Deutschlandfunk Gesichter Europas Samstag, 6. März 2010, 11.05 ? 12.00 Uhr Auf Messers Schneide: Jugendgewalt in Großbritannien Mit Reportagen von Ruth Rach Redakteur am Mikrophon: Thilo Kößler Musikauswahl: Simonetta Dibbern ------------------------------------------------- Design Stimmen Musik Mod: Zwei Jugendliche über die Gewalt in Londons Vorstädten? O-Ton 1: Same Postcode? Früher ging es um die größeren Viertel. Heute bekämpfen sich schon die Wohnblocks. Der Krieg kommt immer näher. Bald kämpft Nachbar gegen Nachbar. Mod: ?und ein Sozialarbeiter über die Ursachen der eskalierenden Jugendgewalt O-Ton 2: lack of family? In keinem anderen Land Europas ist der Zerfall der traditionellen Familie derart fortgeschritten wie in Großbritannien. In keinem anderen Land verbringen Kinder so wenig Zeit mit ihren Familien, und so viel Zeit mit gleichaltrigen Peergroups. Mod: Gesichter Europas: Auf Messers Schneide ? Jugendgewalt in Großbritannien. Mit Reportagen von Ruth Rach. Am Mikrophon begrüßt Sie Thilo Kößler. Musik Mod: 12. September 2009, kurz nach 16.00 Uhr ? auf dem S-Bahnhof von München-Solln schlagen zwei Jugendliche den 50-jährigen Geschäftsmann Dominik Brunner zu Boden ? er hatte sich schützend vor vier Teenager gestellt, die von den beiden bedroht worden waren. Brunner strauchelt und fällt zu Boden ? doch wie besinnungslos treten die beiden Gewalttäter weiter auf den Mann ein. Brunner stirbt an Ort und Stelle. Die Staatsanwaltschaft spricht von Mord. Die Brutalität jugendlicher Gewalttäter hat ein weiteres Todesopfer gefordert. Die zunehmende Verrohung unter Jugendlichen ist in ganz Europa ein Thema ? überall wächst die Angst vor enthemmten jungen Schlägern. Wenn Jugendgewalt ein Indikator für den Zerfall einer Gesellschaft ist, dann ist Großbritannien Krisengebiet. Untersuchungen besagen, dass es in keiner der 21 Industrienationen so schlecht um Kinder und Jugendliche bestellt ist wie dort: Viele sind vereinsamt, verwahrlost, auf Gleichaltrige angewiesen. Sie sind drogensüchtig und alkoholabhängig - und ihre Gewaltbereitschaft kennt offenbar keine Grenzen mehr. Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden haben in britischen Städten schon viele Todesopfer gefordert. ATMO Waltham Forest im Nordosten Londons. Ein armes Viertel mit einer Schule, die soziale Problemfälle wie notorische Schulverweigerer oder vorbestrafte Gewalttäter zurück in einen geregelten Alltag holen möchte. Sie sind gerade einmal 16 bis 19 Jahre alt ? und können einem Angst machen. Dabei haben sie selbst die größte Angst. REP 1: Die Angst geht um ? auch bei denen, die Angst verbreiten: Jugendliche im College von Waltham Forest. 1 Atmo Klassenzimmer/ Stimmen ziemlich durcheinander. Slang Schwarze gefütterte Parkas, schwarze Handschuhe, schwere Halsketten. Fünf afrokaribische Jungs und ein Pakistani in einem Klassenzimmer im Waltham Forest College, Ostlondon. 2 Back in the days it used to be shank... Früher haben sie dich nur verletzt, heute wirst du abgeknallt. Oder erstochen. 3 I a sweet boy I dont leave my yard Ich geh nicht mehr aus meinem Revier heraus. 4 Used to go to Seven Kings Früher konntest du bis nach Seven Kings gehen. Jetzt sind dort so viel Banden, da kommst du nicht mehr durch. 5 Respect yeah yeah yea Respekt, Respekt... es geht immer nur um Respekt. Wer bist du? Wen kennst du? Was hast du an dir? Ein Schritt auf ihrem Revier, und du riskierst dein Leben. ?I give you the basics on a gang Sie sitzen dicht beieinander, eine geschlossene Front. 17, 18 Jahre alt ? vorbestraft, vom normalen Schulbetrieb verbannt. Sie ?beklagen? die jüngeren. Die heutige Jugend sei noch schlimmer. 7 It?s gotten wors but it?s not us... Es liegt nicht an uns, es ist die junge Generation Die wollen sich groß machen, für uns. ..for us 8 Protect yourself by who you are .. Wie du dich schützen kannst? Indem du jemand bist. In Edmonton kennen sie uns, aber in Tottenham wirst du abgemurkst. 9 I live in Marsda I live in a ghetto... Ich lebe in Marsda. Im Ghetto. Wenn du zu keiner Gang gehörst, hast du keine Chance in Frieden zu leben. 10 Same postcode but they?re at war Früher ging es um die größeren Viertel. Heute bekämpfen sich schon die Wohnblocks. 11 Literally the estate that you live.. Shanktown Bang Bang Der Krieg kommt immer näher. Bald ist es Nachbar gegen Nachbar. Die Jungs verachten die Polizei. Und die Medien. Von denen würden sie unter Generalverdacht gestellt: jeder ein Krimineller. Neulich wurde einer von ihnen ausgeraubt. Seine Mutter rief die Polizei. Aber die sei nicht gekommen. Jetzt nehmen die Jungs das Gesetz selbst in die Hand. 12 Its getting worse ...got stabbed Ich wurde an Sylvester fast erstochen. Ich hab in zwanzig Tagen drei Freunde verloren. Alle drei tot. Du streitest dich auf einer Party, drei Monate später erkennt dich einer auf der Straße und sticht dich ab. 13 I been shot I've seen knives pistols machetes.. Erst neulich hat einer auf mich geschossen. Meine Schule in Hackney war so schlimm, dass man sie dicht machte. Ich habe Messer gesehen, Pistolen, Macheten, und sogar eine AK 47. ..an AK 47 Ein Schnellfeuergewehr. Jeder, der zu ihrer Gang gehört, ist ihr ?broth?, ihr ?Bruder?. Die Kleineren nennen sie: ?my boy? ? meinen Sohn. Allesamt Sorgenkinder. 14 It starts at year .. Mit elf sind sie noch friedliche Bürschchen. Mit dreizehn sind sie verdorben. Und mit 15, 16 erreichen sie ihr Maximum. Sie beruhigen sich nur wenn sie im Knast sitzen oder tot sind. ?.Only calm down in prison or dead MUSIK Mod: Sie heißen Hoxton Biker Boys, Brick Lane Massive, Peckham Boys oder einfach: Ghetto Boys ? und alle miteinander befinden sich im Krieg. Früher war das ein Krieg der Postcodes, da verliefen die Fronten entlang der Postleitzahlen, Vorort gegen Vorort, Viertel gegen Viertel. Heute werden die Revierkämpfe um Macht und Einfluss, Geld und Ehre immer kleinteiliger ausgetragen - heute tobt der Kampf zwischen Straßenzügen, Siedlungen, Hochhausblöcken: die Gangs splittern sich immer weiter auf. Die Szene wird immer undurchsichtiger. Die Folgen sind fatal: Die Banden bekommen immer neuen Zulauf, weil sich kein Kind mehr traut, ohne den Schutz einer Gang zu bleiben. So werden die Mitglieder der Banden immer jünger ? und ihr Kampf brutaler: Die Kleinsten wollen ihren Mut beweisen und sich gegenüber den Älteren behaupten. Mit wachsender Besorgnis und zunehmender Ohnmacht verfolgen die Behörden, wie der Straßenkampf zunehmend militant wird: der Besitz eines Messers reicht nicht mehr, um in der Gruppenhierarchie zu bestehen. Immer mehr Kids tragen Schusswaffen. Die Täter kennen keine Gnade ? und keine Reue. LIT 1: Gerhard Rühm: Auf und ab 0.22 Du blickst mich an Gehst auf und ab Dann schaust du weg Gehst auf und ab Und blickst mich an Gehst auf und ab Gehst fort und kommst Gehst auf und ab Kommst näher und Schaust wieder weg Und blickst mich an Gehst auf und ab Bis ich dich pack Und hab. Mod: Die Gewalt nimmt überall dort zu, wo die Armut wächst. Wie weit die Schere zwischen arm und reich mittlerweile auseinander geht, das lässt sich in jenen Wohnquartieren ablesen, die zu sozialen Notstandsgebieten verkommen sind und zu No go areas wurden. Hier leben die, die wenig zu tun haben und nichts mehr zu erwarten. Das trifft Ausländer und Inländer gleichermaßen. Das Problem der Jugendgewalt wird in Großbritannien ? anders als bei uns ? nicht vor dem Hintergrund der Zuwanderung diskutiert. Die meisten Jugendlichen, die gemeint sind, haben einen britischen Pass. Es geht also nicht um Minderheit oder Mehrheit, um schwarz oder weiß, um Christen, Hindus oder Moslems. Es geht um oben und unten. Um arm oder reich. Es geht ums Überleben. ATMO Zum Beispiel im Grand Park Estate im Norden Londons. Auf dem Areal eines ehemaligen Flughafens steht heute eine heruntergekommene Siedlung des sozialen Wohnungsbaus: ein abgeschottetes Ghetto, in dem die Wohnungen so klein sind, dass noch nicht einmal ein gemeinsamer Familientisch hineinpasst. Die meisten Väter haben sich davon gemacht, die allein erziehenden Mütter sind auf sich gestellt. Und die Kids gehen auf die Straße: In dem sozialen Großstadt-Dschungel suchen sie nach einer Identität der Stärke. REP 2: Vom Flughafen zum Ghetto des sozialen Wohnungsbaus: Das Grand Park Estate als Gewaltkulisse 1 Atmo Busbahnhof (1 min) Der Busbahnhof liegt direkt unter der Autobahn. Graue Wände, verschmierte Graffiti. In der Ecke Jungs mit Kapuzenpullis, Kampfhund und Handy. 2 Mike :This is typically a place where violence will break out Eine typische Gewaltkulisse. Vor allem nach dem Unterricht. Die Kinder kommen aus verschiedenen Schulen und warten hier in Riesenklüngeln auf den Bus. Am meisten Respekt bekommst du, wenn du es schaffst, deine Gruppe gegen einen Außenseiter aufzuhetzen. Jetzt fahren um diese Tageszeit immer Polizisten mit. ... to keep things calm. Mike Jenn ist seit dreißig Jahren Streetworker. Er hat große milde Augen, trägt einen ausgebeulten Kordanzug, und schiebt ein zerdelltes blaues Fahrrad. Dies ist sein letzter Tag im Grand Park Estate. 3 Atmo Estate Mitten durchs kalte Herz der Siedlung, eine lange, schnurgerade Schneise. .. Atmo Estate/ 4 Mike: In 1913 the World?s first commercial passenger aircraft Im Jahr 1913 startete hier der erste kommerzielle Passagierflieger der Welt. Wir stehen mitten auf dem ehemaligen Flughafen von Hendon. Die Siedlung wurde auf beiden Seiten der Start und Landebahn hochgezogen. Daher die Straßennamen: Flightway und Flightpath. .... it?s actually the runway. 5000 Menschen wohnen in der Siedlung. Im gelben Sodiumlicht vier bis sechsstöckige Häuserblocks im Stil der 60er Jahre. Kein sozialer, sondern asozialer Wohnungsbau. 5 Mike: If you choose people to get social housing on the basis of Die Wohnungen werden nach Bedürftigkeit vergeben. Das führt dazu, dass hier nur Problemfamilien leben. Dicht an dicht. Das kann nicht gutgehen. Die Leute haben keine Erwartungen, keine Perspektiven, und keine soziale Kontrolle. ?dont have any hope of getting out of the place. Die Wege sind verlassen. Die Leute verschanzen sich in ihren Wohnungen, sagt Mike Jenn. In der Ferne brummt die Autobahn. 6 Mike: Initially it was made for poor white ? Eigentlich wurde die Siedlung für arme weiße Arbeiterfamilien gebaut. Heute sind?s Afrokariber, Asiaten, Somalis, und immer mehr Osteuropäer. Die Blocks sollten längst renoviert werden. Viele Familien sind ausgezogen. Aber wegen der akuten Wohnungsnot kommen immer wieder welche nach. Ein Durchgangslager. Niemand kümmert sich. Nichts hält diese Leute zusammen. ?..poor effect. Why should they care about the place. 7 Atmo Estate (man hört Flieger) Die Plaza, ein massiges Becken aus Beton. Am Rand: Billigläden, Take Aways, eine Drogerie. Beratungsstellen. Eine Polizeistation, grell beleuchtet, leer. Das Gemeinde-Cafe gibt's schon lang nicht mehr, aber das hatte ohnehin nur immer Dienstag nachmittags offen. Manchmal kommen die Leute in der kleinen kurdischen Bäckerei zusammen, aber den zwei Bäckern wird?s allmählich zu viel. 8 Mike: Because of the way the places were let according to need .. Eben weil soziale Härtefälle bei der Zuteilung der Wohnungen oberste Priorität haben, wohnen hier vor allem junge alleinstehende Mütter und kinderreiche Familien. Fast die Hälfte der Bewohner ist unter 25. Es gibt viel zu wenig Erwachsene. ?not enough adults Mike Jenn bleibt vor einem Büro stehen, in fröhlichen Geld, Rot und Blautönen bemalt. Der One Stop Shop, eine Informations- und Anlaufstelle, das soziale Flaggschiffprojekt der Labour Regierung. 9 Atmo Alarmanlage, Tür Telefon Er entsichert die Alarmanlage. Die Mitarbeiter sind schon weg. Irgendwo klingelt ein Telefon. One Stop Shops bieten verschiedene Hilfeleistungen unter einem Dach: bei Übersetzungsproblemen, bei Behördengängen. ?Erschließe dein Potential, steht auf einem Poster?. Im Regal stapelweise Broschüren: ?Allein mit Kind ? was tun?? 10 Atmo laut Musik/ you wont get it.. Hinter dem One Stop Shop eine Feuertreppe zum ersten Stock. Dort hat die Kommune ein neues Jugendzentrum eingerichtet. Es enthält einen großen Computerraum und ein hochmodernes Rundfunkstudio. Die Ausrüstung hat mehrere zehntausend Pfund gekostet. Im Raum sitzen drei Kinder. 11 Kind am PC (erklärt) I? making up an advert about going down.. Ein zehnjähriger beugt sich angestrengt über seinen Bildschirm. Er entwirft einen Werbespot über einen Ausflug nach London. In den Buckingham Palast Seine Hausaufgabe. 12 Platte/ Musik Am Plattendeck lässt sich ein Mädchen von einem Disk Jockey technische Tricks erklären. 13 Girl: I enjoy scratching it and repeating the tune.. Sie träumt davon, später mal fürs Radio zu arbeiten. In der Ecke hockt ein somalischer Youthworker. Er starrt vor sich hin. 14 Im Studio/ Peter anno Ein Teenager stottert ins Mikrophon. 15 Peter : Now its 5. 23, / ?.and Peter Kelland he is autistic ... Das ist Peter, er ist autistisch. Im normalen Leben hat er keine Stimme. Keins dieser Kinder wohnt auf dem Grand Park Estate sondern weiter draußen. Sie werden von ihren Eltern hergebracht, weil die das Projekt gut finden. Die Jugendlichen vom Grand Park Estate bleiben weg. 16 Atmo verklingt / im Freien MUSIK Lit 2: Thomas Brasch: Ich hab die Nacht geträumet 0.34 Ich hab die Nacht geträumet Ich bring dich endlich um Und hab auch nichts versäumet Dein Blut floß so herum Ich hab die Nacht geträumet Ich weiß nicht wohin mit Dir Dein Totleib aufgebäumet Hielt sich so fest an mir Ich hab die Nacht geträumet Du bist doch gar nicht tot Stand auf hab aufgeräumet Bin noch jetzt in Not MUSIK Mod.: Wo immer mehr Kinder zu Opfern jugendlicher Gewalt werden, steht die Zukunftsfähigkeit einer ganzen Gesellschaft auf dem Spiel. Dann muss sich die Gemeinschaft fragen, was da falsch gelaufen ist. Britische Soziologen verweisen auf einen lang anhaltenden familiären Erosionsprozess - wenn das Verhältnis zum Nachwuchs schon im traditionellen Familienverständnis gestört war, so ist es jetzt zerrüttet. Von einem allgemeinen Werteverfall ist die Rede, aber auch von fehlender Fürsorge, von Vernachlässigung, von psychischer Ignoranz. In den Vorstädten Londons, Liverpools und Glasgows lässt sich ablesen, wie weit der gesellschaftliche Zerfallsprozess im Zeichen der sozialen Spaltung bereits vorangeschritten ist: Die Kinder, die dort aufwachsen, haben jedenfalls kaum Chancen, dem Kreislauf aus Armut, sozialer Abhängigkeit, Sucht und häuslicher Gewalt zu entfliehen. Stattdessen folgen sie dem Gesetz der Straße ? und das meint denkbar klare Verhältnisse: Wer sich nicht beugen will, muss fühlen. Respect ist die Vokabel, die im Zentrum dieser archaischen Denk- und Handlungsweisen steht. Der Respekt wird mit allen Mitteln eingefordert ? erwartet wird unbedingter Gehorsam, Gefolgschaft, Unterwürfigkeit. Ein hierarchischer Ehrenkodex, der sich in den Videoclips der Musiksender wiederfindet: Der von HipHop-Stars verherrlichte Lebensstil im Ghetto gibt das Leitbild vor. ATMO Mike Jenn kennt die Regeln ? mit nichts anderem hat er sich sein ganzes Berufsleben als Sozialarbeiter beschäftigt. Wenn er jemals geglaubt haben sollte, dass er grundsätzlich etwas verändern könnte ? so war das eine Illusion. Und doch kennt Mike Erfolgsgefühle. REP 3: Der Weg ist das Ziel: Der Sozialarbeiter Mike Jenn und die Bilanz eines Berufslebens 1 Atmo Centre Müde aber nicht bitter. 30 Jahre lang hat Mike Jenn auf der Straße gearbeitet. Mit drogensüchtigen Kindern, Obdachlosen, Vorbestraften. Die meisten kamen aus gewalttätigen Familien. 2 Jenn: They were suffering, and they were making everybody suffer.. Sie haben gelitten. Nun sollten alle anderen dafür büßen. ?the ones who were hurting and hurting everybody else. Mike Jenn sitzt in einem Cafe im Talacre Centre, ein modernes Gemeinschafts-Zentrum im Londoner Stadtteil Camden. Mitte der 70-er Jahre hat er hier eine alternative Schule aufgemacht, aber die ist längst geschlossen und niedergewalzt. Schon damals las er Schulschwänzer von der Straße auf. 3 Jenn: Adolescents need to be like other adolescents.. Jugendliche haben ein tiefes Bedürfnis, wie andere Jugendliche zu sein. Sie brauchen einen Ort, wo sie zusammen sein können. ... to have something they can go to. Viele Teenager waren Analphabeten. Brauchten Monate, bis sie Vertrauen schöpften. An Raz erinnert er sich besonders gut. 4 Jenn : Raz he didnt have a father.. Raz hatte keinen Vater, er war total verwildert. Halb Asiate, halb Weißer. Einmal hab ich seine Mutter auf der Straße getroffen, aber ihr war?s egal, wie es ihrem Sohn ging. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Ich glaube sie war drogensüchtig. Raz kam, weil wir die einzigen waren, die ihn positiv behandelten. ?..I think it is true that children will only really modify their behaviour Kinder werden ihr Verhalten nur dann ändern, wenn sie eine persönliche Beziehung zu jemanden haben, der ihnen wichtig ist. ....... otherwise you are just another person and why would they listen to you.. 5 Atmo child Hi mummy/ Hya... Nach fünf Monaten sagte Raz, er könne nicht lesen. Mike Jenn begann mit den Sportseiten. ?Wie buchstabiert man Arsenal?? Wer ist in der Spitzenliga?? Wieviel Punkte? Wieviel Tore? Mike Jenn weiß nicht, was aus Raz geworden ist. Vier der zwölf Jungs in seiner Klasse sind tot. 6 Straßenatmo/ Stimmen Ist die Gewalt unter Jugendlichen eigentlich schlimmer geworden? 7 Jenn: Things have changed but human nature does not change Die menschliche Natur ändert sich nicht, sagt Mike. Aber die Bedingungen haben sich gewandelt. Er schiebt sein altes Fahrrad durch Kentish Town, ein Bezirk in Nordlondon. Türkische Doner Buden, polnische Delikatessen. Anwaltsbüros spezialisiert auf Visafragen, Asyl- und Aufenthaltsrecht. Spielhallen, ein Internet Cafe. Keine Ballspiele, steht auf einem Spielplatz. In einem Fenster das Schild: Achtung Kampfhund. 8 Jenn: If you spend all your time ? Die Jugendlichen werden von allen Seiten mit Gewalt und Aggression bombardiert: in Filmen, Fernsehen, Werbung, Computerspielen. In Großbritannien hat sich ein ungeheurer Materialismus breitgemacht. Das erzeugt unrealistische Erwartungen: ...... the sort of ?I must have it now culture?.. Jeder will alles haben, und zwar sofort. Je mehr alles vom Status, vom Image abhängt, desto schneller fühlen sich Menschen, vor allem Jugendliche, narzistisch verletzt. ....self image easily can be so easily damaged. 9 Jugendliche schreien Mike Jenn bleibt stehen um einen Klüngel von Jugendlichen vorbeizulassen. Er lehnt sich an sein Fahrrad. In den dreißig Jahren Jugendarbeit ist er kein einziges Mal schwer verletzt worden. Einmal schickte ein aufgebrachtes Mädchen ihren Freund vor. Er sollte Mike Jenn zusammenschlagen. 10Jenn: This young man came flying up the stairs.. Er stürmte die Treppen hoch. Aber ich bewegte mich nicht von der Stelle. Er spürte, dass ich keinerlei Angst oder Aggression in mir hatte. Das hat ihn entwaffnet. ?that actually disarmed him effectively. Mike schwingt sich auf sein Fahrrad. Ein paar Ecken weiter liegt sein Schrebergärtchen. An seinem 60. Geburtstag hat Mike Jenn beschlossen, sich nur noch seinen Pflanzen zu widmen. Und seiner Familie. Sie hat ihm die Kraft gegeben, so lange durchzuhalten. Aber jetzt will er nicht mehr. Mike Jenn ist müde. 9 Jenn: In the end, the only thing that?s gonna be healing for them? Du musst das Schlimmste akzeptieren, das dir die Kinder geben können. Erst dann ist eine Heilung möglich. Einmal hatte ich einen Jungen, der verhielt sich so extrem, dass jeder vor ihm zurückwich. Seine Mutter hatte sich vor seinen Augen die Pulsadern durchgeschnitten und war gestorben. Als Lehrer musst du das Leiden dieser Kinder auf dich nehmen. Das ist ein eigenartiger Dreh. Du musst für ihre Vergangenheit bezahlen. Ihr Leiden muss abgegolten werden. ?redeem their suffering. It?s a curious twist. You have to pay for the past somehow. It .has to be paid for. MUSIK Lit 3: Aus Georg Büchners Woyzeck: Das Märchen der Großmutter 0.57 Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter War alles todt und war niemand mehr auf der Welt. Alles todt, und es ist hingegangen und hat greint Tag und Nacht. Und weil auf der Erd niemand mehr war, wollt´s in Himmel gehen, und der Mond guckt es so freundlich an und da ist es zur Sonn gangen und wie´s zur Sonn kam, war´s ein verreckt Sonneblum und wie´s zu den Sterne kam, waren´s klei golde Mück, die waren angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt und wie´s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich´s hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist ganz allein. Mod: Die einen ziehen sich hinter die Schutzmauern bewachter Wohlstandsquartiere zurück, die anderen leben in gesellschaftlich ausgegrenzten Ghettos ? doch nicht nur physisch wird die Kluft zwischen den sozialen Welten immer größer, auch in den Köpfen haben sich die Klassenunterschiede verfestigt. Die Gesellschaft will mit den Ausgeschlossenen nichts zu tun haben, Polizei und Justiz kommen nicht mehr an sie heran. Und die Erfahrung lehrt: Noch härtere Strafen und noch schärfere Gesetze bringen nichts. Die Briten haben bereits ein rigides Jugendstrafrecht, das in Europa seinesgleichen sucht. Britische Kinder sind schon im Alter von 10 Jahren strafmündig. Eine Höchstgrenze für Sanktionen gibt es nicht. Seit 1998 werden die sogenannten ÁSBOs verhängt ? Antisocial Behaviour Orders, eine Art Strafmandate für Fehlverhalten, denen auf Antrag der Amtsgerichte schnell Haft folgen kann. Diese Kinder sind Kamikaze- Kids, sagen Experten: Sie haben schon so viel Gewalt erlebt, dass staatliche Sanktionen sie nicht mehr beeindrucken können. Im Gegenteil: Sie brüsten sich damit. ÁSBOS gelten als Ehrenorden. Und so ist die Gewaltkriminalität von Jugendlichen trotz aller Abschreckungsversuche weiter gestiegen. Mehr noch: Die Mädchen haben in der Statistik nachgezogen ? schon ist die Rede von einer verhängnisvollen Emanzipation. Das Gewaltpotential der jungen Frauen steht dem der jungen Männer in nichts mehr nach. ATMO: Ein Morgen im Osten Londons ? im Waltham Forest College beginnt für Angela Harvey der Schultag. Angela Harvey ist Lehrerin. Sie ist schwarz, intelligent, tough ? und sie weiß, dass das Schulsystem seinen Anteil an der ganzen Misere hat: Die Schule hat nicht nur bei der Vermittlung von Wissen versagt, meint sie, sondern auch bei der Vermittlung von Werten. Deshalb macht Angela Harvey alles ganz anders ? sie holt die Kinder dort ab, wo sie sind. Ganz unten. REP 4: Zuwendung mit Konsequenz: Die Lehren der Lehrerin Angela Harvey 1 Atmo Schule Atmo Korridor, Angela unterhält sich mit Kollegen, dann geht sie in die Klasse, man hört die Tür, sie ruft die Mädchen auf. Ihre Vorgängerin wurde von den Mädchen niedergeschrien und ausgesperrt. Niemand wollte die Klasse übernehmen. Außer Angela Harvey. Sie wird von den Teenagern akzeptiert. Dennoch ist das Klassenzimmer heute verdächtig leer. Und das ist ungewöhnlich. 2 Angela: Sara no Amina no... Was steckt dahinter? fragt Angela Harvey. Knallrote Strümpfe, Stöckelschuhe. Schwarzes Kostüm, Bolero. Um die 30. Ihr Afrohaar zu einem borstigen Pferdeschwanz gebunden. Mit milder Ironie blickt sie auf ihre halbleere Klasse: 5 Mädchen, ein Junge, zwischen 16 und 18 Jahre alt. Melanie Jones, die Collegeleiterin, erscheint an der Tür. Sichtlich beleidigt. Sie beginnt ein Kreuzverhör. Die Teenager bocken. 3 Melanie: (im off ) This little one ?s in where were you yesterday? Eigentlich war das eine wunderbare Woche ohne Kinder. Schwänzerinnen können sich auf etwas gefasst machen. ..Atmo tratschen Die Teenager tuscheln. Sie sind mit sich selbst beschäftigt. ?Polizei? ist zu hören, und ?Boyfriend?, ?Panikanfall?, Banden und ?Sozialarbeiter?. Angela Harvey gibt ihnen erst mal eine Beruhigungspause. ...Meet back in the original room.. Früher oder später werden ihr die Mädchen sagen, was passiert ist. 4 Atmo im Freien/ Sie schnappt kurz frische Luft. Angela Harvey kommt aus stabilen Verhältnissen. Ihre Eltern stammen aus Jamaica. Die Mutter war Augenärztin, der Vater Pilot in der britischen Luftwaffe. Im zweiten Weltkrieg kämpfte er für Großbritannien. 5 Angela: They were sort of ?education education education.. .Meine Eltern schickten mich aufs beste Gymnasium: Erziehung, Erziehung, Erziehung Ich wusste ganz genau, ich muss als Schwarze besser sein, damit ich behandelt werde wie die Weißen. ?..Still in the knowledge that you had to be better to be equal. Angela Harvey will mit Kindern arbeiten, die weniger gute Voraussetzungen haben. Ihre Schüler können nicht richtig schreiben und lesen und kennen Englisch zumeist nur als Zweitsprache. 6 Atmo Klassenzimmer Rostige Stühle, klebrige Tische, ein Mädchen lackiert sich die Fingernägel. Heute soll jeder Schüler ein Referat über einen Modeschöpfer halten, anschließend eine Diskussion leiten ? und die Arbeit der Mitschüler kommentieren. 7 Schüler/ How do you spell Gaultier? (Durcheinander?) Wie buchstabiert man Gaultier? Hör doch zu, Mann! Kerri, wie schreibt man eigentlich deinen Namen? Miss, wie spricht man dieses Wort aus? Und was bedeutet das überhaupt ?confident? - selbstsicher? .. what does that mean, confident? Angela Harvey erklärt, lobt, freut sich. Hauptsache, sie machen Fortschritte. Die Texte und Illustrationen könnten von Zehnjährigen stammen. Dabei wirken die Girls so cool, so erwachsen. Radua, halb ägyptisch halb polnisch, türkisfarbene Augen, blauer Turban, schicke gelbe Jacke, goldene Schuhe. Alija, der Vater aus Kenia, die Mutter aus Somalia, ganz in pink durchgestylt. Und Sarena, aus Pakistan, knallrote Fingernägel, Piercings, Decollete. 8 Angela In the past we talked about what their most embarassing moments was.. Am Anfang des Trimesters haben sie einen kleinen Text über den peinlichsten Moment in ihrem Leben verfasst. Ein Mädchen schrieb; ich stand mitten auf dem Schulhof, als ein Vogel auf meinen Arm machte. Und ein anderes Mädchen: ich war in meinem Haus, in Somalia, dann kamen die Soldaten und fingen an zu schießen, ich rannte weg, und merkte erst später dass ich gar keine Kleider anhatte. ?.. that I did not have any clothes on I felt very embarassed. Die letzte Stunde: Staatsbürgerkunde. Die Teenager sollen sich vorstellen. Woher komme ich? Wer bin ich? Es geht um kulturelle Vielfalt, Zusammenleben, Harmonie. 9 Sie stellen sich vor: My name is Radua ... Sechs Schüler - fünf Sprachen. Polnisch, Arabisch, Urdu, Türkisch, Barawa. Keri ist die einzige Engländerin. Ihre Religion: Pagan - vorchristlich. Was ist denn das, wollen die andern wissen. Sie sind alle Muslime. Sie mokieren sich über Sevil ? ein blasses dünnes Kind. Sevil ist Kurdin, in London geboren und aufgewachsen. Aber ihr Englisch ist kaum zu verstehen. Beide sind Außenseiter. 10 Diskussion bullying/ ?Engelland?/ Shut up.. Angela Harvey hakt nach: wer wurde schon einmal gemobbt ? Alle nicken. Das ist wie ein Gruppenritual, erzählen die Teenager: sich gemeinsam auf einen Außenseiter zu stürzen, das schweißt eine Gang zusammen. Da helfe nur eines: keine Schwächen zeigen und selbst zu einer Bande zu gehören. 11 Girls : They wanna show they big .. Ja, auch Mädchen sind gewalttätiger geworden, sie wollen zeigen, dass sie genauso hart sind wie Jungs. Aber die Jungs haben damit angefangen. Sie haben vor niemandem mehr Respekt. Manche sind so schlimm, sie schlagen sogar ihre Mütter zusammen. .. thats how bad it is/ 12 Atmo in der Klasse der Jungs Am Nachmittag steht Angela vor ihrer schwierigsten Klasse. Es ist auch ihre liebste. Eine Gruppe schwarzer und asiatischer Jungs zwischen 17 und 18. Allesamt vorbestraft. 13 Angela They seem quite intimidating to people Sie können ziemlich bedrohlich wirken, aber ich erlebe sie ganz anders. Sie müssen ständig von einer Rolle in die andere wechseln um zu überleben. Muslimische Jungs, die daheim fromm fasten und beten, aber auf der Straße Rap Musik hören, fluchen und auf den Putz hauen weil sie jeden Tag aufs Neue beweisen müssen wie hart sie sind. ?..showing he can be tough 14 Angela / register: Kevin Peter Patrick Quame , Husein.. Angela Harvey trägt ihre Jungs ins elektronische Klassenbuch ein. Sie sind alle da. Vielleicht liegt das am Projekt : sie sollen ein Videospiel entwickeln, in dem sie ihre eigene Welt entwerfen. 15 Angela: Its a way of getting them to show me their literacy skills.. Auf diese Weise arbeiten wir an dem was wir gemeinsam gelernt haben, ohne dass sie es merken. Wir diskutieren über Menschenrechte, über Verbrechen, Strafe. Jetzt entscheiden sie: Wie sieht ihre ideale Welt aus? Und wer hat die Macht? ?.is it a democracy.. Eigentlich heißt auch dieses Fach Staatsbürgerkunde, doch das weiß nur Angela Harvey. Sie erwartet blutrünstige Videowelten, aber es kommt ganz anders. 16 Nikita: My world space people Nikita hält ein Blatt Papier hoch. Darauf hat er einen Marsmenschen gezeichnet. Und einen Marshund. Ungelenk, ein naives Kinderbild. In seiner Welt leben Erdbewohner und Marsmenschen friedlich nebeneinander. 17 Mathew: Unterwater harmony Mathew hat sich eine Unterwasserwelt ausgedacht. Stolz zeigt er seine Gemälde: Delphine, Meerjungfrauen, Märchenkreaturen, die höchstens in Olympiaden gegeneinander antreten, niemals im Krieg. ...Atmo verklingt Auch die anderen Jungs entwerfen Utopien, linkisch und liebevoll, ohne Banden, ohne Gewalt, und voller Harmonie. Passt gut auf euch auf, sagt Angela Harvey, am Ende der Stunde. 18Jungs dann 19 Verkehr und Auto.. Nach dem Unterricht fährt sie heim nach Islington. Eine ?bessere? Gegend. Hier ist der Alltag zu gefährlich ? besonders für junge Männer. Viele tragen Schutzkleidung, wenn sie auf die Straße gehen. Nach Möglichkeit schuss-sichere Westen. Oder ein Stück Holz unter dem T-Shirt. Angela Harvey bestraft sie nicht, wenn sie keine Schulsachen dabei haben. Manche wurden überfallen und schwer verletzt, nur weil sie zum Unterricht gingen. Angela Harvey hat Angst um sie ? vor allem um Quame. 20 Angela : Quame, the tall one Quame, der ganz große Kerl, der hat so viel Potenzial, Er ist hell, er ist wortgewandt, in einem anderen Umfeld wäre er sicher Rechtsanwalt geworden. Aber weil er so groß ist, fällt er überall auf: er ist der erste, den die Polizei kleinmachen will, und der erste, den eine Gang niedermachen will - einfach nur deswegen, weil sein Äußeres bedrohlich wirkt. ?because he is visually threatening.. What?s scary is.. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Klasse aufrufe - wo ist der und der - und die Schüler sagen, Miss, der wurde gestern abend erschossen, 21 Angela Whats really scary if it goes on like this one day in class where is so and so ?..He got shot last night Miss./ 22 Verkehr MUSIK Lit 4: Thomas Brasch: Oft bist Du der, den ich liebe 0.30 Oft bist Du der, den ich liebe Oft bist Du der, den ich hasse Viel seltener jedoch. Auch der bist Du, vor dem ich mich fürchte. Du bist der, der mich schlägt Du bist der, der mich streichelt Du bist der, der mir sagt, wer ich bin Du bist der, der mir sagt, was ich kann. Du bist der, der schreit Und du bist der, der flüstert Alles bist Du. Aber nie wirst Du der sein, der immer hier bleibt. Mod: Der Befund ist eindeutig: Das Ausmaß der Gewalt mit Messern und Schusswaffen und unter Einfluss von Drogen oder Alkohol hat dramatische Ausmaße angenommen. Die Anamnese ist lückenlos: Jeder 5. Brite gilt als arm und verdient weniger als 60% des Durchschnittseinkommens. Ein Teil der Gesellschaft hat den sozialen Anschluss bereits verloren ? die Angst vor dem sozialen Abstieg hat längst den Mittelstand erfasst. In dieser Atmosphäre werden gesellschaftliche Regeln und Grenzen zunehmend außer Kraft gesetzt und missachtet. Das sind die Krankheitssymptome. Doch das Rezept lässt auf sich warten. ATMO My Generation, heißt ein Jugendzentrum, das mitten in den North Kensington Estates im Westen Londons steht, einem der berüchtigten sozialen Brennpunkte. Shaun Bailey hat es aufgebaut ? er ist Streetworker und sozialer Vordenker: vor ein paar Jahren veröffentlichte er in der Sunday Times einen Sechs-Punkte-Katalog gegen Jugendgewalt. Ein Plädoyer für klare Grenzen und moralische Maßstäbe. Und ein politischer Appell, sich den Problemen zu stellen und auf die Jugendlichen zuzugehen. Nun wird er Politiker. Er wird bei den nächsten Parlamentswahlen kandidieren. Für die Tories, die britischen Konservativen. REP 5: Einer, der zum Vorbild taugt: Shaun Bailey, Streetworker, Verfechter klarer Worte und Hoffnungsträger 1 Atmo Street Westbourne Park, Westlondon. Marokkanische Cafes, pakistanische Billigläden, karibische Essbuden. Unter der Autobahnbrücke, ein Busdepot. Südlich der tiefen Bahnschneise wohnt die Schickeria von Notting Hill. Filmstars, Banker Politiker. Auf der anderen Seite in den berüchtigten North Kensington Estates tausende von Problemfamilien. 2 Shaun: Lack of family ? Britain has suffered in Europe... In keinem anderen Land Europas ist der Zerfall der traditionellen Familie derart fortgeschritten wie in Großbritannien. In keinem anderen Land verbringen Kinder so wenig Zeit mit ihren Familien, und so viel Zeit mit gleichaltrigen Peergroups. For us peer group is much more powerful than the family now. Shaun Bailey, ein schwarzer Streetworker. Muskulös, durchtrainiert. Charismatisch. In in den North Kensington Estates aufgewachsen. Ohne Vater, wie die meisten Jungs afrokaribischer Herkunft. 3 Shaun: My father left very early, before I was one Mein Vater verschwand, bevor ich ein Jahr alt war. Aber ich hatte eine Großfamilie, Freunde, Bekannte, Nachbarn, die sich um mich kümmerten, und dafür sorgten, dass ich nicht vom richtigen Weg abkam. Heute mischt sich niemand mehr ein, wenn es um fremde Kinder geht. ?nobody interacts with children that aren?t their own. Konzentriert. Zugewandt. Entschlossen. Wenn Shaun Bailey die Teenager in den North Kensington Estates anspricht, kommt er durch. Nicht gleich, oft dauert es Monate, bis sie mit ihm einen Kaffe trinken, vielleicht sogar zur Sporthalle mitkommen .. 4 Atmo community centre .. und schließlich zu seinem Zentrum ?My Generation? ? mitten auf den North Kensington Estates. Shaun Bailey kennt ihre Familie, ihre Freunde, ihre Lebensumstände. Er lässt sich nichts vormachen. Er spricht ihre Sprache. Und nimmt kein Blatt vor den Mund. 5 Shaun: Just because you?re black doesn?t excuse your behaviour.. Nur weil du schwarz bist, und einen schlechten Start im Leben hattest, entschuldigt das noch lange nicht dein ganzes Verhalten. Diese Einstellung wird von der weißen Mittelschicht gefördert: weil sie sich den Schwarzen gegenüber schuldig fühlt, lässt sie oft Dinge durchgehen, die schlichtweg nicht akzeptabel sind. ? meant that people are not being challenged but excused for their behaviour. 6 Telefon/ Hello/ Lydia and Rabell sprechen Im Gemeinschaftszimmer geht Lydia, eine Betreuerin, mit einem Teenager einen Stapel von Broschüren durch 7 Lydia: They got no ambition, low esteem, their mom hasnt worked Sie haben keinen Ehrgeiz, keine Selbstachtung, keine Ziele. Keine positiven Vorbilder. Ihre Eltern haben nie gearbeitet. Niemand kümmert sich. Wir helfen ihnen sich selbst zu helfen. ....We want you to be independent from us Rabel, 21, will Elektriker werden. Jetzt sucht er einen Platz an einer Berufsschule. 8 Rabel: To tell the truth I come out of prison... Ich kam vor drei Wochen aus dem Gefängnis, ich saß 12 Monate im Knast. Das war ziemlich übel, aber ich hab versucht, mich fortzubilden, und ging nach meiner Entlassung sofort zu Shaun. Am nächsten Tag fing ich an, auf dem Bau zu arbeiten. ..straight back to work Gar nicht erst Langeweile aufkommen lassen, sagt Shaun Bailey. Als Teenager war er selbst nahe dran, sich aus dem Bildungsweisen auszuklinken. Er war ein schwacher Schüler. Aber zwei Dinge haben ihn aufgebaut. 9 Shaun: I was a member of the Cadets ? Ich war Mitglied der Armeekadetten. Und ich gehörte zu einem Gymnastik Team. Die Armeekadetten brachten mir Disziplin bei. Und das Gymnastik Team half mir aus meinem Umfeld herauszukommen. Ich reiste zu Wettbewerben nach Kontinentaleuropa, in die USA. Das hat meinen Horizont erweitert: Ich sah: meine Sozialsiedlung ist nicht die ganze Welt. ...... estate was not the entire world. Bandenkämpfe sind nicht nur ein schwarzes Problem, sagt Shaun Bailey. Im schottischen Glasgow gibt es schon seit Jahrzehnten weiße Gangfights. Aber in vielen Problemvierteln leben besonders viel Schwarze. Deswegen sind sie besonders betroffen, als Täter und als Opfer. Lokale Initiativen wie sein Projekt funktionieren am besten, sagt er. Seine Mitarbeiter müssen sich nicht einarbeiten. Sie kennen das Milieu, aus erster Hand. 10 Shaun: We have a leadership course.. Die härtesten Jungs kommen in meinen Führungskurs. Sie müssen sich bewähren. In Sportturnieren, in Rollenspielen. Ich hinterfrage ihr Verhalten. Viele haben es nie gelernt, sich verbal auszudrücken. Viele glauben, sie hätten keine Zukunft. Ein Großteil unserer Arbeit besteht darin, mit ihnen ein Zukunftskonzept zu entwickeln. ....we call it futurism. 11 Telefon/ He asks for Noman?s Land Shaun Bailey hat eine vielbeachtete Studie geschrieben. No Man?s Land. Der Titel ist ein Wortspiel: ?Niemandsland?. Aber auch ?Keines Mannes Land. Ein Land ohne Väter.? In dem Buch geht Shaun Bailey hart mit der britischen Gesellschaft ins Gericht. 12 Shaun: In Britain the cry is where is the state ? In Großbritannien heißt es ständig, wo ist der Staat, der soll doch etwas unternehmen. Aber der Staat kann nicht Familienvater spielen, je mehr er interveniert, desto mehr werden die Bürger entmündigt. Und je stärker das soziale Wohlfahrtssystem ausgebaut wird, desto tiefer bleiben die Menschen in der Armutsfalle stecken. ...traps people in poverty Shaun Bailey ist auch in der Politik aktiv. Die Konservativen haben ihn als Kandidaten für den Wahlkreis Hammersmith aufgestellt. Wie viele Konservative ist auch Shaun Bailey der Meinung, dass das britische Multi-Kulti-Modell zu weit gegangen ist. Denn es habe mehr zur Abschottung von Minderheiten beigetragen, als sie zu integrieren. 13 Shaun : Multiculturalism in Britain has served a purpose but Das britische Multi Kulti Modell bestärkt Minderheiten darin, sich als Opfer zu fühlen. Ich sage meinen Jungs, es ist höchste Zeit, aus aus der Opferecke herauszukommen. ?to be victims which is just terrible. Shaun Bailey weiß wovon er spricht. Bei Rabel ist seine Botschaft schon angekommen. 13 Rabel Sometime I work from 8 in the morning Ich arbeite von 8 Uhr früh bis 8, manchmal sogar bis 11Uhr abends. Niemand bekommt mich zu Gesicht. Ich will mich nie mehr in Revierkämpfe einmischen. Meine Lehre ist meine Investition in meine Zukunft. Es gibt keine Entschuldigung. ...there is no excuses. MUSIK Mod: Das waren: Gesichter Europas. Auf Messers Schneide ? Jugendgewalt in Großbritannien. Mit Reportagen von Ruth Rach. Die Gedichte hat Michael Braun ausgesucht, die Musikauswahl traf Simonetta Dibbern. Und am Mikrophon verabschiedet sich ? mit Dank an Ton und Technik ? Thilo Kößler. MUSIK hoch Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar ? 2