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Spr. vom Dienst Was man zum Leben braucht - Wie Armut in Deutschland wahrgenommen wird Eine Sendung von Joachim Schulte und Andreas Ulrich ATMO Straßengeräusch Sprecher 1 (auf Atmo) Wir sind in Klein-Manhattan. So wird von den Bremern der Stadtteil Tenever genannt. In den 70er Jahren als Modell für das Wohnen in der Zukunft konzipiert - mit bezahlbarem Wohnraum für alle - ist die Plattenbausiedlung heute ein sozialer Brennpunkt, wie es sie inzwischen in jeder größeren Stadt in Deutschland gibt. Sprecher 2 In einigen der Hochhäuser ist jeder Zweite auf Arbeitslosengeld II angewiesen. Also auf das faktische Existenzminimum. 351 Euro monatlich plus Mietkosten. Sprecher 1 An einer Straßenbahnhaltestelle fragen wir Passanten, wie es sich mit so wenig Geld lebt. Ein Mann Mitte 60 wartet auf die Bahn Richtung Innenstadt und gibt bereitwillig Auskunft. O-Ton Bremer Rentner Sie müssen eben mehr auf ihr Geld achten und das zusammen halten, das wenige, was da noch bleibt. Das geht bis dahin, dass wenn beispielsweise die Waschmaschine kaputt ist oder der Geschirrspüler kaputt ist, wenn ein Fernseher nach 12 Jahren ausgedient hat, dann müssen Sie den anschaffen und die meisten können das bar, so aus der Hand, gar nicht bewältigen. Sprecher 2 Ein junger Mann Anfang 20 mit weitem Kapuzenpullover, Jeans und Turnschuhen hat zugehört und ergänzt: O-Ton Junger Einwanderer Zum Beispiel manche können sich kaum erlauben sich zum Beispiel eine Monatskarte zu holen. Weil für die ist das halt so, die fahren dann eher mit irgendeinem Fahrrad oder gehen meistens zu Fuß oder regelmäßig sich neue Kleidung zu holen. Die laufen dann, sieht man schon, mit lang gebrauchten Sachen oder teilweise kaputten Sachen oder teilweise qualitativere Lebensmittel. Die kaufen dann, teilweise, was gerade abgelaufen ist, was die sich gerade leisten können. Man lebt dann eher vom Minimalsten, unterm Durchschnitt lebt man dann. Das ist kein richtiges Lebensverhältnis mehr für einen Durchschnittsmenschen. ATMO: Schritte im Treppenhaus/Tür wird geöffnet Sprecher 1 Wir sind verabredet mit Frau Neumann. Eine, wie sie selber sagt, Ureinwohnerin hier in Tenever. Seit Ende der 70er Jahre lebt sie im Stadtteil. Inzwischen in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung im 9.Stock. Sprecher 2 Die arbeitslose Mittfünfzigerin hatte am Vormittag einen Termin beim Optiker und ist etwas ratlos: O-Ton Frau Neumann Frustrierend war, dass die festgestellt haben, dass ich eine völlig falsche Brille habe. Und jetzt konnte ich nicht richtig sehen. Dann haben die festgestellt, dass ich auch schlechter sehe. Die Untersuchung kostet da nichts. Aber ich muss doch eine neue Brille haben. Und die Brille kostet "auch nur", das ist denen egal, 400 Euro kann ein Mensch nicht aufbringen. Die wollen das Geld bar haben. Sprecher 1 Bei 351 Euro im Monat in der Tat ein Problem. Die Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern ist verbittert: O-Ton Frau Neumann Wenn man geackert hat wie ein Tier, was ich immer getan habe. Mein Beruf ist Hauswirtschafterin und auch Raumpflegerin. Und da muss man wirklich arbeiten und wirklich also. In Minuten muss man da die Quadratmeter abarbeiten. Ich habe mir ganz einfach durch solche Arbeiten die Knochen kaputt gemacht. Sprecher 2: Ortswechsel. Berlin-Kreuzberg. Christian Herberg, gelernter Bankkaufmann, ist seit zehn Jahren Schuldner-Berater beim Diakonischen Werk. Der Zwei-Meter-Mann sitzt in seinem viel zu kleinen Büro und weiß, wofür das so genannte Existenzminimum reicht: O-Ton HERBERG Es reicht, um jeden Tag in irgendeiner Form zu überleben. Es reicht nicht, um sich vielleicht Zukunftsperspektiven auszumalen, Ziele zu definieren. In die Zukunft gerichtet zu leben, dafür reicht es nicht. Es reicht eben auch nicht, um Rücklagen zu bilden für notwenige, wirklich notwendige, Anschaffungen, wie meinetwegen ein neues Paar Schuhe oder einen Schulranzen für die Kinder. Dafür reicht es auf keinen Fall. Es reicht, um nicht zu verhungern. Sprecher 2 Jeder Zehnte in Deutschland lebt vom Existenzminimum. Und das sind nicht nur Langzeitarbeitslose und deren Kinder: Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Professor Rudolf Hickel stellt fest... O-Ton HICKEL ...dass die Niedriglohnbezieher in der Zwischenzeit fast 24 Prozent aller Beschäftigten ausmachen. Wir also, was die Niedriglohnanteile betrifft, Verhältnisse haben wie in den USA. Das ist eine Spaltung, die hat ganz verschiedene Auswirkungen. Sie hat erstmal für die Betroffenen Auswirkungen, weil sie existenziell nicht in der Lage sind, von ihrer Erwerbsarbeit, zum Teil auch sehr harter Arbeit, zu leben. Zweitens bekommen es die Familien zu spüren. Da wird so was wie eine Reproduktion von Armut hergestellt. Das heißt, auch die Kinder können an der Gesellschaft, also an vielem nicht teilnehmen. Und das Dritte ist ganz entscheidend. Die Niedriglohnpolitik ist natürlich auch deshalb so gefährlich, weil sie insgesamt ein Lohndumping auslöst, das heißt auch Druck ausübt in Richtung von Tariflöhnen, von tariflich vereinbarten Löhnen zu Absenkungen zu kommen. ATMO Aschersleben Sprecher 1 Wir sind in Aschersleben. In der einstigen Industriestadt südlich von Magdeburg sind blühende Landschaften nicht in Sicht. 30.000-Einwohner. Jeder Vierte ist arbeitslos. Die Sozialberatung ist auch heute wieder gut besucht. Bärbel Lohrengel ist gelernte Industrie-Kauffrau. Seit sieben Jahren ist die 51-jährige arbeitslos. Sie und ihr ebenfalls arbeitsloser Mann leben von 733 Euro im Monat: O-Ton LOHR Man muss ja wirklich ganz doll rechnen, man kann sich nicht erlauben ins Kino zu gehen. Oder mal ins Restaurant, dass man sagt, ich möchte auch mal schön essen gehen, wieder. Das ist einfach nicht möglich von dem Geld. Wir können eigentlich nur noch überleben und nicht mehr leben. O-Ton KÖNIG Die Armutsforschung spricht ja eben nicht mehr nur davon, dass das Problem in Oben und Unten besteht, sondern im Drinnen und Draußen. Der Fachbegriff dafür heißt soziale Exklusion. Also die, die zu wenig Geld haben, schwer genug, die sind einfach nicht mehr drauf auf dem Karussell, das in dieser Gesellschaft fährt. Das ist das eigentliche Problem. Und sie kommen oftmals nicht mehr drauf. Sie sind sozusagen draußen, sie sind exkludiert, ausgeschlossen. Das ist das eigentliche Problem und daran muss man arbeiten. Sprecher 2 ...sagt STERN-Reporter Jens König. Unter dem Titel "Einfach abgehängt" veröffentlichte er gemeinsam mit der Journalistin Nadja Klinger einen - ZITAT - wahren Bericht über die neue Armut in Deutschland. In ihrem Buch porträtieren sie Menschen, die am Existenzminimum leben und beschäftigen sich mit strukturellen Ursachen von Armut. ATMO Aschersleben Sprecher 1 (darauf) In Aschersleben fällt uns unterdessen unter den Ratsuchenden eine Mittvierzigerin auf, sorgfältig geschminkt, die blonden Haare frisch frisiert, goldene Ohrclips und cremefarbene Bluse. Ihr Outfit würde eher auf Chefsekretärin schliessen lassen, als auf Hartz IV. Wie macht sie das? O-Ton POLIN Ich manchmal kriege gebrauchte Klamotten von anderen Menschen. Ich sortiere das und was zu mir passt, behalte ich und was nicht passt, geben ich weiter. Sprecher 1 Der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel erklärt, warum gerade Menschen, die am Rand des Existenzminimums leben, von den Preissteigerungen der letzten Monate besonders betroffen sind. Ihr Warenkorb, das heißt, was sie jeden Monat konsumieren, hat notwendigerweise einige Besonderheiten: O-Ton HICKEL Wenn man in den Warenkorb hineinschaut, dann sind natürlich die Güter und Dienstleistungen drin, die tagtäglich gebraucht werden. Und die steigen. Das geht los mit den Energiepreisen, Strompreisen. Lange Zeit sind das aber auch die Nahrungsmittel gewesen und viele andere Preise, auch der Brotpreis. Und das schlägt natürlich besonders durch in einem solchen Budget. Das darauf angewiesen ist, das Notwendigste einzukaufen. Sprecher 2 Das Leben als permanenter finanzieller Drahtseilakt hat für die Betroffenen noch ganz andere Folgen: O-Ton KÖNIG Ich glaube, dass die meisten mittlerweile selber glauben, dass sie an ihrer Armut Schuld sind. Also diese Umkehrung der Schuldfrage ist - glaube ich - die bitterste Konsequenz von Armut, neben ohnehin der Tatsache, na klar, jeder weiss das, mit sehr wenig Geld und wenig sozialer Anerkennung sehr schlecht leben kann. Sprecher 2 Beobachtungen von Jens König, die auch in Aschersleben bestätigt werden. Es gibt... O-Ton POLIN ... Tage, wo Mensch sagen ,Warum?' Es ist schwer und ich bin alleine hier, keine Familie - und drei Kinder. Manchmal ist man psychisch so unten und denken, warum und für was? O-Ton HERBERG Schuld Ich bin der festen Überzeugung, dass kein Individuum an der Armut schuld ist, sondern dass das letzen Endes die Politik ist. Es kann ja nicht sein, dass in einem extrem reichen Staat, wie Deutschland, über ein Existenzminimum diskutiert wird, das die Menschen einfach bewegungslos macht und sie nicht mehr am normalen üblichen Leben teilnehmen lässt. Wenn es eine Schuld gibt, da muss man natürlich sehr vorsichtig sein, dann liegt sie in der Politik. Sprecher 1 ...sagt der Schuldnerberater aus Berlin. Sprecher 2 Der zuständige Abteilungsleiter im Statistischen Landesamt Bremen, Karl Schlichting, stellt dazu nüchtern fest. O-Ton SCHLICHTING Wenn man in der heutigen Gesellschaft am öffentlichen, am kulturellen Leben teilnehmen will, dann ist natürlich dieses Einkommen bei weitem nicht ausreichend. Es ist wirklich ein Einkommen, das nur das Elementare abdeckt. Sprecher 1 Vielleicht haben wir es auch mit einem Definitionsproblem zu tun. Was kann das Existenzminimum leisten und was soll es leisten? O-Ton SPEHR Existenzminimum ist immer relativ. Das kann nicht darin bestehen, dass man sagt, wenn man den Menschen im Sinne der Käfighennenhaltung optimiert hält, wie billig kann er denn 60 Jahre alt werden? Das muss ja etwas damit zu tun haben, dass man sagt, was muss ein Mensch haben, damit er in dieser Gesellschaft überleben kann? Aber auch teilnehmen kann und mit bestimmten weiteren Chancen dran teilnehmen kann. Also d.h. zum Existenzminimum gehört mehr, als dass jemand überlebt, es gehört dass er weiterhin in der Lage ist, an Gesellschaft teilzunehmen und nicht rauszufallen, und das ist ein bisschen schwieriger zu berechnen. Sprecher 2 ... sagt der Bremer Sozialwissenschaftler Christoph Spehr. Sprecher 1 Ganz andere Schwierigkeiten bei der Berechnung konstatiert der Statistiker. Karl Schlichting weist seit Jahren darauf hin, dass bei der Höhe des statistischen Durchschnittseinkommens die absoluten Spitzenverdiener gar nicht mitgerechnet werden. Wessen Einkommen 18.000 Euro übersteigt, der kommt in der Statistik nicht vor. Hinzu kommt. O-Ton SCHLICHTING ... dass gerade Menschen mit sehr hohem Einkommen durch das Absetzen bei der Lohn- und Einkommenssteuer das Einkommen mindern kann. Und je höher das Einkommen ist, umso größer sind natürlich hier die Möglichkeiten, das Einkommen zu mindern. Sprecher 2 Das hat Konsequenzen. Sprecher 1 Auf diese Weise wird das statistische Durchschnittseinkommen künstlich gesenkt. Für den Staat hat das den angenehmen Nebeneffekt, dass die Hartz IV-Sätze unten gehalten werden. Die orientieren sich nämlich an den ermittelten Durchschnittseinkommen. Sprecher 2 De facto ist das Arbeitslosengeld Zwei in Deutschland das Existenzminimum. Jeder, der nachweisen kann, dass seine Einkünfte unter diesem Betrag liegen, hat Anspruch auf staatliche Unterstützung, bis dieser Satz erreicht ist. Sprecher 1 Das sind derzeit 351 Euro zum Leben plus Übernahme der monatlichen Warmmiete, deren Obergrenze durch die jeweilige Kommune festgelegt wird. Für eine alleinstehende Person beispielsweise in Bremen 320 Euro, in Berlin 360 oder in Aschersleben 277 Euro. Sprecher 2 Macht rund 700 Euro, die jedem Erwachsenen zur Begleichung aller seiner Kosten zugestanden werden. Sprecher 1 Christian Herberg wüsste eine Alternative: O-Ton HERBERG Ich würde als Schuldnerberater sagen - wendet doch einfach die Pfändungstabelle an. Die Pfändungstabelle, die klar festlegt, was bei einem überschuldeten Menschen unpfändbar ist, an welches Geld die Gläubiger nicht herankommen können. Da wird aus meiner Sicht ganz klar auch ein Existenzminimum definiert. Und das beginnt bei 990 Euro netto bei einem allein lebenden Menschen ohne Unterhaltspflichten. Und kann dann aber auch weitaus höher sein, wenn derjenige sich noch um Kinder kümmern muss oder verheiratet ist. Da kann es auch sein, dass 1500 Euro nicht pfändbar sind. Sprecher 2 Das sind Vorschläge, Zukunfts-Visionen. Sprecher 1 Die momentane Gesetzeslage dagegen lässt auf eine düstere Zukunft schließen. Wer heute arm ist, der muss auch damit rechnen, dass das morgen im Alter so bleibt. O-Ton SCHLICHTING Wir hatten zum Beispiel in Bremen in den letzten drei vier Jahren fast eine Verdoppelung dieser Rentner, die ihr Einkommen aufgestockt bekommen haben. Das heißt die Altersarmut, die heute noch kein Thema ist, wird sich in den nächsten Jahren dynamisch entwickeln. Sprecher 1 Wenn man als Geringverdiener überhaupt das sogenannte Renten-Eintrittsalter erreicht. Eine groß angelegte Studie der Universität Köln zum Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung stellt fest: Zitatorin Nirgends in Europa ist der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich so groß wie in Deutschland. So leben Männer mit höchsten Einkommen im Schnitt zehn Jahre länger, als die Bezieher niedriger Einkommen. Wer heute weniger als 30 000 Euro im Jahr verdient, erreicht nur in 60 Prozent der Fälle das Renteneintrittsalter von 65 Jahren. Bei Spitzenverdienern dagegen ist die Zahl deutlich größer: Wer über 60 000 Euro im Jahr verdient, erlebt in 85 Prozent der Fälle das Rentenalter. Die höhere Lebenserwartung der Besserverdienenden führt dazu, dass sie im Schnitt 20 Jahren Rente beziehen, Geringverdiener dagegen im Durchschnitt nur sechs Jahre. O-Ton Politikercollage (Merkel, Schröder, Andres, Westerwelle) Viele soziale Probleme liegen im Grunde in der Nichtfähigkeit von Menschen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt - und wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern - der, meine Damen und Herren, wird mit Sanktionen rechnen müssen. Die dann sagen, man müsse doch bei Hartz IV nur 20 Prozent rauflegen oder dieses oder jenes machen, denen sei gesagt: Das ist zwar schöner Populismus, aber der hilft nicht. Es ist soziale Verantwortung, denen, die sich als Trittbrettfahrer in einem Sozialstaat einrichten, das Geld zu kürzen, damit man es denen geben kann, die es wirklich brauchen. Aber nicht solche Schmarotzer. Sprecher 2 Der Schuldner-Berater reagiert inzwischen genervt, wenn er so was hört. Noch einmal Christian Herberg: O-Ton HERBERG Ich werde wütend, weil die Sozialbetrüger aus meiner Sicht nicht ganz unten sitzen oder leben, sondern ganz oben. Das sind eben auch diejenigen, die keine Steuern bezahlen und letztendlich der Gesellschaft einen gleich großen oder weit größeren Schäden zufügen, als die wenigen so genannten Sozialbetrüger, die sich aus der Hartz-IV-Gruppe rekrutieren. Ich bin auch der festen Überzeigung, dass ich, wenn ich Hartz-IV-Empfänger wäre, würde ich auch versuchen über, meinetwegen, Schwarzarbeit zu mehr Geld zu kommen, um vielleicht am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und mal ins Kino gehen zu können oder mir Rücklagen zu bilden für das berühmte Paar Schuhe. Ich kann jeden Hartz-IV-Empfänger, der mit kleinen Tricks versucht sein Einkommen aufzubessern, vollkommen verstehen. Aus meiner Sicht ist das reine Notwehr. Sprecher 1 Jeder Zehnte ist von Armut betroffen. Warum ist es so schwer, sachlich darüber zu reden, ohne Kategorien wie Schuld und Versagen zu bemühen? Sprecher 2 Armut, jeder kennt dieses Argument, gibt es in Afrika. Wo die Menschen oft weniger als einen Euro am Tag zur Verfügung haben: O-Ton HERBERG Natürlich würde ein deutscher Hartz-IV-Empfänger, wenn er meinetwegen in Indonesien leben würde, mit diesem Geld prima auskommen. Aber er lebt nun mal in Deutschland und in Deutschland kann man mit 700 Euro nicht auskommen. Sprecher 2 In einer Gesellschaft mit immer größer werdenden sozialen Widersprüchen kommt es manchmal zu eigentümlichen Begegnungen. Sprecher 1 Nach der letzten Bundestagswahl 2005 fand sich die parteilose Elke Reinke aus Sachsen-Anhalt plötzlich auf Ticket der "Linken" im Parlament wieder. Und der Bundestag hat seitdem zum ersten Mal eine leibhaftige Hartz IV-Empfängerin in seinen Reihen. Sprecher 2 Großer Medien-Rummel damals. Aber wie war das bei den Parlamentskolleginnen und -kollegen? O-Ton REINKE Das hat keinen so richtig interessiert. Selbst bei meiner ersten Rede. Keine Ahnung. Das Interesse war nicht da. Sprecher 2 Haben ihre Kollegen wirklich eine Vorstellung davon, was es heißt, mit 351 Euro über die Runden kommen zu müssen? Nach drei Jahren im Bundestag hat die Berufspolitikerin Reinke da so ihre Zweifel: O-Ton REINKE Ich denk mal, das sind die wenigsten, die das wissen. Man muss sich in diese Lage versetzen können und wenn man nie in dieser Lage war, denke ich, ist es schon viel schwieriger. Die Möglichkeit hätte man, indem man die Menschen anhört. Denn alle Abgeordnete haben ja ihre Wahlkreisbüros Und da gibt es ja Möglichkeiten, sich mit Menschen, die betroffen sind, zu unterhalten und die ja auch nach persönlichen Situationen zu befragen, also. Sprecher 1 Genau da sieht Jens König das Problem. O-Ton KÖNIG Wir reden über Armut sehr abstrakt. Unsere Gesellschaft ist in Bezug auf Armut autistisch. Und wie viele Autisten reden wir nur über Systeme. Wir reden immer über Agenda 2010, wir reden über Hartz IV. Wir reden über Chancengerechtigkeit. Wir reden über Verteilungsgerechtigkeit, wir reden über Bildungsgerechtigkeit. Wir haben Tausende Statistiken parat. Aber wir haben den Zugang zu den Betroffenen verloren. Und das betrifft, glaube ich, viele Politiker. Aber wir müssen da mit dem Finger gar nicht auf die Politiker zeigen. Es betrifft auch uns, uns selber. Wir haben den Kontakt zu den Leuten, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, von Armut betroffen sind, die mit wenig Geld, die mit sozialer Missachtung auskommen müssen, diesen Kontakt haben wir einfach verloren. Sprecher 2 In einer auseinander driftenden Gesellschaft gibt es immer weniger Berührungspunkte zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten. Von drohenden Parallelgesellschaften neuen Typs spricht der Sozialwissenschaftler Christoph Spehr: O-Ton SPEHR Die Gesellschaft wird insgesamt gespaltener, aber zum Teil in ihren Zirkeln homogener. Also man kennt nicht mehr automatisch einen armen Vetter, ja. Und man hat auch auf der Familienfeier keinen mehr da, der ganz anders lebt als man selbst. Das ist so ein bisschen die Amerikanisierung des Systems, dass die Schichten noch stärker unter sich bleiben. Das gibt es sicher. Sprecher 1 Anfang September sorgten zwei Wirtschaftswissenschaftler der TU Chemnitz mit einer Studie für Aufsehen: Sprecher 2 Sie legten den Fall zu Grunde eines - ZITAT - arbeitslosen, gesunden, erwachsenen Mannes mit Körpergröße 1,70 Meter, Gewicht 70 Kilogramm, mit deutschen Verbrauchsgewohnheiten. Zitatende. Und kamen zu dem erstaunlichen Schluss, dass ein Regelsatz von 132 Euro im Monat ausreichend sei. Sprecher 1 Karl Schlichtung vom Statistischen Landesamt Bremen findet für die Aussagen solcher Studien ungewöhnlich deutlich Worte - für einen deutschen Beamten: O-Ton SCHLICHTING Also rein theoretisch ist so etwas natürlich möglich. Und ich weiß noch, während des 2. Weltkrieges hat man ja im belagerten Leningrad ausgerechnet, wie viel Kalorien ein Mensch braucht, um überleben zu können. Und dann haben die etwas mehr bekommen. In den ersten Jahren sind ja Hunderttausende gestorben. Also solche Berechnungen lassen sich natürlich immer durchführen. Sie decken aber ein Leben ab, dass nur das reine physische Überleben abdeckt und nicht mehr. Sprecher 2 Immerhin ermöglichte besagte Studie einige Tage später Bundeskanzlerin Merkel und dem Chef der Bundesarbeitsagentur, Frank-Jürgen Weise, sich schützend vor alle ALG 2-Bezieher zu stellen und zu versichern, eine Absenkung der Bezüge sei nicht geplant. Sprecher 1 Was - ob beabsichtigt oder nicht - die Diskussion um die Erhöhung der Regelsätze nicht erleichtern dürfte, die nach Auffassung etwa der Wohlfahrtsverbände dringend erforderlich ist. Sprecher 2 Solche Studien haben also eine wirtschaftspolitische Funktion, glaubt auch der Sozialwissenschaftler Christoph Spehr: Sprecher 1 Es gilt nicht nur: Je niedriger das statistische Durchschnittseinkommen, um so niedriger der Hartz IV-Regelsatz. Sondern auch umgekehrt: Ein niedriger Regelsatz macht den Niedriglohn erst möglich: O-Ton SPEHR Unterschiedliche Interessen Das ist ganz knallhart, glaube ich, der Grund, warum die Eliten immer noch darauf orientieren und auch von der Industrie zum Teil gefeaturet wird, dass solche Studien gemacht werden, man könnte es noch billiger haben. Wohingegen in der Bevölkerung einfach mehr und mehr klar wird, dass mehr und mehr Menschen bedroht sind, dass fast schon eine Mehrzahl von Menschen Angst hat, in dieses System hinein zu geraten und dass das auch nirgends hinführt. ATMO Straßengeräusch (Atmo 1 O-Ton UMFRAGE Also das kann ich mir kaum vorstellen, wie man so leben kann. Also ich hab keine Bekannten, die Hartz IV-Empfänger sind. Aber ich kann mir das kaum denken, wie man so überleben kann. / Das ist ein bisschen wenig und die Lebensmittel sind ja nun schon sehr teuer und man hat ja noch ein paar andere Ausgaben, die mitbezahlt werden müssen. Und dann von diesem Geld, das geht nicht, das ist unmöglich. / Auf keinen Fall, glaub ich nicht, ist zu wenig. / Nein, müssen ja welche von leben, aber es muss ganz schön schwierig sein. Also die können sich nicht viel erlauben. Weiss nicht, ob die jedes Mal was Gutes auf dem Tisch haben. Obst und Gemüse wird da ein bisschen rar werden. Sprecher 2 Die Menschen, wie hier in Bremen-Tenever, ahnen, dass da etwas nicht stimmt. Oder sie kennen Armut aus eigener Erfahrung. Sprecher 1 Um so mehr verblüfft der mitunter - sagen wir mal - kaltschnäuzige Umgang mancher Volksvertreter mit der Misere: O-Ton SARRAZIN Wer als Hartz IV-Empfänger die Kraft fürs Ehrenamt hat, sollte vielleicht auch mal die Kraft aufbringen, sich um Arbeit zu bemühen und dort mal seine ersten Aktivitäten reinlegen, ja (Tumult). Sprecher 2 Berlins Finanzsenator Sarrazin, bekannt geworden auch durch seine Ernährungs- Tipps für Hartz IV-Empfänger, im Abgeordnetenhaus im September 2007. Sprecher 1 Äußerungen dieser Preislage finden sich nicht nur in der Berufsgruppe der Politiker, sondern auch immer wieder in den Medien. Sprecher 2 Einst machte die BILD-Zeitung mit der Schlagzeile von "Florida-Rolf" Stimmung gegen Sozialabzocke. Sprecher 1 Die Süddeutsche Zeitung spricht vom "fußlahmen Rest der Dauerarbeitslosen". Sprecher 2 Die Frankfurter Allgemeine entdeckt den "staatlich organisierten Kreisverkehr der Sozialabgaben". Sprecher 1 Diese teilweise mitleidslose Beschäftigung mit dem Thema Armut und den Betroffenen beschäftigt auch Jens König, der viele Jahre als Parlamentsberichterstatter für die taz gearbeitet hat. Er glaubt, ... O-Ton KÖNIG ...dass vielleicht gar nicht das abstrakte Wissen darum fehlt. Es gibt viele Fachjournalisten, die auf hohem Niveau darüber diskutieren können, gar keine Frage, sondern die Empathie, das alltägliche Erleben. Das kann man den Leuten auch nicht vorwerfen, dass sie jetzt nicht ständig in Milieus leben, wer tut das schon, wo nur Arme leben. Ich meine das gar nicht als Vorwurf, sondern als Tatsachenbeschreibung. Und es fehlt eigentlich an sozialer Empathie bei der Betrachtung des Problems und deswegen enden so viele Diskussionen so schnell in irgendwelchen statistischen Debatten: Kommt man jetzt mit 345, mit 351, mit 378 oder besser mit 410 Euro im Monat aus? Das ist ein Teil des Problems. Aber die ständigen statistischen Diskussionen darüber und die Relativierung, Armut sei doch nur eine relative Frage in Deutschland, das ödet mich an, weil es nichts bringt. Es bringt uns nicht weiter bei der Beantwortung der Frage, was eigentlich macht die Armut heute aus? Und wie könnten wir sie wirksam bekämpfen Sprecher 1 Dazu ist es vielleicht hilfreich einen Blick auf gesellschaftliche Veränderungen der letzten Jahre zu werfen. Sprecher 2 Armut ist durch ihr vermehrtes Auftreten anonymer geworden, glaubt der Sozialwissenschaftler Christoph Spehr und das begünstigt fehlende Empathie und nicht nur das: O-Ton SPEHR Wenn Wirtschaft noch stärker national und noch stärker kleinräumig ist, dann gibt es einfach Grenzen, wie viel Verachtung man in einem mittelständischen Betrieb gegenüber seinen Angestellten an den Tag legen kann. Es ist unmittelbar erlebbar, wie wichtig das ist, wie da das Quartier ringsherum aussieht. Man ist sozusagen näher dran. Und das wird natürlich gekappt in weiten Teilen durch eine globalisiertere Wirtschaft: "Ist ja auch egal, ist ja auch egal, wenn die Leute hier nicht mehr klar kommen. Wir können buchstäblich neue importieren. Das machen wir auch". Und das ist schon, denke ich, ein Hintergrund für diese Haltung, die sagt, eigentlich brauchen wir große Teile der Bevölkerung hier nicht mehr. Eigentlich wärs uns lieber, die wären gar nicht da. Sprecher 1 Abgeschriebenes Human-Kapital. Sprecher 2 Die Ökonomisierung umfasst inzwischen alle Lebensbereiche, diagnostiziert Heiner Keupp, Sozialpsychologe an der Universität München: O-Ton KEUPP Wir sind alle kleine Unternehmer geworden. Arbeitszeitunternehmer, wir sind Freizeitunternehmer. Wir sind Beziehungsunternehmer usw. Überall heißt es ,Du bist selber der Regisseur Deines Lebens, nimm es in die Hand!'. Wir haben ganz viele Menschen, die sich an diesen Ideologien des neoliberalen, marktradikalen Gesellschafts- und Menschenbildes ausrichten und dann aber auf die Schnauze fallen. Ihr Scheitern wird nicht zum Thema gemacht. Dafür sind sie ja auch selber verantwortlich, sie haben falsch entschieden, sie haben sich falsch verhalten. Und diese Grundhaltung hat natürlich ganz wenig mit so etwas, wie einer solidarischen Gesellschaft zu tun, in der man auch darüber nachdenkt, welche Verantwortung hat die Gemeinschaft, die Gesellschaft dafür, dass Menschen gute Chancen haben, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen, selber Verantwortung zu übernehmen, selber Entscheidungen treffen zu können. Sprecher 1 Eine Änderung der gesellschaftlichen Grundhaltung ist vonnöten Insbesondere ein sensibler Umgang mit mittlerweile zehn Prozent der Bevölkerung. Der Journalist Jens König verlangt... O-Ton KÖNIG .... dass Armutspolitik immer eine Frage des Respekts gegenüber den Betroffenen sein muss. Dass die Leute das Gefühl haben müssen, ihre soziale Lage, ihre Bedürftigkeit wird anerkannt und zwar in diesem Land. Und nicht relativiert mit dem Hinweis darauf, dass es ja in Tansania, im Sudan oder im Irak den Leuten viel schlechter geht. Sprecher 2 Laut einer Allensbach-Umfrage aus dem Mai 2008 haben 38 Prozent der Deutschen - ZITAT - keine gute Meinung von der sozialen Marktwirtschaft. Sprecher 1 Der ARD-Deutschlandtrend konstatierte einige Wochen später einen - ZITAT - Höchststand an Unzufriedenen mit dem Funktionieren der Demokratie. Nämlich 52 Prozent. Heiner Keupp sieht da einen Zusammenhang: O-Ton KEUPP Man könnte sagen: Dieser wild gewordene Kapitalismus, der nicht mehr reguliert wird, der immer weniger sozial gesteuert oder abgefedert wird, der untergräbt, nach meiner Meinung, die demokratische Legitimation in einer gefährlichen Art und Weise. Gehen Sie doch nur mal auf Untersuchungen über die Bereitschaft von Jugendlichen, sich für Politik zu interessieren oder sich gar zu engagieren. Die letzte Shell-Studie hat gezeigt, dass gerade noch mal drei Prozent von Jugendlichen sich vorstellen können, Politik zu machen. Das ist doch bereits ein Hinweis darauf, dass wir deutliche Erosionserscheinungen in diesem Feld haben. Sprecher 2 In einer - in jeder Hinsicht - gespaltenen Gesellschaft ist der bagatellisierende Umgang mit dem Problem Armut nicht angebracht. Genauso wenig wie vereinfachende Schuldzuweisungen. Sprecher 1 Damit allein ist es aber natürlich nicht getan. Sozialpolitik ist erstens eine Verteilungsfrage. Und Zweitens Armuts-Verhinderungspolitik. Sprecher 2 Und da können wir aus der aktuellen Finanzmarktkrise Einiges lernen. Noch einmal Professor Rudolf Hickel: O-Ton HICKEL Wir haben ja in den letzten Jahren einen dramatischen Wechsel des Paradigmas. Sozusagen von der ausreichenden, absoluten Deckung der gesetzlichen Sicherungssysteme, als Mindestsicherung, ist alles abgebaut worden. Denken Sie an die Rente. Und dafür ist ausgebaut worden die Eigenkapitalvorsorge. Und ich glaube, dass wir jetzt an einem Punkt angekommen sind, wo wir noch mal sehr deutlich sagen müssen: Erstens, diese Kapitalmarkt-gedeckten Sicherungssysteme, die ja so hoch gelobt worden sind, sind selbst enorm riskant, tragen große Risiken in sich. Und das Zweite ist, ob man dann nicht wieder zu einer neuen Mischung kommen muss? Wenn man nämlich sieht, dass der Staat vielleicht auch dafür einspringen muss, wenn mal eine Versicherung nicht mehr bezahlt werden kann, dann ist es doch vielleicht besser, man dreht das Ding rum und sagt - der Staat sorgt für eine Absicherung. Die These, ,Der Sozialstaat sei das größte Risiko der Gesellschaft', die hat uns nun die Finanzmarktkrise massiv um die Ohren gehauen. Sprecher 1 Der Wirtschaftswissenschaftler plädiert für die Renaissance des Sozialstaats als verlässlichstem Instrument, um Armut zu verhindern. Sprecher 2 Aber um die Kluft zwischen Arm und Reich künftig zu verkleinern, und die weitere Spaltung der Gesellschaft aufzuhalten, sind wohl weitere Schritte vonnöten. Und da ist der Sozialwissenschaftler Christoph Spehr skeptisch: O-Ton SPEHR Was fehlt ist der Wille zu sagen ,Wir führen eine Debatte auch mit Konsequenzen, die sagt, was muss dafür an Geld und auch politischen Instrumenten bewegt werden?' Das ist eigentlich das, was fehlt. Und dann ist man sehr schnell daran, dass es ohne Änderungen in der Unternehmensbesteuerung und im Nachdenken über neue Instrumente, wie gehen Sie eigentlich mit Kapitalmobilität um und den Extraprofiten, die da gemacht werden, also ohne das kommt man da nicht raus. Das ist dann der harte materielle Kern, bei dem es endet. Spr. vom Dienst Was man zum Leben braucht - Wie Armut in Deutschland wahrgenommen wird Von Joachim Schulte und Andreas Ulrich Es sprachen: die Autoren Ton: Andreas Krause Regie: Roswitha Graf Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 11