COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 10. Dezember 2007, 19.30 Uhr Offene Worte unter Freunden? Warum Kritik an Israel so schwierig ist Von Brigitte Schulz 1. O-Ton: Becker Israel und die israelische Außen- und Sicherheitspolitik wird immer wie ein rohes Ei behandelt. 2. O-Ton: Beck Wann hat man Israel in Deutschland nicht kritisiert? Ich bitte Sie, mir ein Beispiel zu geben, wo man Israel in Deutschland nicht kritisieren durfte. 3. O-Ton: Verleger Die Wahrnehmung, dass die deutschen Medien übermäßig Israel kritisieren, die finde ich nicht richtig. Die abstrahiert von der Tatsache, dass Israel noch ziemlich viel heftiger kritisiert werden müsste. Zitator Offene Worte unter Freunden? Warum Kritik an Israel so schwierig ist Von Brigitte Schulz Sprecherin Die Geister scheiden sich schon an der Frage: Kritisiert man in Deutschland die Politik des Staates Israel zu viel oder zu wenig? Offene Kritik sei hierzulande ein Tabu, behaupten die einen. Israel werde zu oft und zu heftig kritisiert, sagen die andern. Kaum eine Diskussion bewegt sich auf derart dünnem Eis wie die über die Frage: Dürfen und sollten Deutsche Israel kritisieren? Wenn ja, dann wie? Deutsche befinden sich bei dieser Frage in einem sensiblen Spannungsfeld. Schweigen Sie etwa zu Menschenrechtsverletzungen, machen sie sich schuldig. Wer Israel jedoch kritisiert, gerät schnell unter Antisemitismusverdacht. Und noch etwas: Auch angemessene Kritik am Staat Israel wird von Rechten und Neonazis für ihre Zwecke missbraucht. Doch warum ist ein Rechter antisemitisch, obwohl er vielleicht das Gleiche sagt wie ein seriöser Kritiker? Oft ist die Unterscheidung schwierig und eine bloße Gratwanderung. Denn für dieses verbale Minenfeld gilt in besonderem Maße die alte Spruchweisheit: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. 4. O-Ton: Pfahl-Traughber Es gibt da eine sehr emotionale, politisch aufgeladene Debatte von allen möglichen Seiten in dem Bereich, die in einer teilweisen Hysterie auch geführt wird. Und dass es unterschiedliche Moralisierungen und Tabuisierungen gibt, die sachlich in keiner Weise begründet sind und die für einen unehrlichen Umgang auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit diesem Thema stehen. Und das führt zu dieser merkwürdigen Verkrampfung, die es in diesem Bereich gibt. Dass es beispielsweise auch eine Position gibt, Israel nicht kritisch zu würdigen, weil man Angst hat, in eine bestimmte Richtung gesteckt zu werden. Das zeugt aber eigentlich von einem unklaren Verhältnis zu diesem Thema, denn man kann sehr wohl eine israel-kritische Position formulieren und dabei deutlich machen, dass es sich nicht um eine antisemitische Position handelt, dass man viel stärker differenzieren muss. Sprecherin Armin Pfahl-Traughber ist Antisemitismusforscher an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Er untersucht Judenfeindlichkeit und Israelkritik in Deutschland. Der Wissenschaftler betont: 5. O-Ton: Pfahl-Traughber Es hat schon immer Israelkritik gegeben, auch in der deutschen Öffentlichkeit, die hat sich meines Erachtens im letzten Jahrzehnt verstärkt. Sprecherin So häufen sich Stimmen, die die Bundesregierung auffordern, deutlicher Stellung zu nehmen zu der Besatzungspolitik Israels. Etwas, was der jüdische Pädagogikprofessor Micha Brumlik aus Frankfurt nicht nachvollziehen kann: 6. O-Ton: Brumlik Man kann an der Außenpolitik der Bundesregierung kritisieren, dass die deutsche Bundesrepublik nicht in ähnlicher Deutlichkeit die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland kritisiert wie sie etwa mehr Menschenrechte in China einklagt. Man kann kritisieren, dass die deutsche Bundesregierung im Falle Israel, aber auch in anderen Fällen deutlicher werden könnte. Was ich aber nicht einsehe, ist, warum die deutsche Bundesregierung nun ausgerechnet im Fall Israel deutlicher werden soll als in allen anderen Fällen. Sprecherin Friedensaktivisten in Deutschland haben eine Antwort: Weil die Bundesrepublik das größte Mitgliedsland der Europäischen Union ist. Sie fordern, dass die EU sich verstärkt in den Nahostkonflikt einschaltet. Der Friedensforscher Johannes Becker vom Zentrum für Konfliktforschung in Marburg: 7. O-Ton: Becker Ich glaube, wir haben auch bestimmte Verantwortungen als eines der ökonomisch stärksten Länder dieser Erde: Im Verbund mit den EU-Staaten, die eine halbe Milliarde Menschen hinter sich vereinen. Und dazu kommt, dass sowohl die israelische Regierung als auch die palästinensische Vertretung immer wieder nach einer aktiveren Rolle der Europäischen Union verlangen und nun müssen wir uns überlegen, was könnte diese Rolle denn sein? Und ich denke, die erste Rolle der Bundesrepublik und mit ihr der Europäischen Union müsste sein, dass sich Israel an die Resolution des UN-Sicherheitsrats hält. Musikakzent Sprecherin Kritik an Israel kann angemessen sein, aber auch einseitig, feindlich oder antisemitisch. Ob das eine oder andere zutrifft, hängt häufig ab von der Situation und der Person des Kritikers. Feststeht: Es gibt sowohl offenen als auch versteckten Antisemitismus in Deutschland und beides ist nicht weniger geworden. Deswegen tut man gut daran, sensibel und wach zu sein. Die ständige Angst, aufgrund von Israel-Kritik als antisemitisch zu gelten, sei indes überzogen ? meint Rolf Verleger, Israelkritiker und Direktoriumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland: 8. O-Ton: Verleger Wovor haben wohl Deutsche Angst, wenn sie denken, sie könnten jetzt des Antisemitismus geziehen werden oder wovor haben auch deutsche Politiker Angst? Ich denke mir, ein Teil der Antwort ist, dass man glaubt, wir Juden haben die Definitionsmacht, ob Deutschland wirklich seine Vergangenheit losgeworden ist und ein besseres Deutschland geworden ist, was meine Überzeugung ist, dass Deutschland sich tatsächlich gewandelt hat. Sprecherin Trotzdem: Wenn Deutsche Israel kritisieren, spielt die Vergangenheit auch weiterhin eine Rolle ? und das zu Recht, meint Micha Brumlik: 9. O-Ton: Brumlik Das ist überhaupt kein Wunder, angesichts dieses ungeheuerlichen Massenmordes ist verständlich, dass man sich nun seiner Motive bei der Auseinandersetzung mit jüdischen Themen zu versichern sucht und darauf bedacht ist, keinen Anschein zu erwecken, dass eine Kritik an staatlichen Maßnahmen von Israel etwa der Entlastung der eigenen historischen Verantwortung oder Schuld dient. Musikakzent Sprecherin Offiziell gelten die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und Israel als ?einzigartig?, ?eng? und ?freundschaftlich?. Deutschland habe ?eine besondere Verantwortung? für den Staat Israel, denn es sei verantwortlich für den Völkermord an den Juden. In der Öffentlichkeit existieren allerdings unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie diese besondere ?Freundschaft? und ?Verantwortung? aussehen soll und auch darüber, wie man Freunde kritisieren darf. Für Jochen Feilke ist dabei die uneingeschränkte Solidarität mit Israel das Wichtigste. Das gilt auch für die deutsch-israelische Gesellschaft, deren Vizepräsident er ist. Seit über 40 Jahren setzt sie sich für die Verständigung zwischen Deutschen und Israelis ein: 10. O-Ton Feilke Natürlich gibt es sehr vieles, was begeisterte Israelfreunde, wie ich es bin, nicht gut finden. Da gibt es einige Punkte, über die kann man in der oder jener Weise miteinander offen reden ? übrigens am offensten mit den Israelis selbst. Aber nach außen hin sind wir eine Gemeinschaft. Und so verlange ich eigentlich von den Freunden eines Landes, also der deutsch-israelischen Gesellschaft, dass sie sagen, wir mögen das Land, wir finden das Land aus diesen oder jenen Gründen interessant, möglicherweise auch wunderbar, und was wir zu kritisieren haben, kritisieren wir im eigenen Kreise. Sprecherin Jochen Feilke vergleicht die Beziehung seines Vereins zu Israel mit einer Familie: Innerhalb einer Familie könne man unterschiedlicher Meinung sein und sich aufs Heftigste kritisieren. Allerdings hinter geschlossenen Türen. Den Streit an die Öffentlichkeit tragen solle man nicht. Ganz anders definiert die Freundschaft zu Israel eine Gruppe von deutschen Geistes- und Politikwissenschaftlern. Sie nennen sich ?Das Manifest der 25? und formierten sich nach dem Libanonkrieg im letzten Jahr. Einer der Unterzeichner ist Johannes Becker vom Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg: 11. O-Ton: Becker Wir haben uns zu 25 Leuten zusammengetan aus der Friedens- und Konfliktforschung der Bundesrepublik. Anlass war sicherlich die letzte Libanonkrise, wo wir das Gefühl hatten, dass Israel völlig unverhältnismäßig auf kleinere Anschläge, die natürlich zu verurteilen sind, reagiert hat. Und da wir alles reflektierende Menschen sind, haben wir gedacht, wir sollten jetzt mal einen Punkt machen und dazu aufrufen nachzudenken, dass wir als Friedensforscherinnen und Friedensforscher auch ein ganz besonderes Urteil zu Israel fällen müssen. Sprecherin Das ?Manifest der 25? ist eine politische Stellungnahme und verurteilt indirekt die Bombardierung des Libanon sowie die Zerstörung großer Teile der dortigen Infrastruktur durch die israelische Armee im letzten Jahr. 12. O-Ton: Becker Wir müssen eine besondere Beziehung zu Israel haben, weil wir eine besondere Verantwortung für das jüdische Volk und für die sechs bis sieben Millionen industriell Vernichteten haben. Und wir haben eine Verantwortung für die Witze des alltäglichen Stammtisches. Aber gleichzeitig haben wir eine Verantwortung für die palästinensische Bevölkerung, weil ein Resultat des Holocaust und ein Resultat dieser deutschen Verantwortung, dieser systematischen Vernichtung ist nun mal, dass in dieses Gelände Palästina, wo, glaube ich, 1946 600.000 oder 700.000 Palästinenserinnen und Palästinenser lebten, nun plötzlich die jüdische Bevölkerung durch ein UNO-Mandat sich ansiedelte. Und wir haben die Verantwortung dafür, beide dieser Hälften gleich zu behandeln. Also bitte Sonderbeziehungen zur israelischen Bevölkerung und Sonderbeziehungen zur palästinensischen Bevölkerung. Sprecherin Das ?Manifest der 25? fordert die Bundesregierung auf, sich mehr für die Belange der Palästinenser einzusetzen. Es wendet sich auch gegen Antisemitismus in der Bundesrepublik und definiert den Begriff von Freundschaft neu: Sie umfasse mehr als nur uneingeschränkte Solidarität. Weiter heißt es: Zitator Eine tragfähige Freundschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Freunde und Freundinnen einander aus Sorge um das Wohlergehen des anderen auch vor Fehlern, Fehlentscheidungen und Fehlhaltungen warnen. Solange die Kritik nicht im Duktus der moralischen Verurteilung und in der Sprache der Abwertung stattfindet, sondern anteilnehmend und mit Verständnis für die Umstände, wird die Freundschaft sich dadurch weiter vertiefen. Sprecherin Das Manifest fordert die Bundesregierung auch auf, mehr Kritik zu wagen. Denn die Unterzeichner meinen, dass andere Länder mit möglichst objektiver Haltung sich in den Nahostkonflikt einschalten sollten, um ihn zu entschärfen. - Jochen Feilke, Vizepräsident der deutsch-israelischen Gesellschaft, ist skeptisch: 13. O-Ton: Feilke Und wer könnte das sein? Doch nicht Deutschland. Es gibt sehr viele, die der Meinung sind, dass aus der Distanz wir besonders gute Ratgeber sind. Nein, wir sind in dieser Frage Freunde Israels. Es ist überhaupt nicht identitätsstiftend für freundschaftliche Beziehungen, nach dem Motto:? Je heftiger du kritisierst, desto freundschaftlicher bist du?. Sprecherin Die Frage, ob und wie man Israel kritisiert, scheint auch abhängig zu sein von persönlichen Faktoren: ob man israelische oder palästinensische Freunde hat oder nach Israel oder in die palästinensischen Gebieten reist. Jochen Feilke ist verheiratet mit einer Israeli, er hält sich regelmäßig in Israel auf, auch zu Zeiten von kriegerischer Eskalation. So fuhr er im Sommer letzten Jahres in den Norden des Landes und erlebte mit, wie die Hisbollah vom Libanon aus Raketen und Granaten abfeuerte: 14. O-Ton: Feilke Ich war zu dem Zeitpunkt in Haifa, ich bin hingefahren, während die 25 Weisen auf ihren Schemeln gesessen haben und sich kluge Gedanken gemacht haben. Ich habe gesehen, welche Schäden dort angerichtet wurden, dass 400 000 Israelis aus dem Norden in den Süden gefahren sind, um diesen Raketen zu entgehen. Ich habe erlebt, wie Holocaustüberlebende in Hochhäusern gesessen haben und gesagt haben: wir warten das ab, wir haben schon Schlimmeres erlebt. Das heißt, man muss die Wirklichkeit im Auge haben, wenn man anfängt, eine Fundamentalkritik zu üben. Davon habe ich in diesem Manifest nichts gelesen. Musikakzent Sprecherin Der Libanon-Krieg im letzten Jahr hat die Diskussion um die Kritik von Deutschen an Israel neu entfacht. Nachdem zwei ihrer Soldaten von der Hisbollah in den Libanon entführt worden waren, griff die israelische Armee das Land an. Die Hisbollah feuerte daraufhin Raketen auf Israel. Während dieses Krieges reiste Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul in den Libanon. Anschließend forderte sie, die UNO solle den israelischen Einsatz von Streubomben im Libanon untersuchen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland reagierte empört. Die Vorsitzende Charlotte Knobloch warf Wieczorek-Zeul vor, sie unterstütze die Anti-Stimmung gegen die Juden in Deutschland. Der Vizepräsident des Zentralrats, Salomon Korn, bemühte sich in einem Telefon-Interview mit dem Deutschlandfunk um Differenzierung: 15. O-Ton: Korn Ich halte Frau Wieczorek-Zeul nicht für antisemitisch, wie das da so gelegentlich gesagt wurde, keineswegs, aber ein gewisser antiisraelischer Reflex, den muss ich allerdings registrieren. Sprecherin Bundeskanzlerin Angela Merkel grenzte sich von ihrer Ministerin ab und sagte, diese habe lediglich ihre Privatmeinung kundgetan. Rückendeckung bekam Wieczorek- Zeul von SPD-Fraktionschef Peter Struck: ?Auch Freunde müssen wahrheitsgemäß miteinander umgehen?, sagte er. An Heidemarie Wieczorek Zeul scheiden sich bis heute die Geister: Für den Friedensforscher Johannes Becker ist sie ?eine Lichtgestalt unter deutschen Ministern?. Der Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronot, Eldad Beck, meint dagegen, sie sei bekannt dafür, dass sie sich ganz automatisch gegen Israel äußere, ohne Fakten ausreichend zu prüfen. 16. O-Ton: Beck Da geht es um eine sehr deutliche ideologische Haltung, und es wäre schön, wenn diese Ministerin ab und zu auch die Situation der Israelis in den Augen behält und ab und zu auch die arabische Seite kritisiert. Es kann nicht sein, dass man sich nur auf Israel konzentriert. Musikakzent Sprecherin Den Libanonkrieg zum Anlass für massive Kritik nahm auch der deutsch-jüdische Professor Rolf Verleger von der Klinik für Neurologie der Universität Lübeck. Er schrieb während des Krieges einen Brief an den Vorstand des Zentralrats der Juden in Deutschland und empörte sich darüber, dass dieser hinter den Militäraktionen der israelischen Armee stand. Kurze Zeit später setzte ihn die Jüdische Gemeinde Lübeck als Vorsitzenden des Landesverbandes Schleswig Holstein ab. Doch das konnte Verleger in seinen israel-kritischen Aktivitäten nicht stoppen: Er gründete eine Organisation mit dem Ziel, innerhalb eines Jahres eine Million Unterschriften zu sammeln für die sogenannte ?Berliner Erklärung?. 60 deutsche Jüdinnen und Juden waren Erstunterzeichner dieser Schrift, die die Bundesregierung aufforderte, Israels Besatzungspolitik offener zu kritisieren und sich stärker für die Errichtung eines Palästinenserstaates einzusetzen. Ihre Position: Schuldgefühle hätten die Bundesrepublik bisher daran gehindert, dies zu tun. Zitat: Zitator Vor 61 Jahren endete mit der Niederlage Nazi-Deutschlands der unter Führung von Deutschen begangene Massenmord an den Juden Europas. Scham und Trauer über dieses Verbrechen lässt viele Menschen zur Politik des jüdischen Staates Israel schweigen. Aber dieses Schweigen ermöglicht neues Unrecht. 17. O-Ton: Verleger Ich sehe ja anerkennend, dass Deutschland sich in einem Dilemma befindet, und letztlich vom schlechten Gewissen noch umgetrieben wird, dass Deutschland mit seinem schlechten Gewissen gegen Unrechtstaten in Israel und Palästina nichts sagt. Was handeln wir uns da ein mit dieser Ungerechtigkeit, die wir tolerieren, das ist doch eine Zeitbombe und das sieht ja auch die Mehrheit der EU-Bevölkerung, der deutschen Bevölkerung, nur die Regierung hält sich vornehm zurück aus verschiedenen Ängsten. Sprecherin Rolf Verleger stößt mit dieser Meinung bis heute auf heftige Kritik ? wie sie zum Beispiel Jochen Feilke von der deutsch-israelischen Gesellschaft formuliert: 18. O-Ton: Feilke Die reden genau so dämlich wie Walser, der von der Holocaustkeule sprach. Ich halte diese Argumentation für unwürdig und deshalb auch nicht diskussionswürdig. Natürlich kann man jede Meinung vertreten in Deutschland und in Israel - wunderbar!, aber man muss sie doch nicht ernst nehmen. Sprecherin Der Zentralrat der Juden grenzte sich aufs Schärfste von Verlegers Sichtweise ab ? er vertrete eine absolute Einzelmeinung. Auf seinen Brief und die Berliner Erklärung hagelte es Kritik ? sie reichte vom Vorwurf der Israelfeindlichkeit bis hin zum Antisemitismus: 19. O-Ton: Verleger Der Begriff Antisemitismus kommt sehr schnell, was ich überraschend finde. Und wenn man heute zarte Kritik an der Politik Israels übt, es ist absurd, dafür Antisemit genannt zu werden, es ist nichts als ein Denkverbot. Das ist nicht besser als McCarthy mit seinen anti-amerikanischen Umtrieben und die rückständige christliche Kirche im Mittelalter, die jeden freien Gedanken als im Bunde mit dem Antichrist abtat. Sprecherin Rolf Verleger hat das Gefühl, dass man ihm gerade von jüdischer Seite seine kritische Haltung verübelt und man von ihm verlangt, dass er kritiklos hinter dem Staat Israel steht ? auch wenn niemand es so direkt sagt. Dem widerspricht der israelische Deutschlandkorrespondent Eldad Beck: 20. O-Ton: Beck Ich bin jetzt etwas mehr als fünf Jahre in Deutschland. Ich habe nicht in Erinnerung einmal, wo irgendeine Person wegen einer gerechtfertigten Kritik gegenüber Israel als Antisemit bezeichnet wurde. Wenn, dann vielleicht von Deutschen, die nicht jüdisch sind, aber bestimmt nicht von Israelis. Sprecherin Für Antisemitismusforscher Armin Pfahl-Traughber sind die israel-kritischen Stellungnahmen ?Manifest der 25? und ?Berliner Erklärung? eindeutig nicht antisemitisch. Er gibt jedoch zu bedenken, dass harte Kritiker leicht Gefahr laufen, einseitig zu sein: 21. O-Ton: Pfahl-Traughber Einseitig wäre, dass man nur das Vorgehen der israelischen Regierung und Armee kritisiert, die Handlungen der Araber und Palästinenser nicht thematisiert. Doppelstandards, wenn man sagt, Israel verletzt im Nahostkonflikt Menschenrechte und Grundrechte der anderen und ignoriert, dass es die andere Seite auch tut, möglicherweise in einem viel höheren größeren Maße, als Israel das selbst tut. Musikakzent Sprecherin In der Öffentlichkeit wird Antisemitismus unterschiedlich definiert: Er ist eine Form von Fremdenhass, sagen die einen. Er richtet sich gegen Juden und ihre Religion, erklären die andern. Die dritte Theorie: Ein neuer Antisemitismus ist auf dem Vormarsch, der sich als Kritik an Israel tarnt. Auch Armin Pfahl-Traughber stieß bei seiner Forschung auf antisemitische Israelkritik, doch definiert er sie genauer: 22. O-Ton: Pfahl-Traughber Man muss immer nach der Basis, nach den politischen Grundwerten der Kritik fragen: Was motiviert jemanden dazu, diese Kritik so zu formulieren, wie er sie formuliert, und das kann ganz unterschiedlich sein. Das ist auch schwierig zu unterscheiden. Wenn sie eine Bewertung treffen wollen, müssen sie sich die Personen oder Gruppierungen, die sich so äußern, genauer ansehen. Wie äußern sie sich in anderen Zusammenhängen, beispielsweise ihre Einstellung gegenüber "den Juden?, gegenüber ?den Israelis?, gegenüber anderen politischen Fragen? Und erst in diesem Zusammenhang kann eine Einschätzung, ob eine solche Kritik antisemitisch motiviert ist oder nicht, gefällt werden. Sprecherin Kritik an Israel, die nicht antisemitisch ist, wird häufig auch instrumentalisiert, um die eigene antisemitische Gesinnung damit zu festigen. 23. O-Ton: Pfahl-Traughber In der seriösen Presse weniger, aber die rechtsextreme Presse arbeitet natürlich mit solchen Argumentationsmustern. Da ist man ja auch sensibel, man weiß um den Straftatbestand der Volksverhetzung und hält sich auch, was die antisemitische Agitation angeht, in bestimmten Teilen der rechtsextremen Presse eher zurück und versucht, diese Stimmungen zu vermitteln, indem man seriös klingende Kritik aufgreift und dahinter immer in bestimmten Formulierungen oder Anklängen dem antisemitisch eingestellten Leser dieses Spektrums eine Richtung in den Antisemitismus weist. Sprecherin Hätten nicht-jüdische Deutsche die Berliner Erklärung von Rolf Verleger verfasst, wären sie unter Verdacht geraten, sich selbst entlasten zu wollen oder die Taten der Nationalsozialisten zu relativieren. Auch die Berliner Erklärung von Rolf Verleger wurde von einigen Rechten instrumentalisiert: 24. O-Ton: Verleger Wenn so einer schreibt: Ich lasse mir jetzt von keinem Juden mehr vorschreiben, was ich als Deutscher zu denken habe, wenn Israel auch solche Sachen macht. Solchen Leuten, es waren nicht viele, habe ich geschrieben: Ich fühle mich verantwortlich für das, was Israel macht und schäme mich dafür, und von Ihnen als Deutscher fordere ich, dass auch Sie sich verantwortlich für das fühlen, was im deutschen Namen gemacht worden ist und das bedauern. Und wenn ich das Bedauern nicht spüre, dann will ich von Ihnen auch nicht gelobt werden. Sprecherin Rolf Verleger versichert, er habe eine innige Beziehung zu Israel ? auch, weil seine Geschwister dort leben. Es sei notwendig, Israels Regierungspolitik zu kritisieren, denn alleine, so Verleger, finde das Land aus seinem Eskalationskurs nicht mehr heraus. Er findet es absurd, dass man ihn als Antisemiten betrachtet, denn auch er habe viele Familienmitglieder im Holocaust verloren. Im Gegenteil: Er betrachtet seine Initiative von deutschen Juden auch als etwas, um dem bestehenden Antisemitismus entgegenzuwirken: 25. O-Ton: Verleger Wenn das Judentum in Deutschland sich selbst mit Israel identifiziert, wie das ja der Vorstand des Zentralrat während des Libanonkrieges gemacht hat und von der Umwelt mit Israel in eins gesetzt wird, dann führen natürlich Kritiklosigkeit an Israels Ungerechtigkeiten dazu, dass sich Hass gegen Juden richtet. Und wenn dann auch noch diese Doppelbödigkeit öffentlich da ist, dass man öffentlich als Politiker was anderes sagt, als man eigentlich denkt, da staut sich doch was an. Die Diskussion muss doch geführt werden, die muss doch offen gelegt werden und raus. Sprecherin Micha Brumlik hält diese Einstellung für völlig falsch ? sie komme dem Argument nahe, die Juden seien selbst schuld daran, dass es Antisemitismus gebe: 26. O-Ton: Brumlik Das würde ich nun wirklich auf das allerschärfste zurückweisen. Ich würde einräumen, dass bestimmte Politiken des Staates Israel antisemitistische Haltungen katalysatorisch verstärken. Es ist aber mit Sicherheit nicht die Ursache. Und wenn Juden anfangen, sich für das Handeln von anderen Juden zu entschuldigen, um den Antisemitismus zu verhindern, dann glaube ich, verschaffen sie dem Antisemitismus erst überhaupt Auftrieb. Antisemitismus ist eine Haltung, die mit dem realen Handeln und Verhalten von Jüdinnen und Juden nichts zu tun hat. Er findet sich auch und gerade dort, wo es überhaupt keine Juden gibt. Sprecherin Vor etwa einem Monat hat Rolf Verleger seine Berliner Erklärung beim Auswärtigen Amt vorgelegt: Rund fünfzehntausend Unterschriften jüdischer und nicht-jüdischer Deutscher hat er gesammelt. Wenngleich er sein Ziel von einer Million Unterschriften bei weitem nicht erreicht hat, ist Verleger doch zufrieden. Immerhin wurde er im Auswärtigen Amt empfangen und konnte sein Anliegen vortragen. Anders erging es den Verfassern des ?Manifests der 25.?. Sie erhielten noch nicht einmal eine Antwort der Bundesregierung. Lediglich ein Vertreter der deutschen Botschaft in Tel Aviv teilte nach Erscheinen des Manifestes mit, dass die Bundesregierung sich davon distanziere. Es scheint etwas dran zu sein an der Behauptung, das Thema Israelkritik werde in Deutschland auf politischer Ebene behandelt wie ein rohes Ei. Im Auswärtigen Amt war niemand bereit, dazu etwas ins Mikrofon zu sagen. Auch die israelische Botschaft lehnte ab. Musikakzent Sprecherin Vielleicht sollte die Diskussion über Kritik an Israel wirklich die Tabuzone mehr verlassen. Wobei äußerste Sensibilität geboten ist: Bei den Formulierungen und auch, was die Grundvoraussetzungen angeht. Die Wichtigste ist, Israel weiterhin in seinem Existenzrecht zu unterstützen. Der Antisemitismusforscher Armin Pfahl- Traughber rät, sich bei Kritik ebenso wie bei der Zurückweisung von Kritik sensibel und maßvoll zu verhalten: 27. O-Ton: Pfahl-Traughber Das gilt auch für eine seriöse Israelkritik, die sich immer die Gefahr einer antisemitischen Vereinnahmung und Instrumentalisierung vergegenwärtigen sollte und so ausgerichtet sein sollte, dass das eben nicht passiert. Und eine andere Seite sollte nicht voreilig ohne exakte belege Antisemitismusvorwürfe bringen. Wenn man alles und jenes als antisemitisch bezeichnet, erkennt man auch nicht mehr, was wirklich antisemitisch ist und beraubt sich der Erkenntnis von tatsächlicher Judenfeindschaft und legitimiert vielleicht noch gemäßigtere Formen dadurch. Zitator Offene Worte unter Freunden? Warum Kritik an Israel so schwierig ist Von Brigitte Schulz Es sprachen: Katharina Koschny und Joachim Schönfeld Ton: Kirsten Klatte Regie: Gabriele Brennecke Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2007 1