COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Nachspiel vom 28.10.2007 ?Konkurrenz für Amazonen ? Wie man Jungs aufs Pferd bekommt? Von Kirsten Lemke Atmo 1 Pichelsberg Schulsport im Pferdestall: Sechs Schüler der privaten Schele-Grundschule in Berlin sind mit dem Kleinbus in die nahegelegene Reitanlage Pichelsberg gefahren worden. Dort haben sie einmal in der Woche Reitunterricht. Bevor es in die Reithalle geht, striegeln und putzen sie die Ponies. Atmo 2 Hufgetrappel und ?Tür frei bitte!? Nur ein Junge ist dabei, der zehnjährige Max. Dass es ausgerechnet ihn zur vermeintlichen Mädchensportart Reiten getrieben hat, ist kein Wunder: O-Ton 3 ?Ich reite, weil mein Papa ist Hufschmied, und dann kam es dazu.? 6? Er ist also gewissermaßen familiär vorbelastet, und er besitzt sogar zwei eigene Ponies und ein Pferd. Klar, dass seine Mitschülerinnen ihn mächtig beneiden: O-Ton 4 ?Die würden das auch gerne haben, besonders den hier, das ist der bravste, den kann jeder reiten.? 7? Max reitet seit vier Jahren, und er kann das richtig gut. Er ist auch schon auf Turnieren gestartet. Vor kurzem bekam er dabei mit seinem Pony Pedro einen Sonderpreis: als bester Junge hinter acht Mädchen! Wie Max geht es den meisten reitenden Jungs und Männern: sie sehen sich einer Überzahl von Mädchen und Frauen gegenüber. Das bestätigt seine Lehrerin Elke Zilkenat, die in der Schele- Schule für den Schulsport Reiten zuständig ist: O-Ton 5 ?Wir haben zwar immer mal Jungen dabei, im nächsten Halbjahr sind es drei, also Hälfte ? Hälfte, aber hauptsächlich sind es nur Mädchen.? 9? Auch die zehnjährige Marie und der achtjährige Ole haben schon beim Schulsport Reiten mitgemacht und sind von den Pferden fasziniert: O-Ton 6 ?Man kann mit ihnen laufen, rennen. Es ist schön, auf Pferden zu sitzen.? ? ?Ich find an Pferden ganz toll, dass sie immer warm sind und man auch mit denen im Winter reiten kann, und wenn man sie geputzt hat, sind sie auch sehr weich, sehr angenehm zu reiten. Füttern macht man auch gern, weil die das aus der Hand fressen, das merkt man richtig.? 35? Ein eigenes Pferd, so wie Max, möchte Ole allerdings nicht unbedingt haben: O-Ton 7 ?Ein eigenes Pferd ? da bin ich mir auch noch nicht so sicher, weil ich glaube, da wäre unser Garten zu klein für. Aber ich weiß nicht, ob Mama und Papa das unbedingt wollen, dass wir so viel bezahlen nur fürs Abstellen des Pferdes. Und dann müsste ich mich regelmäßig um das Pferd kümmern und Futter besorgen, das wäre ja auch ziemlich teuer.? 25? Ein eigenes Pferd ? für viele Mädchen ist das der größte Wunsch. Für die meisten bleibt das natürlich ein unerfüllbarer Traum. Aber Pferdezeitschriften wie ?Wendy? bedienen genau dieses Bedürfnis. Chefredakteur Max Boeddeker: O-Ton 8 ?Wir bezeichnen das gern als psychogenetisches Phänomen, dass sich Mädchen in einer gewissen Lebensphase einfach für Pferde interessieren. Das hat den Hintergrund Stress mit Eltern, Probleme mit der Freundin, Schule ist blöd. Für ein 8 bis 12jähriges Mädchen kann das ganz schön übel sein. Und das bedingt einen Eskapismus, dass sie sich jemanden suchen, der auf nicht sexuelle Art der Partner sein kann, und das ist bei den meisten Mädchen, wenn nicht sogar bei allen, das Pferd.? 31? Nach Angaben des Chefredakteures erfüllen sich rund 300.000 Mädchen in dieser Altersgruppe ihren Traum vom Pferd wenigstens in der Phantasie, indem sie Woche für Woche ?Wendy? lesen, und das ist nur ein Produkt aus einer ganzen Reihe ähnlicher Publikationen. Für Jungs gibt es nichts Vergleichbares. Und in den Geschichten der Pferdezeitschriften kommen sie fast nicht vor. O-Ton 9 ?Jungs spielen in der Wendy ne ganz kleine Rolle. Wir haben auch mal ne Umfrage gemacht: ist es doof oder cool, wenn Jungs auf dem Reiterhof sind? Und alle Mädchen haben gesagt, das ist superdoof!? 15? MUSIK The BossHoss, Seven Nation Army von der CD Internashville Urban Hymns, erschienen bei Hanseatic Musikverlag GmbH Reitende Jungs und Männer ? das scheint eine aussterbende Spezies zu sein. Die Zahlen der Deutschen Reiterlichen Vereinigung FN, dem Dachverband aller Reitsportorganisationen, belegen den Trend: Der Männeranteil in den angeschlossenen Vereinen beträgt gerade noch gut ein Viertel, bei den Unter- 21jährigen ist es nur ein Achtel. Und bei Kindern im Grundschulalter kommt inzwischen ein Junge auf neun Mädchen! Dabei war es mal genau umgekehrt: jahrhundertelang blieb das Reiten den Männern vorbehalten, reitende Frauen erregten Aufsehen und manchmal sogar Empörung. Als Kaiserin Maria Theresia im 18. Jahrhundert ihre Begeisterung für Pferde kund tat, hatte das Folgen, die ihr Oberkämmerer Johann Joseph Fürst Khevenhüller-Metsch in seinen Memoiren beschrieb: Sprecher: ?Seitdem Maria Theresia eine solche Passion für das Reiten gezeigt, hatten unsere Weiber die Rage, ihr nachzuahmen. Anfänglich, wann ein Weib daher geritten gekommen, ihr fast alle Kinder auf der Gassen als seltsamem nachgeloffen, zuletzt daran gewohnen, da man fast mehr Weiber als Männer herumreiten sieht. Folglich wurden in der Großen Reitbahn Frauen-Karussels veranstaltet, bei denen sich jedermann verwundert, daß alles ordentlich und ohne widrigen Zustoß abgeloffen.? Dennoch blieb das Reiten lange Zeit eine Männerdomäne, zumal es vor allem beim Militär betrieben wurde. Frauen wie Irmgard von Opel, die in den 30er Jahren zahlreiche Erfolge als Springreiterin feierte, waren die Ausnahme. 1956 in Stockholm erhielt Dressurreiterin Liselott Linsenhoff als erste deutsche Frau eine olympische Einzelmedaille. Inzwischen reiten gerade in der Dressur vor allem Frauen an der Weltspitze. Aber auch im Springen nimmt ihr Anteil zu. Die amtierende Europameisterin Meredith Michaels-Beerbaum erreichte als erste Frau Platz Eins der Weltrangliste. Der Trend begann in den 70er Jahren, als das Reiten auch für weniger Wohlhabende erschwinglich wurde und als Freizeitsport boomte. Seitdem nimmt der Anteil an Frauen und Mädchen stetig zu. Das Geschlechterverhältnis hat sich praktisch umgekehrt. Die Ursachen dafür sind längst bekannt: Der Sportwissenschaftler Prof. Nils Neuber von der Universität Münster: O-Ton 10 ?Das Reiten ist ja zunächst ein Paradebeispiel für die soziale Konstruktion von Geschlecht. Wir haben das ja schon gehört, dass das Reiten in den 50er 60er Jahren noch ne Jungendomäne war, und dann ist durch äußere Einflüsse, durch Mädchenzeitschriften, durch Pferdebücher usw. da ein ganz starker Mädchenboom entstanden, das heißt das liegt nicht daran, dass das irgendwie biologisch bedingt ist, sondern sozial verursacht.? 27? Die Folge ist ein Imagewandel ? Reiten gilt mittlerweile zunehmend als Mädchen- und Frauensport. Das aber schreckt Jungs ab: O-Ton 11 ?Gerade die Jungen im Grundschulalter, die wollen alles tun, was nicht weiblich ist..? 6? Dabei hat eine von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung Ende der 90er Jahre bei der Uni Kassel in Auftrag gegebene Studie ergeben, dass Jungs sehr wohl an Pferden interessiert sind, nur eben anders als Mädchen: O-Ton 12 ?Mädchen sind schon damit zufrieden, ein Pflegepferd zu haben oder in den Pferdestall gehen zu dürfen, mit einem Pferd zu reden, es zu pflegen. Da ist das Reiten gar nicht so wichtig. Das ist aber für Jungs viel wichtiger. Jungs wollen vom ersten Tag an Erfolgserlebnisse haben. Sie wollen was erleben, möglichst in der zweiten Reitstunde schon nach draußen gehen, über?n Baumstamm, durchs Wasser reiten, die wollen Action und eben zusammen was machen.? 25? Sagt Maria Schierhölter-Otte, Leiterin der Abteilung Jugend bei der FN. Der Dachverband geht jetzt massiv gegen den Jungen- und Männerschwund vor, unter anderem mit der Initiative ?Jungs aufs Pferd?. Damit werden Vereine unterstützt, die spezielle Programme für den männlichen Nachwuchs anbieten. Der Grund liegt auf der Hand: O-Ton 13 ?Wir möchten eigentlich ein Sportverband sein, der sowohl Mädchen als auch Jungen offensteht und möchten kein reiner Frauensportverband werden.? 8? Zumal das auf Dauer verheerende Folgen hätte: angesichts des demographischen Wandels werden die Mitgliederzahlen in allen Sportvereinen langfristig sinken; da kann es sich kein Verband leisten, von vornherein auf die Hälfte potentieller Mitglieder zu verzichten. Mit sogenannten Zukunftswerkstätten für alle Landesverbände will die FN auf den Trend aufmerksam machen und Betroffenheit erzeugen, damit die Pferdeabstinenz der männlichen Jugend als Problem erkannt wird. Doch wie bekommt man ?Jungs aufs Pferd?? Eine einfache, aber verblüffende Antwort lautet: indem man sie nicht völlig allein unter lauter Mädchen lässt. Reine Jungsreitgruppen gelten in einigen Vereinen als Schlüssel zum Erfolg, hat Maria Schierhölter-Otte festgestellt: O-Ton 14 ?Jungen wollen gern unter sich sein und möchten gern was ausprobieren, sie sind risikofreudiger. Und ich denke, dass unsere Ausbilder einfach diesem Gedanken Rechnung tragen müssen, indem sie den Unterricht anders aufbauen, und nicht nur eine halbe Stunde lang Ecken durchreiten, Hacken tief und Bauch raus. Das ist den Jungen zu langweilig.? 20? MUSIK The BossHoss, wie oben Atmo 15 Amelinghausen ? Merlin stellt die Pferde vor ? Der Rehrhof in der Nähe von Amelinghausen in der Lüneburger Heide. Auf der großzügigen Anlage aus alten Fachwerkgebäuden betreibt Sabine Reifenrath ihren Reitstall. Merlin, Julian, Moritz, Henning und Christian sind zum Reiten gekommen. Es ist Jungsnachmittag, doch bevor es aufs Pferd geht, gibt es erstmal Arbeit für die Sechs- bis Zehnjährigen: Sie sollen im Unterstand auf der Koppel Pferdeäpfel einsammeln. Atmo 16 Anfang Streit / Spritzen Aber es dauert nicht lange, da hat einer von ihnen einen Wasserschlauch in der Hand, spritzt die anderen nass und kassiert dafür selbst eine Ladung Wasser. Schon entbrennt ein Streit: Atmo 17 ?aua / spinnst du / Tritt und Weinen Ein Fußtritt und lautes Weinen rufen Marion Schröder auf den Plan. Sie hilft bei der Betreuung der Kinder. Jetzt muss sie erst einmal Streit schlichten: O-Ton 18 ?Wichtig ist, ihr habt ne Aufgabe, und ihr seid hier, um zu reiten. Wie können wir das denn lösen?? 12? Am Ende gelingt es ihr zu vermitteln. Die Situation ist durchaus typisch für einen Jungsnachmittag: O-Ton 19 ?Ich glaube, gerade dieses Unbändige mit nassspritzen, das ist eher jungsspezifisch. Mädchen sind anders, subtiler.? 15? Auch auf dem Reitplatz läuft manches anders als bei Mädchengruppen. Während Merlin und Julian schon auf ihren Pferden sitzen, versucht Christian, das gescheckte Pony Minou zu besteigen; Henning und Moritz müssen zum Stall zurücklaufen, weil sie ihre Reithelme vergessen haben. Die Pferde stecken immer wieder ihre Köpfe ins Gras, um zu fressen, statt dorthin zu gehen, wo sie hin sollen. Atmo 20 Reitunterricht Als endlich alle auf dem Pferd sitzen, versucht Reitlehrerin Sabine Reifenrath für Ordnung zu sorgen. Doch nur kurze Zeit gehen die Pferde brav hintereinander her. Merlins Pferd Gringo nutzt die erstbeste Gelegenheit, den Platz zu verlassen und Richtung Stall davon zu galoppieren. Atmo 21 Gringo geht ab Als es so gar nicht klappen will mit dem Abteilungsreiten, nimmt Sabine Reifenrath ein Pferd am Kopf, während die anderen folgen, und macht mit den Jungs einen kleinen Ausritt im Schritt. Am Ende der Stunde ist Moritz vom Pferd gefallen, Merlin das Pferd zweimal durchgegangen und Henning ist immer noch klitschnass. Sabine Reifenrath lacht: O-Ton 22 ?Ein Nachmittag mit Mädchen geht konzentrierter, planbarer, unspektakulärer über die Bühne. Vor allem bräuchten die Jungs hier am Stall eine Aufsicht. Wenn das nicht der Fall ist, können Dinge passieren wie mit Wasser nass spritzen?? 21? Jungs und Mädchen sind eben verschieden, entwickeln sich auch ganz unterschiedlich. Das brachte Sabine Reifenrath dazu, im Reitunterricht getrennte Gruppen anzubieten: O-Ton 23 ?Es waren Jungs zwischen den Mädchen beim Reiten, die haben ein Jahr durchgehalten, sind aber in den letzten Monaten schon mit nem Fußball unterm Arm gekommen. Dann hab ich gemerkt, dieses Sich-aufs- Pferd-konzentrieren, das ist nicht so ihr Ding, sie brauchen Action und Ablenkung. Zwischen den Mädchen wars ihnen peinlich, die das alles besser konnten, und dann haben wir beschlossen, nur für Jungs Extra-Tage anzubieten, und das ist sehr gut eingeschlagen.? 36? Zunächst mal geht es der Reitlehrerin darum, dass die Jungs Spaß im Umgang mit Pferden haben. Mit den Feinheiten der Schulreiterei belastet sie sie nicht. Dafür gibt es viel Abwechslung im Unterricht. Erst mit 14 oder 15 Jahren, so die Erfahrung von Sabine Reifenrath, holen die Jungs dann mächtig auf: O-Ton 24 ?Wenn man sie bis dahin Pferde positiv erleben lässt, dann sind sie so mit 15 in der Lage, konzentriert das Reiten anzufangen. Da haben sie dann Lust und können das, was Mädels schon früher können.? 15? MUSIK wie oben Eine reine Jungsreitgruppe ? für Monika Tilger, die gemeinsam mit ihrem Mann eine Reitanlage in Stahnsdorf südlich von Berlin betreibt, ist das ein Albtraum! O-Ton 25 ?Ich hatte früher eine reine Jungengruppe, sowas von furchtbar, sowas Ehrgeizloses und Mauliges, furchtbar für mich als Reitlehrer ? nee! Und wenn die Mädchen drin sind, dann werden die so?n bisschen angespornt, die ziehen dann mit.? 21! Auch Monika Tilger hat die Erfahrung gemacht, dass Jungs schnell das Handtuch werfen, wenn sie sich überfordert fühlen und nicht alles gleich klappt. O-Ton 26 ?Deshalb am Anfang mit Glacehandschuhen? nicht so viel tadeln, einfach reiten lassen und wenig tun, bis die sich gefestigt haben, dann kann man von denen viel verlangen.? 13? Atmo 27 Unterricht Vier Jungs und vier Mädchen sitzen auf unterschiedlich großen Pferden und Ponies. Monika Tilger steht in der Mitte der Reithalle und gibt Kommandos. Ganz normaler Reitunterricht zunächst, aber dann baut sie kleine Hütchen auf und veranstaltet ein Slalomreiten, bei dem die Jungs gegen die Mädchen antreten? Atmo 28 Wettkampf ?und gewinnen! Bloß keine Langeweile aufkommen lassen! Sagt Monika Tilger und lässt sich dafür einiges einfallen: O-Ton 29 ?Wir machen den Reitunterricht nicht immer anders, aber wir spielen zwischendurch, wir machen die Reise nach Jerusalem zu Pferd, oder wir haben einen großen Ball für Fußball, oder Geschicklichkeitsspiele, und ich hab auch die Motivationsurkunden von der FN, wenn wir was spielen und wir haben dann so?n Gewinner, also die kommen sehr gut an!? 26? Die Jungs, die auf diese Weise reiten lernen, finden jedenfalls nicht, dass Pferde nur was für Mädchen sind ? der zwölfjährige Alexander weiß schon sehr genau, was er antwortet, wenn Gleichaltrige sich über sein Hobby lustig machen wollen: O-Ton 30 ?Der eine versucht immer, mich damit aufzuziehen, aber das klappt nicht. Früher sind nur die Männer geritten, die Dragoner und die Kavallerie der Soldaten.? 12? Und der neunjährige Thomas ergänzt: O-Ton 30 A ?Reiten ist eigentlich nicht Mädchensache, bei der Dressur reiten Männer mit, beim Springen reiten Männer mit -- ? 7? Ebenso wie Thomas möchte der elfjährige Tobias später mal ein toller Springreiter werden: O-Ton 31 ?Turniere mag ich auch reiten, wenn ich erwachsen bin, mag ich dann Pferde haben.? 5? Ob es der spielerische Wettkampf im Reitunterricht ist, oder das große Reitturnier ? es trifft das Bedürfnis der Jungs, meint der Sportwissenschaftler Nils Neuber: O-Ton 32 ?Wenn Sie nach Bedürfnissen fragen, dann liegt das Wettkampfbedürfnis ganz oben bei Jungen, anders als bei Mädchen. Und es überrascht nicht, dass die Ballsportarten mit Abstand die Sportarten sind, die am häufigsten gewünscht und ausgeübt werden.? 17? Das Turnierreiten ist aber zumindest in den Einsteigerprüfungen für Jungs nicht so attraktiv, meint Maria Schierhölter-Otte vom Dachverband FN: O-Ton 33 ?Ganz unten sind die Mädchen im Moment einfach besser, die sitzen schöner auf dem Pferd, auf dem Pony, in der Führzügelklasse und lassen das alles über sich ergehen und machen ihre Pferdchen hübsch, und da haben eben Jungs keine Lust zu. Und deswegen muss man parallel dazu die Jungs etwas spezieller ansprechen.? 20? Und so kommt es zu der paradoxen Situation, dass ausgerechnet in der einzigen Massensportart, die Jungs und Mädchen, Männer und Frauen gemeinsam ausüben, in der sie gleichberechtigt im Wettkampf gegeneinander antreten, neuerdings die Geschlechter wieder getrennt werden ? zumindest teilweise: O-Ton 34 ?Wir haben heute Prüfungen nur für Jungen, aber im untersten Bereich. Es gibt zum Beispiel Reiterwettbewerbe, wo nur Jungen starten, das ist sehr begrüßenswert, aber eben noch nicht die Regel, und da hört?s auch meistens auf. Eigentlich müsste man auch mal Springprüfungen oder Geschicklichkeitsprüfungen ausschreiben nur für Jungs.? 18? MUSIK wie oben Ein weiterer Ansatz bei der Jungsförderung sind die Ausbilder. Beim Reiten ist es wie im Kindergarten, in der Grundschule und zum großen Teil auch in der Familie: es sind vor allem Frauen, die Kinder erziehen und ausbilden, eine Entwicklung, die zunehmend als Problem erkannt wird. Die FN stellt im Bereich der Ausbilder einen dramatischen Frauenüberschuss fest: Bei den Hauptberuflern liegt der Anteil bei gut 70 Prozent, im Amateurbereich sogar über 90 Prozent. Das ist die logische Folge, wenn es fast nur noch das weibliche Geschlecht zum Pferd zieht. Und hier schließt sich der Teufelskreis: O-Ton 35 ?Dann haben die Jungs kein positives männliches Vorbild, an dem sie sich orientieren können, und in der Essenz passiert es dann, dass sie sich abgrenzen von allem, was eben nicht männlich ist.? 13? So beschreibt der Sportwissenschaftler das Phänomen. Deshalb finden so wenig Jungs den Weg zum Pferd. Umgekehrt haben Mädchen längst einstige Jungen- Domänen im Sport erobert, bemerkt Nils Neuber: O-Ton 35 A ?Mädchen, die heute Fußball spielen oder Kampfsport betreiben, sind völlig akzeptiert. Wenn Jungen tanzen gehen oder reiten gehen, dann werden sie schief angekuckt, nicht nur von den Gleichaltrigen, sondern auch von uns Erwachsenen.? 13? Und diejenigen, die sich dennoch für das Reiten entscheiden, kommen oft aus Familien, in denen Pferde eine Rolle spielen, so dass der erste Kontakt schon hergestellt ist. Bleibt die Frage, wie man die anderen Jungs ans Pferd heran bekommt. Neubers Vorschlag: O-Ton 36 ?Der Weg über die Schulen ist sicherlich ein erfolgversprechender. Dann wird das auch normaler für die Jungs, wenn sie es als ganz normales Angebot erleben können. Das halte ich für einen ganz interessanten Zugang.? 14? Immer mehr Schulen bieten inzwischen Reiten als Schulsport an, bundesweit einmalig ist aber das Reiten als Wahlpflichtfach an der Gesamtschule Neustadt/Dosse in Zusammenarbeit mit dem Brandenburgischen Haupt- und Landgestüt. Atmo 37 Stall O-Ton 38 ?Ich heiße Florian Becker, und ich wollte unbedingt reiten machen, weil ich reiten mag und weil meine Mutter auch Pferde hat und mal hier gearbeitet hat. Und weil mein Freund der erste überhaupt in der Reiterklasse war, und weil er mir leid getan hat, dass er der einzige Junge war.? 18? O-Ton 39 ?Es waren am Anfang fast nur Mädchen, aber dadurch dass unsere Aktivitäten Früchte tragen, die ersten Schüler schon durch sind und das nach außen tragen, wurde ein Bild erzeugt, das Interesse weckt, auch bei Jungs, die sagen, reiten ist gar nicht so langweilig, reiten ist spannend! Und das führt dazu, dass die Jungs mehr werden.? 35? Reitlehrer Hendrik Falk betreut das Schulprojekt Reiten von Anfang an, also seit sieben Jahren. Auch hier liegt der Anteil der Jungs zwar nur bei zehn Prozent, aber die Tendenz ist steigend. War es im ersten Jahrgang nur einer, so sind im neuesten Jahrgang immerhin fünf Jungs aus der siebten Klasse, die sich ebenso wie acht Mädchen für das Wahlpflichtfach Reiten entschieden haben. Auch Hendrik Falk hat die Erfahrung gemacht, dass Jungs einen anderen Zugang zu Pferden und zum Reiten haben, und er sorgt dafür, dass im Unterricht für jeden etwas dabei ist: O-Ton 40 ?Jungs wollen schon Wettkampf und Spannung, und Mädchen lassen mehr über sich ergehen in Sachen Fleiß, Geduld und Genügsamkeit. Man muss schon darauf eingehen, aber trotzdem gestatten, dass diese Vermischung stattfindet.? 20? Die Bedingungen zum Reitenlernen sind in Neustadt optimal: in der riesigen neuen T-förmigen Reithalle besteht die Möglichkeit, während des Unterrichts verschiedene Stationen gleichzeitig anzubieten. Während ein Teil der Kinder auf dem Pferd sitzt, üben andere den Umgang mit dem Vierbeiner und wieder andere machen Sitzübungen auf dem Holzpferd. Zur Ausstattung gehört auch eine ganze Reihe sehr gut ausgebildeter Schulpferde, ohne die das ganze natürlich gar nicht möglich wäre. Und im gläsernen Klassenzimmer an der Reithalle gibt es den Theorie-Unterricht ? eine Stunde pro Woche neben den drei Stunden Praxis. Atmo 41 Heute ist nur Sichtung? Zu Beginn der siebten Klasse ist das reiterliche Niveau der Schüler noch recht unterschiedlich. Da sind absolute Anfänger ebenso wie diejenigen, die schon seit Jahren auf dem Pferd sitzen. Doch nach einem Schuljahr sind alle in etwa auf demselben Ausbildungsstand. Wer bis zum Abitur durchhält, der kann am Ende nicht nur sehr gut reiten, sondern erhält ganz nebenbei auch noch die Amateurtrainer- Lizenz. Damit auch die Jungs nicht vorzeitig abspringen, lässt Hendrik Falk sich einiges einfallen: O-Ton 42 ?Die Jungs kriegen nen anderen Unterricht, der ist viel spannender, aber erstmal behutsamer in den ersten Monaten, wenn sie 12, 13 Jahre alt sind. Nachher dreht sich das um, ab der 9. Klasse, wenn sie durch die erste pubertäre Phase durch sind. Dann werden mit den Jungs viel spannendere Dinge gemacht, dann sind sie belastbarer, härter und durchhaltungsfähiger als die Mädchen.? 25? Atmo 43 wer ist der Boss? Ich bin der Boss! 13? O-Ton 44 ?Das größte Problem ist der Umgang mit der Angst. Ich hab hier mit Schülern zu tun, die Reiten lernen wie Mathe, Bio, Physik. Die waren nicht motiviert. Dazu kam große Angst ? da ist ein großes Wesen, 600 Kilo Materie. Am besten hat gezogen ein mentales Training: die positive Einrede, ihnen die Frage stellen, wer ist der Boss? Und wenn alle rufen, sie sind der Boss, dann kommt ein Gefühl der gemeinsamen Stärke? 1?00? Hendrik Falk will seinen Schülern viel mehr beibringen als Reiten ? da geht es um angewandte Mathematik, wenn zum Beispiel die Fläche einer Pferdebox berechnet wird, oder auch um Physik, Chemie, Biologie, immer bezogen auf den Umgang mit dem Pferd. Da ist es kein Zufall, dass die Schüler der Reiterklassen einen besseren Notendurchschnitt haben als andere. Nicht zuletzt hilft das Pferd aber auch ganz entscheidend bei der Charakterbildung ? und da räumt der Reitlehrer mit dem Vorurteil auf, dass Jungs das Pferd nur als Sportgerät sehen: O-Ton 45 ?Was halt auffällt ist, dass auch ein Junge einfühlsam und warmherzig sein kann, wenn man ihm die Chance dafür gibt, dass er auch die Zeit hat zu erfühlen, wie warm ein Pferd ist, erst mit den Händen, und dann mit der Wange. Da merkt er die Körpertemperatur des Pferdes. Das ist eine Empfindung, die man fördern und gestatten muss und die man auch bereitstellen muss. Da ist diese Chance dazu, ohne dass die ganze Klasse zukuckt und sagt: Äh du schmust mit einem Pferd rum. Dass die Zeit da ist, das muss man die Jungs empfinden lassen dürfen.? 47? MUSIK Jon Rauhouse?s Steel Guitar Rodeo featuring Tommy Connell, Track 6 1 12