DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 14.10.2014 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 - 20.00 Uhr PSY oder die Angst vor dem bösen Blick Ein Besuch in einer psychiatrischen Klinik in Äthiopien Von Oliver Ramme URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - ATMO ABDUL AUTOR: Abdul Sami ist 23 Jahre alt, unverheiratet. Geboren und aufgewachsen ist er im Südwesten Äthiopiens. Abdul ist - d.h. er war Schuhverkäufer und lebte bei seiner Mutter. Bis vor vier Monaten, als er plötzlich krank wurde. ATMO Ansage: PSY oder die Angst vor dem bösen Blick Ein Besuch in einer psychiatrischen Klinik in Äthiopien Ein Feature von Oliver Ramme ATMO AUTOR: Ich bin im Südwesten Äthiopiens, in der Universitätsklinik in Jimma, etwa 300 Kilometer Luftlinie von der Hauptstadt Addis Abeba entfernt. Es ist eine von zwei psychiatrischen Kliniken im ganzen Land, die 2. ist in der Hauptstadt. 30 Betten hat das Hospital in Jimma - in drei Sälen. Ein paar Betten stehen auf dem Flur. Männer liegen neben Frauen, 40 Patienten, die stationär behandelt werden. Ambulant kommen jeden Tag noch einmal ungefähr 100 hinzu. AUTOR: Den Patienten falle ich gleich auf, ein ungewöhnlicher Besucher. Ich laufe mit einem Aufnahmegerät herum. Matthias Soboka führt mich durch die Klinik. ATMO O-Ton MATTIAS Sprecher 1: "Das hier ist die Notaufnahme! Die ist für die Patienten, die besonders aggressiv sind. Wenn sie um sich schlagen oder schreien. Wir halten sie hier 24 Stunden unter Aufsicht, sie bekommen von uns eine Spritze. Danach entscheiden wir, ob der Patient bei uns auf Station bleibt oder wir ihn mit Medikamenten wieder nach Hause schicken." ATMO AUTOR: Mattias Soboka gehört zum medizinischen Personal dieser Anstalt, er hat einen Master in Psychiatrie abgelegt. Mit Stolz trägt er seinen weißen Kittel. O-Ton MATTIAS Sprecher 1: "Wir bekommen eine Menge Patienten jeden Tag. Die drei Betten hier in der Notaufnahme sind immer voll. Und weil wir nicht genug Platz haben, müssen die Menschen auch mal auf dem Boden liegen." ATMO AUTOR: Auf unserem ersten Rundgang fällt mir ein junger Mann durch sein Rufen auf. ATMO Abdul O-Ton MATTIAS Sprecher 1: "Menschen mit Psychosen sinnieren oft über ihre Erinnerung aus der Vergangenheit. Dieses Ohjaja stammt von Radio Ethiopia, aus einer Fußballsendung. Die übertragen dort die englische Premierleague oder die Bundesliga. Und der Mann, der diese Sendung moderiert, ruft immer Ohjajaja. Der Patient imitiert diese Person." AUTOR: Abdul Sami ist seit einem Monat hier. Ein kräftiger Mann, Turnerstatur. Mittelgroß, rundes Gesicht, kurzes, schwarzes Haar. Er könne sich nicht mehr erinnern, wie alles angefangen hat, sagt Mattias. Ob er draußen auf dem Markt Badelatschen verkauft hat oder bei seiner Mutter war. Er kann überhaupt nichts erklären, redet wirr. Vor allem aber fallen mir seine Augen auf: Sie sind wässrig, sein Blick glasig. Musik AUTOR: Die Psychiatrie von Jimma besteht nur aus einer grauen, einstöckigen Baracke. Sie liegt auf dem Campus, inmitten von Grün, umgeben von hohen Bäumen. Rechts neben dem Eingang hängt eine Plakette aus Bronze: "Gestiftet 2008 von der Karl Heinz Böhm Stiftung Menschen für Menschen". In der Baracke ein langer Gang, vielleicht dreißig Meter, düster. Am Ende dann rechts und links je ein kurzer Flur. Ein paar dutzend Patienten in Pyjamas laufen herum, ziellos. Abdul schleift mit seiner rechten Schulter an der kahlen Wand entlang, schlurft über den braungelben Kachelboden. Andere stehen einfach nur da, reden oder murmeln vor sich hin, schauen ins Leere. AUTOR: Worknesh Tessema unterhält sich mit der Mutter von Abdul. Worknesh ist für alle nur ‚die Schwester', hat als Krankenpflegerin begonnen. Danach hat sie - wie Matthias -einen Master in Psychiatrie gemacht. Als Ärztin kann sie damit nicht arbeiten. Trotzdem darf sie Diagnosen stellen und Rezepte verschreiben. Seit über 20 Jahren arbeitet Worknesh im psychiatrischen Bereich und ist die gute Seele hier. Worknesh sitzt mit Abduls Mutter in der engen Teeküche. O-Ton Mutter Abdul Sprecherin 1 "Vor vier Monaten fing es plötzlich an. Er wurde krank, war wild. Zwei Freunde nahmen ihn dann mit zum Wunderheiler. 25 Kilometer von hier. Abdul blieb drei Monate dort. Dieser Heiler gab ihm Khatblätter zum Kauen und hat für ihn gebetet. Aber das brachte nichts, im Gegenteil. Alles wurde bloß noch schlimmer. Vor einem Monat habe ich ihn dann geholt und hier ins Krankenhaus gebracht." O-Ton Worknesh Sprecherin 2: "Warum haben sie ihn nicht direkt ins Krankenhaus gebracht?" O-Ton Mutter Abdul Sprecherin 1 "Sie haben mich nicht gefragt, die Freunde haben ihn einfach dahin geschleppt. Ich wusste das nicht. Ich habe ihn gesucht und schließlich bei diesem Heiler gefunden. Angekettet. Er war im Delirium. Er schnatterte, er war aggressiv. Ich habe darauf bestanden, dass er ins Krankenhaus kommt. Ich musste dann in der Nachbarschaft fragen, ob mir jemand beim Transport hilft. Als ich dann endlich eine Möglichkeit gefunden hatte, rannte er einfach weg. Zwei Tage war er verschwunden. Leute im Wald haben ihn aufgegriffen und glaubten, er sei ein flüchtender Dieb. Sie schlugen ihn, er war blutüberströmt, als ich ihn endlich wiedergefunden habe. Ich musste den Leuten erklären, dass er kein Dieb, sondern psychisch krank ist. Dann erst konnte ich ihn hierher bringen in diese Klinik." ATMO AUTOR: Seitdem bekommt Abdul - wie alle anderen Patienten - morgens und abends seine Pillen. Er hat glasige Augen. Wie die meisten hier. Doch während andere wie betäubt, schläfrig auf mich wirken, scheint Abdul vor Kraft zu strotzen. Immer wieder dehnt er seinen Körper, dann wieder fällt er plötzlich in sich zusammen und schlurft über die Gänge. ATMO O-Ton WORKNESH Sprecherin 2 "Ich denke, ich sollte meine Haare bedecken. Die Wunderheilerin, die wir gleich besuchen, ist Muslimin. Streng muslimisch." AUTOR: Worknesh nimmt mich zu einer Heilerin mit. Viele Äthiopier gehen zu solchen Wunderheilern. Die Frau wohnt in einem Vorort von Jimma. Rechts und links der Pfade, auf denen wir gehen, stehen einzelne Häuser in verwilderten Gärten. Das Haus der Heilerin ist groß, aber noch ein halber Rohbau. ATMO AUTOR: Die Fenster sind mit Tüchern verhängt, der dunkle Flur führt in ein düsteres Zimmer. Von der Decke hängt eine einzelne Glühbirne. ATMO AUTOR: Die Luft drinnen ist stickig. Acht Menschen sitzen auf Kissen und Polstern. Hinten in der Ecke, kaum auszumachen im diffusen Licht, die Heilerin mit himmelblauem Kopftuch. Sie sei reich und über die Grenzen der Stand bekannt, hatte mir Worknesh erzählt. O-Ton Heilerin Sprecherin 3 "Psychisch Kranke kann ich behandeln, ja, ich gebe ihnen ein Pulver aus Kräutern und geriebenen Steinen. Man muss das durch die Nase einatmen. Und dann bete ich. Manchen hilft es, anderen nicht." O-Ton WORKNESH Sprecherin 2 "Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Medizin besser ist als die im Hospital?" O-Ton Heilerin Sprecherin 3 "Ich schicke sie in der Regel zum Krankenhaus, wenn ich nicht weiter komme. Zwei, drei Patienten mit mentalen Störungen kommen am Tag. Wenn es denen offensichtlich ganz schlecht geht, wenn sie zum Beispiel um sich schlagen, schicke ich sie gleich in die Klinik. Ins Krankenhaus gehe ich übrigens auch, wenn ich krank werde, allerdings nicht in Äthiopien, sondern nach Saudi Arabien oder in die USA." AUTOR: Über ihre Behandlungskosten verrät sie nur so viel: Jeder müsse nur das bezahlen, was er sich leisten kann. Von den drei Monaten der Behandlung beim Heiler schein Abdul nichts mehr zu wissen. Er starrt auf die anderen Patienten, die in Betten in den Zimmern und auf dem Flur liegen. Alle tragen sie die gleichen Pyjamas. Weiß, gelbe Streifen und bedruckt mit kleinen Teddybären. Auf dem Rücken stehen mit Pinsel und Farbe grob gemalt drei Buchstaben: P...S...Y... - PSY AUTOR: Manche Patienten strömen einen unangenehmen Körpergeruch aus, die Waschgelegenheiten sind katastrophal. Wenn überhaupt, werden die Patienten von Angehörigen gewaschen. Je mehr ich mich den Toiletten nähere, desto widerwärtiger wird der Gestank. Fließendes Wasser gibt es nicht mehr, die Leitungsrohre sind gebrochen und enden im Nirgendwo. Die Patienten pinkeln in den liegengelassenen Kot der anderen. Manche schöpfen Wasser aus einem Eimer und spülen nach. AUTOR: Andere Patienten gehen in den Garten, urinieren gegen die hohen Bäume. Oben in den Ästen sitzen Geier. ATMO O-Ton MATTIAS Sprecher 1 "Wenn Patienten kommen, kriegen sie von uns die Klinik-Uniform, einen Pyjama. Ihre Kleider werden dann im Spint verschlossen von den Schwestern, die behalten auch die Schlüssel. Wenn uns der Patient verlässt, bekommt er seine persönlichen Dinge wieder zurück. Und einen zweiten Nutzen haben diese vier Schränke. Sie schaffen einen neuen Raum hier im Flur. Wir gehen mal zwischen den Schränken durch und hier haben wir vier weitere Betten. Eine praktische Lösung. Schließlich haben wir nicht genug Betten und Zimmer." AUTOR: Abdul sitzt auf seinem Bett. Seine Mutter, in ein lindgrünes Tuch gehüllt, hockt unter ihm auf dem blanken Boden. Sie ist hager, wirkt erschöpft. Abdul fährt mit seinen Fingern auf der Decke entlang, als zähle er die Muster. Dann zupft er kleine Stückchen aus dem Schaumstoff seiner Matratze. ATMO O-Ton MATTIAS Sprecher 1 "Diese vier Betten sind von Patienten belegt. Familienmitglieder kümmern sich um die kranken Angehörigen. Die Patienten wollen manchmal abhauen oder werden aggressiv. Die Verwandten dürfen aber nicht in den Betten schlafen, die sind nur für die Patienten da. In der Nacht darf übrigens nur ein Familienmitglied hier sein. Da hinten haben wir einen Tisch, und sie sitzen die ganze Nacht darauf." ATMO AUTOR: Ich lerne Negash Alemayehu, den Leiter der Psychiatrie, kennen. Matthias unterhält sich mit dem Doktor. Alemayehu hat in Schweden studiert. Er ist, neben einem zweiten Arzt, der zurzeit nicht hier ist, der einzige Psychiater in Jimma. Und damit sind die beiden die einzigen Psychiater im Südwesten Äthiopiens - ein Gebiet, fast so groß wie die Bundesrepublik. O-Ton Alemayehu Sprecher 2 "Es gibt so wenige in diesem Land, die im Bereich Psychiatrie ausgebildet sind. Es gibt 40 Psychiater in ganz Äthiopien. 40 Doktoren für ein Volk von über 80 Millionen Menschen. Und die meisten, die hier ausgebildet wurden, gehen ins Ausland. So bleibt alles auf einem niedrigen Niveau. Wenn sie zum Beispiel aus der Hauptstadt Addis Abeba heraus gehen, finden sie kaum mehr einen Arzt. Im gesamten Osten des Landes, in der Harar Region, finden sie nur einen einzigen Psychiater." AUTOR: Alemayehu ist ein kleinerer Mann in den Fünfzigern, ein ruhiger Mensch, sachlich, einer, der den Leuten zuhören kann. O-Ton Alemayehu Sprecher 2 "Und wenn wir über die Verbreitung psychischer Krankheiten reden, dann gibt es zu anderen Ländern keinen nennenswerten Unterschied. Uns fehlen aber verlässliche Zahlen. Wir verfügen über eine Studie zu den Krankheitsbildern der bipolaren Störung und der Schizophrenie. Und hier sind die Zahlen mit andern Ländern vergleichbar." AUTOR: Die Diagnose für Abdul lautet: Schizophrenie. Er leidet unter Halluzinationen. Wenn es ihm gut geht, tanzt er auf dem Flur oder macht Schattenboxen. Mich starrt er immer mit großen, aufgerissenen Augen an. Egal, wie es ihm gerade geht. O-Ton Alemayehu Sprecher 2 "Die meisten Menschen in Äthiopien kennen die Ursache für psychische Erkrankungen nicht. Die meisten verbinden das mit übernatürlichen Kräften. Böse Geister stecken dahinter, eine göttliche Strafe oder ein Fluch der Ahnen. Nur langsam erkennen die Leute, dass es medizinische Hilfe gibt. Die Leute, die das nicht wissen, gehen zum Heiler oder zum Exorzisten. Weil sie eben an Übernatürliches glauben." AUTOR: Es ist Mittwoch. Worknesh hat mich zu einem Gottesdienst mitgenommen. Die Kirche besteht aus einer weiten Betonfläche - darüber ein riesiger Wellblechverschlag der von Gerüsten getragen wird. Hunderte kommen hierher. Menschen in Anzügen stehen neben Leuten in einfachen Kleidern, dicht gedrängt. Sie recken die Arme in die Luft, auch Worknesh. Sie beten, manche befinden sich in Trance. Ich fühle mich unbehaglich. Die evangelikalen Freikirchen breiten sich auch in Äthiopien aus. Direkt nebenan entsteht ein Tempel. Diese Kirche soll dann ‚Neues Leben' heißen. ATMO AUTOR: Auf einer Bühne stehen ein Orgelspieler und der fanatische Prediger. Neben ihnen Menschen, die am eigenen Leib Wunder erfahren haben wollen. O-Ton WORKNESCH Sprecherin 2 "Ja, ich habe gesehen, wie Leute ihre Heilung bezeugt haben. Die Leute bringen sogar Arztberichte aus dem Krankenhaus mit, die zeigen, dass sie kein HiVirus oder andere Krankheiten mehr haben. Auch einige psychisch Kranke wurden tatsächlich geheilt. Andere, die nicht geheilt wurden, schickte man ins Krankenhaus. AUTOR: Ich bin irritiert. Auf der einen Seite vertritt Worknesh die moderne Medizin, auf der anderen glaubt sie offenbar an Wunderheilung. O-Ton WOKNESCH Sprecherin 2 "Sie beten im Namen von Jesus. Manchmal werden sie gesalbt. Sie legen die Hände auf die Kranken. Sie haben ihre Rituale. Manchmal wird durch Schreien der Dämon aus dem Körper getrieben. Ich habe das gesehen." ATMO AUTOR: Mir fällt auf, dass viele in der Klinik gläubig sind, Personal und Patienten. Immerzu wird von Gott gesprochen. Der 31-jährige Thesale, ein Patient, hat sich auf seinem Nachttisch einen Schrein gebaut. In drei Plastikflaschen stecken Blumen aus dem Obst- und Gemüsegärtchen der Psychiatrie. An die Flaschen hat er Postkarten von Heiligen gelehnt. Eine Kerze brennt. ATMO O-Ton THESALE Sprecher 3 "Wir haben hier Santa Maria, die Mutter Gottes. Und hier ist Jesus am Kreuz, Karfreitag, er gibt sein Blut für die Welt. Dort ist Georg. Kennen Sie den Heiligen Georg?" AUTOR: Thesale schaut mich mit strengem Blick an. ATMO O-Ton Worknesch Sprecherin 2: "Wir gehen jetzt zum Taufbereich. Dort ist ein kleines Haus, wo sie warten. Und von dort gehen sie zum Heiligen Wasser, wo sie sich selbst taufen." ATMO AUTOR: Worknesh hat ihren Kopf mit einem Tuch bedeckt. Wir laufen auf einem Trampelpfad durch den Dschungel. Auf einer Lichtung stoßen wir auf ein ummauertes Areal. Dahinter, an einem kleinen Hang, ein einfaches Betongebäude. Nicht größer als eine Garage. Ein orthodoxer Priester mit einer schwarzen Kopfbedeckung empfängt uns, er hält ein kleines Kreuz aus Messing in seiner Hand. Er ist schon ziemlich alt. Und von oben bis unten ist er in gelbes Ölzeug gehüllt, er sieht aus wie ein Hochseefischer. ATMO AUTOR: Frisches Wasser läuft aus einem Rohr. Ein paar Männer und Frauen sitzen auf Bänken und ziehen sich aus. Nackt knien sie vor dem Priester nieder. Der hält ihnen sein Kreuz auf die Stirn und vertreibt mit eiskaltem Wasser die Schmerzen aus den Körpern. Alle Krankheiten werden hier geheilt, behauptet er. ATMO O-Ton Priester Sprecher 3: "Die Leute hier sind von irgendetwas Bösem besessen. Ich rufe dann den Namen Gottes und das Böse wird aus dem Körper getrieben. Normalerweise muss dieser Prozess nach sieben Tagen wiederholt werden. Und meistens sind die Leute dann auch geheilt. Viele vom Krankenhaus kommen hierher. Und ich kann ihnen helfen. Gott hilft aber auch den Menschen im Krankenhaus, auch denen, die dort arbeiten. Er gibt ihnen Wissen. Aber meine Arbeit hier ist spiritueller Natur. Ich taufe die Menschen hier." ATMO AUTOR: Auch hier ist die Heilung nicht gratis. Der Priester verlangt je nach Einkommen bis zu 20 Birr, etwa 1 Euro für seine Behandlung. Von einem Euro am Tag müssen viele Äthiopier leben. O-Ton MATTIAS Sprecher 1 "Als ich noch als Pfleger gearbeitet habe, da sah ich im Fernsehen einen Arzt über psychische Krankheiten reden. Das sei ein Stigma sagte er und wir hätten nicht genügend Fachkräfte. Ich habe mich sofort aufgerufen gefühlt im Bereich Psychiatrie zu arbeiten. An der Universität Jimma wurde das gerade angeboten, so kam ich hierher. Psychisch Kranke sind stigmatisiert in unserer Gesellschaft. Und die Menschen leiden, weil es kaum Hilfe gibt. Sie werden weggesperrt oder leben auf der Straße, werden manchmal überfahren. Menschen werfen mit Steinen nach ihnen. Sie werden nicht als Individuen wahrgenommen, deswegen helfe ich ihnen. Unsere Kranken hier sind anders als die anderen Patienten." AUTOR: Für die Patienten gibt es in Jimma keine Zwangsjacken, keine Riemen oder Ketten. Sie können sich frei auf dem Gelände bewegen. Mit ihrem PSY auf dem Rücken und ihrer ungewöhnlichen Gestik und Mimik, manchmal der gebeugten Haltung, werden sie schnell als psychisch Kranke erkannt. O-Ton Worknesh Sprecherin 2: Der Weg hier raus ist ziemlich schlammig, vor allem jetzt in der Regenzeit. Wenigstens einmal die Woche möchte ich zu den Missionarinnen der Nächstenliebe, den Schwestern des Mutter Teresa Ordens. Hier vor der Stadt ist das Krankenhaus der Armen und der Waisen. AUTOR: Worknesh und ich sind durch Farmland gefahren. Maisfelder, Kaffeebäume, Menschen auf Eselskarren. Dunkle Regenwolken ziehen sich zusammen. Die Schwester bringt ein paar Medikamente mit. Die Ordensschwestern kaufen der Klinik in Jimma regelmäßig ein paar Psychopharmaka ab. Voraussetzung ist allerdings, dass die Psychiatrie überhaupt Medikamente vorrätig hat. Gut zwei Dutzend psychisch Kranke werden von den Missionarinnen betreut. Worknesh meint es seien hoffnungslose Fälle. AUTOR: Schwester Adélaïde aus Belgien und eine Hand voll freiwilliger Ärzte behandeln hier über 400 Kranke, manche sind todkrank. Menschen, die kein Krankenhaus mehr aufnimmt, weil die Pflege zu mühsam ist. Das Hospiz ist einfach und sauber. Die langen einstöckigen Gebäude sind gelb gestrichen, dazwischen Bäume und immer wieder Blumenbeete. Auf mich wirkt diese Anlage freundlicher als die Psychiatrie von Jimma. O-Ton Adelaide Sprecherin 3: "Das sind wirklich Menschen von der Straße hier. Neulich bin ich mit dem Auto zum Markt gefahren, es war voll da. Dann kam ein Betrunkener auf uns zu und rief: Der Wagen der Armen, der Wagen der Armen! Und er schaffte Platz für mich." AUTOR: Wir begleiten Schwester Adélaïde in langgezogene Krankensäle, rechts und links Betten, die alle belegt sind. Ein Patient pro Bett. Der Boden hat dunkle Kacheln und ist blitzblank. An der Decke drehen sich Ventilatoren. Es ist düster und schwül. Regen prasselt auf das Wellblechdach. ATMO O-Ton Adelaide Sprecherin 3: "Die Menschen gehen nicht ins normale Krankenhaus, weil sie sich das nicht leisten können. Medizin ist teuer. Die Leute hier haben überhaupt kein Geld. Oder sie wurden irgendwo behandelt und nun ist das Geld aufgebraucht. Dann kommen sie zu uns. Mutter Teresa ist für die Ärmsten der Armen." AUTOR: Wir gehen zu den psychisch Kranken in dem Hospiz. Einige von ihnen liegen in einem engen Seitentrakt. Mir fällt ein Patient mit blutigem Gesicht auf. O-Ton Adelaide Sprecherin 3: "Habibo rennt immer weg, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Deshalb haben wir ihn ans Bett gekettet. Wir haben hier keine Psychiatrie. Und dieser Junge hier ist Epileptiker - Johannes hier drüben - auch ihn müssen wir anketten. Er kam aus einem Krankenhaus, 300 Kilometer von hier. Er wurde verstoßen. Aber wir können nichts mit ihm machen. Er wurde von jemandem gebracht, aber der ist ein paar Tage später abgehauen. Wir können mit Johannes nicht sprechen, wir wissen nichts über ihn, wo er herkommt. Wir werden ihn wohl hierbehalten müssen." AUTOR: Habibo lehnt an einem Stahlbett. Das eine Handgelenk ist mit einer Schelle fixiert, die mit einer Kette am Stahlrohrrahmen des Bettes hängt. Johannes hat ein Seil um sein Fußgelenk. Er kriecht auf dem Boden herum. Er macht zeitlupenhafte Bewegungen. Beide nehmen keinerlei Notiz von uns. Bewacht werden die zwei Patienten von einem älteren Mann, der selbst nur noch lallen kann. Er hält die Leine von Johannes fest. Niemand versteht den Alten, doch der passt zuverlässig auf. O-Ton Adelaide Sprecherin 3: "Wir wissen nicht, wie wir sie beschäftigen sollen. Er passt auf die beiden auf. Wir wissen nicht, was wir sonst mit ihnen machen können, es ist schwierig." "Er hat sich gemacht. Dank ihm dort geht es ihm besser. Johannes erfährt hier viel Liebe - es geht ihm nicht wegen der Medikamente besser. Ich sehe ihn als ein Kind Gottes, und man muss ihn mit Würde behandeln. Wir sind alle Brüder und Schwestern, deshalb habe ich auch meine Heimat verlassen, um eine Schwester für sie zu sein." O-Ton Worknesh Sprecherin 2: "Ich bin tief traurig, wir können nicht richtig helfen, weil wir auch nicht die neusten Medikamente haben, die Europäern zur Verfügung stehen. Es tut einem leid für die Leute." ATMO AUTOR: Patienten tanzen vor dem Haus in Jimma im Regen. Die Pyjamas kleben am Körper. Das PSY auf dem Rücken verläuft nicht. Den Kranken macht der Tanz im Regen offensichtlich Freude. Die Verwandten stehen unter einem Vordach. In ihren Gesichtern spiegelt sich Verzweiflung. In der Klinik sagt mir Samirs Mutter später: O-Ton Mutter Samir Sprecherin 1: "Es ist ein Fluch - Gott hat ihn verflucht. Da bin ich mir sicher. Es kam aus dem Nichts. Ich habe keinen Mann und muss das hier alleine durchstehen. Ich bin so verzweifelt, dass ich mir manchmal selber Schmerzen zufüge, um den Anblick meines Sohnes überhaupt ertragen zu können. Dieser irre Blick den er hat. Ich werde gemieden von meiner Gemeinde. Ich frage Gott: Warum ich, warum musste ihm und mir das passieren? Und ich bin alleine damit. Ich habe keine Verwandten hier. Ich bin einfach nur traurig." AUTOR: Samir sitzt neben seiner Mutter, während sie in der kleinen Teeküche der Klinik von ihren Sorgen erzählt. Während sie spricht, reckt er seine starken Arme, lässt sie kreisen, legt seinen Kopf zurück in den Nacken. O-Ton Matthias Sprecher 1 "Hier haben wir die Toiletten für die männlichen Angestellten. Und hier für die weiblichen Angestellten. Und nun dieser Raum hinter dieser Tür. Der ist sehr klein! Sehr schmal, da passt gerade einmal ein Stuhl für einen Patienten und einer für den Therapeuten hinein. Man kann sich nicht bewegen, alles zu klein. Hier drin werden Patienten, die entlassen werden, beraten." AUTOR: Diese Beratung übernimmt die Psychologin Maserate in dem trostlosen, kahlen Raum. O-Ton Masarate Sprecherin 3: "Die Patienten, die entlassen werden, kommen mit der Familie, nicht allein. Wir klären sie über die Einnahme der Medikamente auf. Dass sie sie sorgfältig einnehmen sollen. Und wir erklären, was es bedeutet, psychisch krank zu sein. Wir warnen: sollte jemand aus der Familie auch sein Verhalten ändern, dann müssen sie ihn direkt hierher bringen und nicht irgendwo anders hingehen." AUTOR: Die Patienten haben in dieser kleinen Psychiatrie nichts zu tun, Beschäftigungstherapie gibt es nicht. Der Fernseher läuft nur am Abend, es gibt eine Tischtennisplatte ohne Netz. Die Schläger sind schon seit Jahren verschwunden. Ein Junge sitzt auf dem Boden und fügt ein zerrissenes Stück Papier zusammen. O-Ton Alemayehu Sprecher 2: "Sie zu beschäftigen wäre eine ideale Ergänzung zu unserer medizinischen Behandlung. Die Patienten hier fühlen sich nutzlos, und das mag einer der Gründe sein, weshalb sie nach Hause wollen. Aber das Hauptproblem ist: wir haben zwei Psychologinnen hier, und die haben kein Interesse an solchen Dingen. Sie sind nicht dazu zu bewegen, etwas mit den Patienten zu unternehmen. Das Problem ist: Ich leite zwar diese psychiatrische Abteilung, aber ich bin nicht der Direktor des Hospitals." O-Ton Matthias Sprecher 1: "Wir haben mehr männliche als weibliche Patienten. Das liegt daran, dass gerade auf dem Land kranke Frauen weggesperrt werden. Man soll sie nicht sehen. Und ins Krankenhaus bringen sie sie auch nicht. Das hat viel mit einem Stigma zu tun. Sie bleiben eingeschlossen." ATMO Klinik AUTOR: Ein Polizist hat gerade einen Mann eingeliefert, erzählt mir ein Pfleger. O-Ton Pfleger Sprecher 3: "Wenn der Polizei jemand mit psychischen Störungen auffällt, bringen sie die Kranken hierher. Viele Häftlinge wurden von der Polizei gebracht. Die werden dann von uns behandelt. Danach gehen sie gleich wieder zurück ins Gefängnis. Andere bleiben. Es kommt vor, dass die Leute halluzinieren, das Haus in Brand stecken. Andere stehlen oder werden gewalttätig, und dann kommen sie hierher." AUTOR: Wie viele psychisch Kranke in äthiopischen Gefängnissen sitzen, kann mir niemand sagen. O-Ton Mattias Sprecher 1 "Als ich meinen Freunden erzählte, ich interessiere mich für die Arbeit in der Psychiatrie, haben die meisten gesagt: Wieso willst du da arbeiten? Das ist doch ein schwieriges Fach, da wirst du auch verrückt, das steckt an. Aber ich ignoriere das. Ein Patient mit Tuberkulose, der ist ansteckend. Aber psychische Krankheiten, da musst du dich nur um den Patienten kümmern." AUTOR: Die Psychiatrie in Jimma ist auch ein Ausbildungsbetrieb. Studierende der Universität erfahren hier den Umgang mit Patienten. Die jungen Frauen und Männer haben engen Kontakt zu den Kranken. Die Ärzte agieren nur im Hintergrund und helfen, wenn die Studierenden nicht mehr weiter wissen. So erklärt mir zumindest Doktor Alemayehu den Umstand, dass er und das medizinische Personal wie Worknesh oder Matthias nur selten auf der Station zu sehen sind. Alemayehu plagen andere Probleme: Er fühlt sich von der Gesundheitsbürokratie im Stich gelassen. O-Ton Alemayehu Sprecher 2: "Lassen sie mich etwas über das Gesundheitsministerium sagen: Als die vorige Regierung an die Macht kam, sind Kollegen von mir zum neuen Minister gegangen um für unser Anliegen zu werben. Und was sie dann von ihm hörten war folgendes: Nun ist die Zeit des Sozialismus gekommen! Psychische Erkrankungen sind ein Zeichen von Armut. Im Sozialismus wird es keine Armut mehr geben, machen sie sich also keine Sorgen. Das sagt eine Menge über die Wahrnehmung aus. Das Interesse am Thema Psychiatrie tendiert gegen Null." ATMO ABDUL AUTOR: Haile Mariam Mengistu und sein Regime sind zwar seit 1990 Vergangenheit in Äthiopien und seither hat das Land eine gewählte Regierung. Doch dem Regierungsbündnis gehören 99 % der Abgeordneten im Parlament an. Die Opposition hat nur zwei Sitze. Über die Hälfte der Äthiopier kann weder lesen noch schreiben. Statistisch werden Männer nur 48 Jahre alt, Frauen fünf Jahre älter. Die wirtschaftliche Lage für die Mehrheit der Bevölkerung ist katastrophal. O-Ton Worknesch Sprecherin 2: "Zwei Ehepaare aus Addis Abeba haben damit angefangen. Sie haben die Gesellschaft für psychisch Kranke in Äthiopien ins Leben gerufen. Wir haben diese Idee in Jimma aufgegriffen und auch eine solche Gesellschaft gegründet. 40 Familien sind schon in unserem Verein. Wir haben einen Vorstand und treffen uns jeden Monat." AUTOR: Hassan Abdulla gehört zu diesem Vorstand. Wir treffen uns in der Klinik. Er trägt Anzug, ist Großbauer. Ende sechzig. Ein stolzer Mann, trotz großer Sorgen. In der Vergangenheit hat ihm sein psychisch kranker Sohn das Haus niedergebrannt. O-Ton Hassan Sprecher 3: "Ich habe unser Haus verloren. Wir standen mit nichts da! Trotzdem wollten wir, dass unser Kind behandelt wird. Schwester Worknesh war eine wunderbare Schwester. O-Ton Worknesh Sprecherin 2: "Das Hauptziel unseres Vereins ist es, ein Bewusstsein in der Gesellschaft für die psychisch Kranken zu schaffen. Wir sitzen hier in einer Institution, einer Universität. Aber die Gesellschaft ist dort draußen. Und unsere Mitglieder leben dort und schaffen ein Bewusstsein, erklären, dass psychische Krankheiten behandelbar sind. Sie erreichen die Menschen direkt vor Ort." O-Ton Hassan Sprecher 3: "Es gibt zurzeit keine Medikamente. Wir haben einen Engpass. Man kann sie nicht mal kaufen. Das ist der Hauptgrund für unseren Verein." O-Ton Worknesh Sprecherin 2: "Selbst die einfachsten Medikamente sind bei uns manchmal im Krankenhaus nicht erhältlich. Dann drücken wir den Patienten ein Rezept in die Hand und die müssen dann draußen versuchen die Pillen zu bekommen. Aber die sind dann unbezahlbar. Deshalb leiden die Leute." AUTOR: Die 40 Mitglieder des Vereins wollen nun eine eigene Apotheke aufbauen, die ohne Profit arbeitet. Und es gibt noch andere Ideen. O-Ton Mattias Sprecher 1 "Ja, wir müssen sie einbeziehen in unsere Behandlung. Die Naturheiler müssen mehr wissen über psychische Krankheiten. Sie müssen unterscheiden können zwischen leichteren und schwereren Verläufen, damit sie die Patienten gleich zu uns schicken können. Wir müssen nach draußen gehen und mit den Heilern diskutieren. Die Patienten können ihre Naturmedizin nehmen, man kann den Leuten nicht alles verbieten. Aber die Heiler sollten die moderne Medizin kennen lernen. Wenn die Leute um moderne Methoden wissen, dann kommen sie vielleicht in unser Krankenhaus." O-Ton Mutter Samir Sprecherin 1: "Wir haben meinen Sohn hiereingetragen, er konnte nicht mehr selber laufen. Nachdem er Medizin bekommen hat, ist er von alleine wachgeworden. Er wurde stärker, kann mittlerweile selber essen, nimmt seine Medizin. Es geht ihm schon besser. Er hat sich verändert, er ist aber immer noch mein Sohn. Ich werde zu ihm stehen solange ich die Kraft dazu habe. Egal wie lange es dauert." Absage PSY oder die Angst vor dem bösen Blick Ein Besuch in einer psychiatrischen Klinik in Äthiopien Ein Feature von Oliver Ramme Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014. Es sprachen: Andreas Potulski Esther Hausmann Gregor Höppner Niklas Kohrt Hildegard Meier Svenja Wasser und Bruno Winzen Ton und Technik: Gunther Rose und Angelika Brochhaus Regie: Matthias Kapohl Redaktion: Karin Beindorff 20 1