COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 04. März 2013, 19 Uhr 30 Schröders Ich-AG Wie hat uns die Agenda 2010 verändert? Von Johannes Nichelmann 01. O-Ton (Gerhard Schröder) (Applaus) Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche Maßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierung vorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen. Für Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, für die soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit. Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Sprecherin (mit Effekt) In Klammern: Beifall des Abgeordneten Detlef Parr, FDP. Protokoll der 32. Sitzung des deutschen Bundestages in der 15. Wahlperiode. Musik 01 Autor Freitag, 14. März 2003, kurz nach 9:00 Uhr. Der Himmel über der Kuppel des Reichstagsgebäudes in Berlin ist grau, gerade mal 1 Grad Celsius Außentemperatur. Drinnen steht Bundeskanzler Gerhard Schröder am Rednerpult. Was er jetzt in seiner Regierungserklärung mitteilt, wird die Republik erschüttern. Der etablierte deutsche Sozialstaat soll reformiert werden. 02. O-Ton (Gerhard Schröder) Seine Erneuerung ist heute unabweisbar geworden. Und zwar nicht, meine Damen und Herren, um ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, um die Substanz des Sozialstaates erhalten zu können. Deshalb und nur deshalb brauchen wird durchgreifende Veränderungen! Sprecherin (mit Effekt) In Klammern: Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ die Grünen. Sprecher/in vom Dienst Schröders Ich-AG Wie hat uns die Agenda 2010 verändert? Eine Sendung von Johannes Nichelmann. Effekt Autor Agenda, lateinisch für "Was zu tun ist". Verkündet vor zehn Jahren. Mit einem unvergleichbaren Gesetzesmarathon will der Bundeskanzler Deutschland vom kranken Mann Europas, zur führenden Wirtschaftsnation ausbauen. 03. O-Ton (Gerhard Schröder) Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Strukturreformen. Sprecherin Einwurf von Volker Kauder (CDU/ CSU): Donnerwetter, Ausrufezeichen. 04. O-Ton (Gerhard Schröder) Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen. Autor Fünf Millionen Arbeitslose sind zu viel. Das Hartz-Paket zur Reform des Arbeitsmarktes wird zum zentralen Thema. Als Schröder 1998 gegen Helmut Kohl in den Wahlkampf zog, versprach er viele Jobs für die vielen Arbeitslosen, daran wollte er künftig gemessen werden. Doch Demographie und Konjunktur regeln das Problem nicht, wie erwartet, von alleine. Jetzt geht es darum, das Versprechen auch einzulösen. Das Rezept hat die Überschrift: "Fordern und Fördern". Es geht um Eigenverantwortung. 01 Atmo Sozialgericht Autor Zehn Jahre später - was hat sich verändert? Sprecherin Pressetermin, Januar 2013 im Sozialgericht Berlin. Kamerateams, Reporter und Fotografen drängeln sich in der kleinen Poststelle. Auf einem Tisch ein riesiger Aktenberg. Zwei Beamte pressen ihre Eingangsstempel auf die Umschläge und Aktendeckel, als wäre das eine olympische Disziplin. Hier landen täglich hunderte Klagen gegen Hartz IV. 05. O-Ton (Beamter) Das ist nur ein Fünftel von dem, was wir am Tag machen. Das ist jetzt nur die Fachpost die gekommen ist, um neun. Ganz früh um sechs kommen schon die "BfA" und das Jobcenter. Genauso viel. Jeder macht ungefähr so tausend, zweitausend Stempelaufdrucke am Tag. 01. Atmo: Ende/ Blende 02. Atmo: Saal der Pressekonferenz (3,01) Sprecherin Die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, Sabine Schudoma, tritt in einem der prunkvollen Gerichtssäle vor die Kameras und Mikrofone. 06. O-Ton (Sabine Schudoma) Das Hauptproblem heißt immer noch Hartz IV! Sprecherin Alle 18 Minuten klagt in Berlin jemand gegen sein Jobcenter. Tag und Nacht, von Januar bis Dezember. Seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 gab es über 165.000 Verfahren. Momentan sind so viele Streitigkeiten offen, dass das Gericht ein Jahr schließen müsste, um alles abzuarbeiten. In vielen Bereichen seien soziale Probleme drängender geworden, sagt die oberste Richterin, für sie ist der Klagerekord 07. O-Ton (Sabine Schudoma) Ausdruck wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen, die sich an unterschiedlichen Stellen des sozialen Gefüges in Deutschland niederschlagen. Wie ein Seismograph spürt das Sozialgericht die Erschütterungen im deutschen Sozialsystem. Musik Autor Ist Gerhard Schröder mit seinen Hartz-Reformen also gescheitert? Sein Ziel ist es gewesen, Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Der Weg: Ein Euro-Jobs, Kürzung der Bezugszeit des Arbeitslosengeldes I und die Zusammenführung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe. 09. O-Ton (Gerhard Schröder) Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können zum Sozialamt gehen müssen, während andere, die dem Arbeitsmarkt wohlmöglich nicht zur Verfügung stehen, Sozialhilfe beziehen. Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurück zu lehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt und wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern, der meine Damen und Herren, wird mit Sanktionen rechnen müssen. Autor Von Anbeginn ist der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel einer der schärfsten Kritiker der Agenda. Besonders problematisch sieht er eben die Hartz- Reformen. Kurz nach Bekanntwerden der Pläne, meldet er sich zu Wort. 10. O-Ton (Rudolf Hickel) Zwei, drei Tage später, hab ich einen Kommentar geschrieben für die Frankfurter Rundschau. Und hab davor gewarnt, dass Agenda 2010 mit den negativen Elementen dazu führen kann, dass es zu einer Spaltung des Arbeitsmarktes kommen kann. Müntefering traf mich damals im Flieger, war wirklich Friede und Freude. Haben uns umarmt gehabt und beim Aussteigen hatte er dann meinen Artikel in der "Frankfurter Rundschau" wohl gelesen gehabt und da hat sich sein Gesicht versteinert. Autor Der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Franz Münterfering, liest davon, dass sein Bekannter Rudolf Hickel klare Gewinner und Verlierer ausgemacht haben will. Er schreibt zum Beispiel, dass sich zweifellos die Chancen für Arbeitslose erhöhen würden, wieder einen Job zu finden. Der Preis allerdings sei für diese Menschen hoch, während Unternehmen eher finanzielle Anreize erhielten. Und zehn Jahre später? 11. O-Ton (Rudolf Hickel) Die Agenda 2010 hat abgesehen von einigen positiven Elementen maßgeblich, die vorher nicht vorstellbare Spaltung des Arbeitsmarktes bewirkt. Spaltung heißt in den Niedriglohnsektor auf der einen Seite und Vollzeitarbeitsplätze auf der anderen Seite. Autor Anders sieht das der Nürnberger Ökonom Ulrich Walwei. Er ist der Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. Auch er veröffentlicht in verschiedenen Zeitungen seine Einschätzung zu den Auswirkungen von Schröders Agenda. Nicht alle Aspekte der Rosskur seien über jede Kritik erhaben. Erfolge, schreibt er 2010 in der "Financial Times Deutschland", seien jedoch unverkennbar. 12. O-Ton (Ulrich Walwei) Man muss sagen, dass das Gesamtpaket, diese Kombination aus stärkerer Flexibilität der Beschäftigung, also Erleichterungen bei der Befristung der Beschäftigung, auch Erleichterungen bei der Leiharbeit, die Möglichkeiten auch Teilzeitbeschäftigungen auch flexibler ausgestalten, in Kombination letztlich mit diesem Fordern und Fördern, den Arbeitsmarkt in der Tat beflügelt hat. Wir sehen eine deutliche Aufwärtsentwicklung am Arbeitsmarkt seit 2005, die wir nicht alleine auf die Konjunktur zurückführen können. Insgesamt kann man sagen, dass das Reformpaket als solches positive Wirkungen gezeigt hat. Autor Die Zahl der Menschen, die von Hartz IV leben, ist in den letzten Jahren gesunken. Im Vergleich zum Jahr 2006 um fast eine Million. Im Januar 2013 erhalten knapp 4,3 Millionen Menschen das Arbeitslosengeld II. 13. O-Ton (Ulrich Walwei) Also man kann schon sagen, dass ein klassischer Hartz IV-Empfänger sehr häufig keine abgeschlossene Berufsausbildung hat. Also Geringqualifizierte sind definitiv in der Gruppe überrepräsentiert. Man kann auch sagen, dass die Personen häufiger ein höheres Lebensalter haben. Man kann auch sagen, dass bei diesen Personen häufiger auch ein gesundheitliches Problem auftritt. Und wenn man das dann alles schon zusammen nimmt, dann erkennt man schon, dass das letztendlich Risiken sind, die für den Eintritt in den Arbeitsmarkt gar nicht so leicht zu überwinden sind. 03. Atmo Jobcenter/Computer 14. O-Ton (Ronny Dombrowski) Wie läuft's denn bei Ihren Bewerbungsbemühungen? (Kunde) Oh, die Bemühungen gehen weiter. Und die bleiben auch ebenso erfolglos wie vorher. (Ronny Dombrowski) Okay. Sprecherin Alltag im Jobcenter Berlin-Lichtenberg. Arbeitsvermittler Ronny Dombrowski im Gespräch mit einem Kunden. Der 33-Jahre alte Sachbearbeiter sitzt hier an der Schnittstelle des Forderns und Förderns. 15. O-Ton (Ronny Dombrowski) Ich möchte gerne einen Zielberuf aufnehmen, wo Sie sagen, da haben Sie gute Einstellungschancen. Was könnten Sie sich vorstellen? (Kunde) Ähm... sagen wir mal Einzelhandel. (Ronny Dombrowski) Im Einzelhandel. (tippt) Das letzte Mal hatten wir ja besprochen die Teilnahme an der Maßnahme "Kompetenzbilanzierung". Haben Sie sich bei einem Callcenter beworben? Nein, hatten Sie mir ein konkretes... Nein, einen Vermittlungsvorschlag nicht, wir hatten mal darüber gesprochen, dass Sie sich beim Callcenter bewerben, weil... 03. Atmo: Ende/ Blende 04. Atmo 16. O-Ton: (Ronny Dombrowski) Der Punkt Fordern konzentriert sich vor allen Dingen auf einen Punkt, das ist der der zumutbaren Arbeit. Das heißt, wer hier Leistung nach dem Sozialgesetzbuch II bezieht, muss jede zumutbare Arbeit annehmen. Und das ist halt im Gespräch mit den Kunden manchmal etwas schwieriger, denen zu vermitteln halt. Dass meinetwegen ein Ingenieur, wenn er hier Arbeitslosengeld II beantragt, durchaus auch in Helfertätigkeiten arbeiten muss, wenn die Arbeit für ihn zumutbar ist. Sprecherin Der Kunde, ein sportlicher Herr von 60 Jahren, der seinen Fahrradhelm auf dem Schoß zu liegen hat, arbeitete lange Zeit als Lehrer im Ausland. Seine Gesundheit spielt allerdings nicht mehr so recht mit. Nun lebt er wieder in Berlin. 17. O-Ton (Ronny Dombrowski) Und nebenbei bewerben Sie sich halt weiterhin. Vorrangig auch auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wir hatten ja... (Kunde) Selbstverständlich! (Ronny Dombrowski) Wir hatten ja auch mal den Punkt besprochen... (Kunde) Nach wie vor. Bis zu guter Letzt. (Ronny Dombrowski) Da sie ja sehr redegewandt sind... (Kunde) Werde ich das weiterhin treiben. 18. O-Ton (Kunde) Nun ja, man wird sowohl finanziell, materiell unterstützt, als auch auf gewisser Weise, naja, sagen wir mal seelisch, psychologisch. Man wird dazu aufgefordert und einem wird Mut eingeflüstert, nicht wahr? Trotzdem ist es schmerzhaft, sich ausgedient vorzukommen. Sprecherin Ronny Dombrowski und sein Kunde sind heute dabei eine neue Zielvereinbarung zu machen. Welche Maßnahmen können helfen? Wie viele Bewerbungen müssen bis zum Monatsende geschrieben werden? Von dem Gespräch hier am Schreibtisch in einen Job, erzählt der Arbeitsvermittler, geht es so gut wie nie. Mal eine befristete Tätigkeit da, eine geringfügige Beschäftigung dort. 19. O-Ton (Ronny Dombrowski) Im Jobcenter Lichtenberg gibt's da eine besondere Regelung, d.h. marktnahe Kunden, Kunden bei denen man eine Integration in den Arbeitsmarkt relativ bald erwartet, werden noch mal von einem extra Team hier betreut, die sich darum kümmern, dass Kunden noch dichter eingeladen werden. Also wesentlich häufiger, als wir das hier machen. Und da ist, sag ich mal, eigentlich die Vermittlungschance auch sehr hoch. Sprecherin Der 60-jährige Herr im sterilen Büro des Jobcenters, zählt nicht zu dieser Gruppe. Er muss weiter Bewerbungen schreiben, mindestens zehn im Monat. Passiert das nicht, kann es zu einer Kürzung seiner Bezüge kommen. 20. O-Ton(Kunde) Manchmal verliert man den Mut. Aber man muss ja immer weiter machen. Man kann ja nicht aufgeben. 21 . O-Ton (Gerhard Schröder) Wir sind dabei, meine Damen und Herren, die Bundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie ihrer eigentliche Aufgabe nachkommen kann, nämlich Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln und sie nicht bloß zu verwalten, meine Damen und Herren. Autor Schröders Idee, den schwerfälligen Koloss mit dem angestaubt-bürokratischen Namen "Bundesanstalt" und die Arbeitsämter in eine flexible Agentur mit modernen Jobcentern umzuwandeln, hielt und hält der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel für sinnvoll. Allerdings seien auch hier schwere Fehler gemacht worden, die noch heute sichtbar sind. 22. O-Ton (Rudolf Hickel) Es zeigt sich in der Gesamtstruktur, dass das von Anfang an finanziell zu schlecht ausgestattet war und insoweit auch diese Belastung Menschen abbekommen, die dringend auf einen Job angewiesen sind. Autor Ökonom Ulrich Walwei forscht im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit. Er sieht durch die Umgestaltungen vor allem einen Vorteil. Inzwischen sei viel mehr über Langzeitarbeitslose bekannt. So könne besser geholfen werden. 23. O-Ton (Ulrich Walwei) Es können Wohnungsprobleme sein. Es können Schuldenprobleme sein. Es können auch gravierende gesundheitliche Probleme sein. Also wir wissen auch zum Teil, gerade wenn auch zum Beispiel Kinder da sind, was ein Riesenproblem, dass dann die Integration in den Arbeitsmarkt schwer fällt. Wir haben eigentlich viel mehr, seit dem, viel mehr Transparenz über den Arbeitsmarkt. 24. O-Ton (Rudolf Hickel) Einer der schwersten Fehler dieser Gesetzgebung war die Tatsache, dass es den Unternehmen freigestellt worden ist, im Grunde genommen Billig-Arbeitskräfte einzustellen. Das hat etwas zu tun mit der Zumutbarkeitsregel. Wem ist sozusagen ein Job bei der Suche nach Arbeit zumutbar? Die Zumutbarkeitsregel ist am Ende natürlich so offen gefasst worden, dass eigentlich jeder legale Job zulässig ist und da waren natürlich auch Jobs dabei, die im Grunde genommen zu Einkommensverhältnissen und Lohnverhältnissen führen, von denen die Menschen nicht leben können. 25. O-Ton (Gerhard Schröder) Es gibt gelegentlich Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, die nicht Begeisterung auslösen. Übrigens auch bei mir nicht, meine Damen und Herren. Und trotzdem müssen sie sein. Und deswegen werden wir sie auch umsetzten. Musik 02 Sprecherin Ein Jahr nach der Rede des Bundeskanzlers tobt die Republik. Die Pläne der Arbeitsmarktreform bringen die Menschen auf die Straße. Erstmals seit 1989 gibt es Montagsdemonstrationen. In Ost und West. 26. O-Ton (Frau) Hallo, liebe Demonstrantinnen und Demonstranten! Kommt ruhig näher, kommt ruhig ran. Dann brauchen wir nicht ganz so laut zu reden. Ihr wisst ja, wir haben viel Neues. (Rufe) Wir sind das Volk! (Mann I) Wir sind das Volk! Kein anderer Mensch. Wir bestimmen im Endeffekt über unser Leben! (junger Mann) Da sollte ich für 4,15 auf Montage gehen, als Maler. Für 4,15 Euro! (Frau) Zehn Millionen Menschen sind die Unterschicht. (Mann II) Damit diejenigen, die betroffen sind in dieser Gesellschaft wirklich immer irgendwie sich bemerkbar machen. Und wenn der Druck von unten nicht kommt, na von oben kommt er nicht. (Rufe) Hartz IV muss weg! Das Volk sind wir! 27. O-Ton (Clement) Ja, das ist alles andere als angenehm. Das ging sogar noch weiter. Da hab ich auch noch nach meinem Ausscheiden aus der Politik erlebt, dass ich auf einmal nachts vor meinem Hause tobende Gestalten hatte. Sprecherin Nicht nur der Kanzler, auch der Superminister für Arbeit und Wirtschaft, Wolfgang Clement steht damals unter Beschuss. Heute hat der 70-Jährige der Politik den Rücken gekehrt, ist 2008 aus der SPD ausgetreten worden. Inzwischen ist er Berater und Vorstandsmitglied einiger Wirtschaftsunternehmen. 28. O-Ton (Wolfgang Clement) Die Demonstrationen liefen ja schon. Es geschahen dort auch Dinge, die das in Kraft treten der Reform zeitweise in Frage zu stellen schienen. Also es sind natürlich bedrückende, beängstigende Situationen und da muss man schon stehen. Man muss schon wirklich überzeugt sein von der Richtigkeit dessen, was man tut. Sonst kann man das nicht. 28 a O-Ton (Hartz IV-Empfängerin) Manche stellen sich Hartz IV total schön vor. Das reicht wirklich gerade knapp für den Monat, man kann nicht sagen, heute gehe ich ins Kino, ins Theater, das geht nicht, das reicht einfach nicht vorne und hinten. Sprecherin Erzählt eine 26 Jahre alte Hartz IV Empfängerin aus der Nähe von Köln. Sie hat eine Ausbildung zur Friseurin gemacht, ist in das Arbeitslosengeld II reingerutscht. 29. O-Ton (Hartz IV-Empfängerin) Man hat halt den Menschen so in zwei Schichten so gemacht. Der Arbeitslose ja, der wird ja noch so ein bisschen toleriert, weil er ja nur Arbeitslosengeld bekommt. Aber Hartz IV ist direkt so: Boah, du Penner! Sprecherin Wortschöpfungen entstehen: "Hartzen" wird zur Tätigkeit. Sat.1 und RTL werden zum Hartz-IV TV - die Gesellschaft hat ihr neues Schreckgespenst gefunden. 30. O-Ton (Wolfgang Clement) Dass das ganze Land zu "Hartz" geworden ist und Hartz-Gesetz und Hartz IV, das haben wir ja nicht gewollt. Sondern wir waren da vielleicht auch ein bisschen zu stieselig. Ein bisschen zu stur, um da eine bessere Kommunikation zu erzeugen. Aber das war natürlich in der Auseinandersetzung in der Schlachtordnung, die es damals gab, war dies natürlich sehr viel schwieriger. Natürlich haben wir da offensichtlich Probleme gehabt. Musik Autor Die Agenda 2010 ist das größte Reformpaket, das jemals in Deutschland umgesetzt worden ist. Neben der Einführung von Hartz IV, gibt es noch viele andere Maßnahmen. Da sind beispielsweise die Mini-Jobs. 31. O-Ton (Wolfgang Clement) Das ist ganz gut gelaufen. Das war notwendig. Aber nicht als etwas, wo sich die Menschen dauerhaft aufhalten sollten. 32. O-Ton (Ulrich Walwei) Wir haben das Problem, dass wir bei den Mini-Jobs in einigen Feldern, ich sag mal vor allem Gastronomie, dann auch im Handel, ja den Verdacht haben, dass da auch, wenn es diese Ausweitung nicht gegeben hätte, wir auch mehr reguläre Vollzeit und viel mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen sehen würden. Das Problem bei den Mini-Jobs ist vor allem, dass wir da nicht immer Übergänge für Arbeitslose schaffen. Deswegen würde ich an der Stelle eher etwas skeptisch sein, was die Mini-Jobs angeht. Autor Sagt Ulrich Walwei. 33. O-Ton (Wolfgang Clement) Es ist nicht so, dass die Mini-Jobs dazu geführt haben, dass in großer Zahl Fulltime- Jobs beseitigt worden sind. Das ist nicht richtig. Aber im Prinzip bin ich sehr dafür zu überlegen, wie man dort noch Verbesserungen erzielen kann. Autor Und dann waren da noch die Ich-AGs. 34. O-Ton (Gerhard Schröder) Mit dem Small-Business-Akt verbessern wir die Startbedingungen in die Selbstständigkeit. Wer sich selbstständig macht und damit für sich und für andere Arbeitsplätze schafft, der hat unsere Anerkennung und unsere politische Unterstützung. Autor "Ich-AG" wird bereits 2002 zum Unwort des Jahres gekürt. 2006 gibt es diese Form der Subventionierung schon nicht mehr. . 35. O-Ton (Rudolf Hickel) Die Ich-AG, die ja auch immer sozusagen Schröder in Anspruch genommen hat, hat sich als völliger Flop erwiesen. Autor Eine Studie des Instituts von Ulrich Walwei kommt allerdings zu dem Schluss, dass mehr als drei Viertel der circa 400.000 geförderten Ich-AGs erfolgreich waren. 36. O-Ton (Gerhard Schröder) Wir müssen auch den Kündigungsschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und natürlich auch für die Unternehmen besser handhabbar machen. 37. O-Ton (Rudolf Hickel) Er hat Jobs geschaffen, bei denen die Kündigung gar keine Rolle mehr spielt. Nehmen Sie das Beispiel der Leiharbeit, weil die massiv ausgenutzt worden ist und nichts mehr mit konjunkturellen Puffern zu hat. Und der Kündigungsschutz ist gewissermaßen systemisch unterlaufen worden dadurch, dass man Jobs geschaffen hat, die gar nicht mehr dem Kündigungsschutz in der Weise unterliegen. Musik Sprecherin Durch die Agenda 2010 verändert sich auch die Parteienlandschaft gewaltig. 38. O-Ton (Oskar Lafontaine/Gregor Gysi) Es ist unglaublich, was die Reformchaoten der letzten Jahre angerichtet haben. Sie haben einen sicheren Sozialstaat, der vielen Menschen in Deutschland Halt und Sicherheit und Planungssicherheit für die Zukunft gab, zerstört./ Der Zeitgeist bröselt! Der Neoliberale! Sprecherin Linke, Ex-SPD'ler und Gewerkschafter gründen die "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit". Die geht, gemeinsam mit der PDS, in der Partei "Die Linke" auf. Und in der SPD selbst scheint Krieg zu herrschen. Der Heidelberger Politikwissenschaftler Reimut Zohlnhöfer. 39. O-Ton (Reimut Zohlnhöfer) Die Agenda 2010-Rede des Bundeskanzlers, im März 2003, von der wusste die SPD Fraktion kaum, welche Inhalte da tatsächlich der Bundeskanzler vorstellen würde. Insbesondere die umstrittenen Fragen, was die Höhe des Arbeitslosengeldes II angeht beispielsweise. Die SPD hat sich irrsinnig verändert. Und man merkt auch, insbesondere seitdem die SPD in der Opposition ist, dass sie mit vielen dieser Reformen ihre Schwierigkeiten hat. Sprecherin Die Agenda entsteht unter Rot-Grün. Während die SPD noch heute an den Beschlüssen von damals krankt, steigen die Grünen in der Gunst der Wähler. 40. O-Ton (Reimut Zohlnhöfer) Die Grünen haben unter der Agenda 2010 in keiner Weise so gelitten, wie die SPD und sind aber heute auch, aufgrund der, sagen wir mal kritischen Haltung der Bevölkerung, zu vielen dieser Maßnahmen etwas davon abgerückt. Sprecherin 2003 - Während der Rede von Gerhard Schröder gibt es Lacher, pubertäre Zwischenrufe und Störfeuer von Reihen der Union und der FDP. Sprecherin (mit Effekt) Protokoll: Volker Kauder (CDU/CSU): Was versprochen wird, wird doch nie gehalten. Ausrufezeichen. Michael Glos (CDU/CSU): Versprochen - gebrochen, Ausrufezeichen. Sprecherin Alles Theater? 41. O-Ton (Reimut Zohlnhöfer) Aber die Opposition hat hier eine strategische Möglichkeit gesehen, eine Reform, die sie ohnehin wollte, durchzusetzen. Aber nicht selbst oder jedenfalls nicht allein dafür verantwortlich zu sein, weil die Regierung sie initiiert hat. Und insofern hat die Union auch hier noch einige Dinge durchgesetzt, die die SPD so unter Umständen gar nicht wollte, im Vermittlungsausschuss. Man hat dann aber 2005, nach der Bundestagswahl auch festgestellt, dass dieses Programm den Wählerinnen und Wählern nicht besonders gut gefällt, sodass sie seitdem eigentlich auch ihre Lektion gelernt hat und hier auch sehr zurückhaltend geblieben ist. 42. O-Ton (Gerhard Schröder) Aber es muss auch klar sein, obwohl wir bei der gesetzlichen Umsetzung der Hartz-Vorschläge zügig gearbeitet haben, wird es durchaus seine Zeit dauern, bis die entsprechenden Reformen auf dem Arbeitsmarkt greifen. Autor Zeit, die die SPD nicht zu haben scheint. Gerhard Schröder stellt die Vertrauensfrage, lässt das Parlament auflösen, will Deutschland ein weiteres quälendes Jahr, bis zur eigentlichen Bundestagswahl, ersparen. Der Wahlkampf 2005 wird zur Tortur. Der damalige Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. 43. O-Ton (Wolfgang Clement) Ja, man denkt natürlich immer noch, man kann es immer noch schaffen. Aber ich erinnere mich an ein Wort von Gerhard Schröder in einer solchen Diskussion, wo er gesagt hat: dann gehen wir mit durchgedrücktem Kreuz hier heraus. Das hat mich auch überzeugt. Dieses Gefühl, wenn es denn schief gehen soll, aus meiner Sicht gesprochen, also wenn wir denn die Wahl verlieren sollen, dann aber so, dass wir zu dem stehen können, was wir zu verantworten haben. Und davon waren wir überzeugt. Autor Was folgt, ist bekannt: die große Koalition. Angela Merkel als Kanzlerin. Sie dankt ihrem Vorgänger für die mutigen Reformen. Und die werden zum Teil zurückgenommen. Der Politikwissenschaftler Reimut Zohlnhöfer. 44. O-Ton (Reimut Zohlnhöfer) Wenn Sie an die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer denken. Oder auch die zusätzlichen rentenpolitischen Maßnahmen, die die große Koalition im Wahljahr 2009 eingeführt hat. Oder auch jetzt die schwarz-gelbe Koalition, die die Praxisgebühr abgeschafft hat. Also peu à peu erleben wir, dass zumindest einzelne Maßnahmen zurück genommen werden. 45. O-Ton (Wolfgang Clement) Begreifen kann ich es nicht. Statt sich zu dem bekennen, was erfolgreich gelungen ist und statt vor allem dies fortzusetzen, was wir mit den Arbeitsmarktreformen unternommen haben. Das hieße, Investitionen nicht nur vom Geld, aber auch von neuem Engagement, von neuem Elan, von neuen Gedanken in Bildung und Qualifizierung. 03. Musik 46. O-Ton (Gerhard Schröder) Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Strukturreformen. Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts, bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen. Sprecherin Zehn Jahre ist Schröders Rede alt - was zu tun war, ist also getan. Wie genau welche Reformteile gegriffen haben, ist schwer zu ermessen. Hat uns die Agenda in der Wirtschaftskrise sogar vor dem Schlimmsten bewahrt? Die Antwort der Experten: Ja. Nein. Vielleicht. Die Arbeitslosenzahlen sind auf knapp drei Millionen gesunken. Nicht jeder der will, findet Arbeit. Und nicht jeder der reguläre Arbeit hat, kann davon leben. Die Konkurrenz um gut bezahlte Jobs ist härter geworden. Zu Demos gegen Hartz IV kommen wenige. Montagsdemos gegen Fluglärm und Bahnhofsumbau haben mehr Zulauf. Die Agenda 2010 hat unsere Gesellschaft verändert. 47. O-Ton (Wolfgang Clement) Sie hat uns reicher gemacht. Sie hat Deutschland aus einer tiefen Depression geholfen, aus einer tiefen Depression heraus zu führen. 48. O-Ton (Rudolf Hickel) Naja, die Gesellschaft hat sich insoweit verändert, als das es zu einer Spaltung gekommen ist. Hier ist eine spezielle Armut entstanden, nämlich eine sogenannte lohnbedinge Armut. 49. O-Ton (Ulrich Walwei) Vielleicht hat man vor zehn Jahren noch nicht so in dem Maße diskutiert, über befristete Beschäftigung, Teilzeitbeschäftigung. Auch bestimmte Formen der Selbstständigkeit oder auch das Thema Leiharbeit. Und man sieht eben, dass es jetzt nicht mehr nur noch Randphänomene sind, sondern dass das jetzt viel stärker Realität ist. 50. O-Ton (Reimut Zohlnhöfer) Ich glaube nach wie vor ist Hartz IV ein Schreckgespenst für einen großen Teil der Bevölkerung. Insofern glaube ich nicht, dass die Bevölkerung in Jubel ausbricht, wenn sie an die Agenda 2010 denkt. Musik 04 Sprecher/in vom Dienst Schröders Ich-AG Wie hat uns die Agenda 2010 verändert? Eine Sendung von Johannes Nichelmann 51. O-Ton (Gerhard Schröder) Ja, wir haben diese Gesellschaft verändert. Das war auch notwendig. Wir haben gesagt, wir fördern, aber wir fordern auch. Und ich halte das nach wie vor für richtig. Sprecher/in vom Dienst Es sprachen: Karla Schlender und der Autor Ton: Hermann Leppich Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 10 1