, wo es keine Schande ist, zu leiden, Wo man bewirtet wird mit dem Glas Galle, Auf dessen Grund das Gift der Jahrhunderte lauert. In deinen zerrissenen Abend der nassen nassen Blätter, An Gewässern, in denen immer noch Rost Verfallener Rüstungen der Zenturien fließt, Am Fuße zerschmetterter Türme, Im Schatten der Spindel wie ein Schatten von Aquädukten, Unter dem ruhigen Baldachin aus Eulenflügeln, Der rote Mohn, vom Reif der Tränen geköpft. Reportage 6 – Die Flüchtlinge von heute Arbeit und Perspektiven gibt es wenig im ärmlichen Südosten Polens; junge Menschen zieht es fort – nach Krakau oder nach Rzeszow, die einzige Großstadt in der Gegend. Auch Oleg und Irina Graczov suchen hier ihr Glück. Ihre Heimatstadt Luhansk im Osten der Ukraine haben sie nur sehr ungern verlassen, aber 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs zwingt ein neuer Konflikt in Europa die Menschen zur Flucht. Seit vergangenem August lebt das junge Ehepaar aus der Ostukraine in einem sozialistischen Plattenbau im Stadtzentrum. Oleg ist gerade erst von der Arbeit nach Hause gekommen. In der schmalen Küche isst er im Stehen einen Happen, während Irina, in Hausschuhen und getigertem Morgenrock, Tee kocht. We have a lack of spoons here! Oleg lächelt verlegen. Viele Dinge fehlen ihnen hier noch. Vor allem Geschirr, Tassen, Besteck. Wir haben vor allem Sommerkleidung mitgenommen. Das ist alles, was wir tragen konnten. Während des Waffenstillstands haben wir dann unsere Familie gebeten, einen Teil der Winterkleidung nach Kiev zu schicken und dann kam das mit dem Bus hier an. Aber das ist immer noch ein Problem, denn natürlich kann man nicht alle Kleidung, alle Dinge mitnehmen… Wir haben dort lange gelebt. Wir hatten ein paar wirklich nützliche Dinge, die sind alle noch dort. Aber anders ging es nicht. Irina nimmt die Teetassen, bittet ins Wohnzimmer. Beengt ist es hier, zwischen Bett, Wohnzimmertisch und Regalwand. Was uns gehört? Die Decke, meine Kosmetik, diese kleinen Ikonen da, unsere Blumen. Ihre Heimatstadt Luhansk sagt Irina, sei heute nur noch als Separatistenhochburg bekannt, traurig macht sie das. Daheim hat sie Ukrainische Sprache und Literatur unterrichtet. Anders als Oleg kommt Irina mit Polnisch schon ganz gut zurecht. Viel redet sie trotzdem nicht, und wenn, dann nur sehr leise. Aus einer Dose im Regal holt sie ein Foto hervor: Oleg: It's our wedding photo. It will 10 years this year. Irina: Dziesiec lat bedzie. Ein schlanker dunkelhaariger Mann im Anzug und eine sehr blonde junge Frau im üppigen weißen Kleid sitzen auf einer Wiese, im Hintergrund ein Hochhaus. Fröhlich lächeln beide in die Kamera. Irina ist noch leicht auszumachen, aber Oleg hat sich sehr verändert. Im Gegensatz zu früher ist er fülliger geworden, dunkle Schatten liegen unter seinen Augen. Den Entschluss ihre Heimat zu verlassen, haben die beiden getroffen, als die Kämpfe zwischen Separatisten und ukrainischer Armee im vergangenen Jahr immer näher an Luhansk heranrückten. Nach der Annexion der Krim, sagt Oleg, sei die europäische Antwort doch viel zu milde ausgefallen: Man hätte Russland wenigstens zeigen müssen, dass das kein Witz ist, dass es hier nicht wie im Zweiten Weltkrieg läuft, wo Hitler sich einfach alles, was er wollte, nehmen konnte und dann den Krieg anfing. Wir haben doch dieselbe Situation wieder. Auf Ukrainisch gibt es ein Sprichwort: Der Appetit kommt beim Essen. Irina nickt, verschwindet dann mit dem Handy in die Küche, wo sie mit ihrer Großmutter in Luhansk telefoniert. Ihr lautes Schluchzen ist selbst im Nebenzimmer zu hören. Oleg zuckt hilflos mit den Schultern: It's heavy to leave relatives there. Women!! Es sei schwer, die Verwandten zurückzulassen, und naja, die Frauen eben; er lächelt gequält. Gerade haben die beiden in Polen eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre bekommen, Oleg arbeitet seit ein paar Monaten als Programmierer in einer kleinen Firma. In der Ukraine, meint er, hätte er nur schwer einen Job finden können. Von Polen aus aber, so seine Hoffnung, wird er die Verwandtschaft in Luhansk vielleicht irgendwie unterstützen können. Denn nicht alle hätten das Glück, vor dem Krieg fliehen zu können: Leider können viele Menschen die Stadt nicht verlassen, weil sie sich das Leben woanders nicht leisten könnten. Unsere Eltern sind Rentner, für sie ist es schwierig, irgendwo anders als in Luhansk durchzukommen. Aber wenn der Krieg sich wieder verschärft, dann werden sie die Stadt verlassen, um ihr Leben zu retten. Etwas erschöpft kommt Irina wieder ins Wohnzimmer, lässt sich auf einen Stuhl fallen. Die Gespräche mit denen zuhause seien oft schwer. Nicht nur ihre Eltern, auch der Bruder, die Großeltern sind in der Heimat geblieben. Und noch etwas, sagt Irina sehr leise, habe sie zurückgelassen: Ihr Herz. Der Verlust – Flucht, Umsiedlung, Vertreibung und das vom Krieg gezeichnete Polen. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag, eine Sendung von Johanna Herzing. Redaktion: Katrin Michaelsen. Die Gedichte stammten von Adam Zagajewski und Czeslaw Milosz, erschienen im Hanser Verlag. Gelesen hat sie Jean-Paul Baeck. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Christoph Rieseberg, Kiwi Hornung und Christoph Bette. 1