KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe: LITERATUR 00.05 Titel der Sendung: "Verrissen und verkauft- vom Zustand der deutschen Kritik Autor: Helmut Böttiger Redakteurin: Sigried Wesener Sendetermin: 07.03.2009 Besetzung: Autor spricht selbst Zitator 1 Zitatorin Zitator 2 Regie: Musik/ O-Ton Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Verrissen und verkauft. Der Zustand der deutschen Literaturkritik Von Helmut Böttiger 1 Sprecher 2 Zitatoren 1 Zitatorin ___________________________________________________________________ Musik: Bob Dylan, aus "The times they are a-changin'": Come writers and critics Who prophesize with your pen Zitator 1: Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst. Zitatorin: Friedrich Schlegel, 1799. Musik: Bob Dylan, aus "The times they are a-changin'": And don't criticize What you can't understand O-Ton 1: M. Reich-Ranicki, Klagenfurt-CD Track 3, 3:31 Das ist das Vernichtendste, was man über einen Text sagen kann, wenn man sagt: Er entzieht sich der Beurteilung! Das heißt: Wir sind hier in einer Kirche und nicht bei der Beurteilung literarischer Texte! Zitatorin: Marcel Reich-Ranicki, 1978. Musik: Bob Dylan, aus "The times they are a-changin'": For the loser now Will be later to win O-Ton 2: Scheck, Track 1, 18:43-19:02 Aber zum Teufel, Hirschhausen! Sie sind der Maestro aller Klassen, die Numero Uno, der Champ, Caput Mundi, Top of the World! Und da gehört es sich einfach nicht, mit so einem zweitklassigen Kraut- und Rüben-Potpourri aufzutreten! Ein Goldkehlchen wie Sie muss schon die Scala oder die Met im Visier haben und nicht die Mehrzweckhalle von Bad Segeberg! Zitatorin: Denis Scheck, 2009. Musik: Bob Dylan, aus "The times they are a-changin'": For the times they are a-changin'. Sprecher: Im Lauf der Zeit wandelt sich die deutsche Literaturkritik. Doch eines bleibt sich gleich: dem Kritiker kommt immer eine besondere Bedeutung zu, er ist auffälliger als in den meisten anderen Ländern. Überall sonst besprechen Schriftsteller oder Universitätsdozenten die Bücher. Aber in Deutschland bildete sich schon im 18. Jahrhundert ein spezieller Typus heraus, der vor allem Kritiken schreibt und davon lebt. Woran liegt das? Am spezifisch deutschen Bedürfnis nach Autorität? Oder an einer besonderen Lust auf Angstbiss und Zerfleischung? Regie: folgende Zitatoren links/rechts legen, schnell sprechen Zitator 2: Es ist, wie des Herrn Klopstocks Lieder alle sind; so voller Empfindung, dass man oft gar nichts dabei empfindet. Zitatorin Gotthold Ephraim Lessing Zitator 1: Der Tausendsackerment! Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent. Zitatorin: Johann Wolfgang Goethe Zitator 2: Seit ich fühle, habe ich Goethe gehasst, seit ich denke, weiß ich warum! Zitatorin: Ludwig Börne Zitator 1: Ernst von Wildenbruch hat weniger dramatisches Talent als eine dreimal überheizte Lokomotive, die, bremserlos, über ein Geleise mit falscher Weichenstellung hinjagt. Zitatorin: Theodor Fontane Zitator 2: Thomas Mann ist ein feines, etwas dünnes Seelchen, dessen Wurzel ihre stille Wohnung im Sitzfleisch hat. Zitatorin: Alfred Kerr Musik: Georg Kreisler, aus dem Chanson "Der Musikkritiker": und es sagten mir viele Herren: Genial, großartig! Sie müssen Kritiker werden! Ich sagte ja und es geschah! Sprecher: Deutschland hat im Gegensatz zu England, Frankreich oder Italien keine dominante Hauptstadt, in der sich die Hauptakteure der literarischen Szene auf wenigen Quadratmetern immer wieder begegnen. Schriftsteller, Verleger und Journalisten sitzen recht isoliert in ihren Provinznestern, und nur über den langwierigen Bezug von Zeitungen und Zeitschriften kommt eine Art Verbindung zustande, kompliziertester schriftlicher Art. Anderswo geschieht das im Normalfall mit wenigen Sätzen über den Caféhaustisch hinweg. Der Kritiker in Deutschland aber spitzt seine Feder am einsamen Schreibtisch zuhause und verfasst unter großen Nöten gleich einen Text. Musik: Georg Kreisler: Ich bin konsequent, und ich erkenne kein Talent, Und da ich weiß, dass ich nichts kann, Lass ich auch niemand andern ran! Und der Redakteur schätzt meine schlechte Meinung sehr, Und schreit das Publikum ,,Hurra!", Das nützt euch nichts, denn ich bin da! Und eure Kollegen geben immer ihren Segen, Denn jedem Künstler ist es recht, Spricht man von andern Künstlern schlecht! Sprecher: Die herausragende Literaturkritik, die in Deutschland entsteht, reflektiert ihre eigenen Bedingungen mit. Am Beginn dieser einzigartigen Linie steht Friedrich Schlegel, und seine Kritik von Goethes "Wilhelm Meister" ist gleichzeitig ein Essay über die Möglichkeiten der Kritik überhaupt. Sie setzt den Maßstab für alles Kommende. Zitator 1: Denn dieses schlechthin neue und einzige Buch, welches man nur aus sich selbst verstehen lernen kann, nach einem aus Gewohnheit und Glauben, aus zufälligen Erfahrungen und willkürlichen Forderungen zusammengesetzten und entstandenen Gattungsbegriff beurteilen: das ist, als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit der Hand greifen und in sein Schächtelchen packen will. Sprecher: Von Anfang an gibt es verschiedene Formen der Literaturkritik: Die Kritik à la Friedrich Schlegel agiert auf Augenhöhe mit dem zu besprechenden Gegenstand und erzeugt ein charakteristisches ästhetisches Flirren. Daneben existieren allerdings noch mindestens zwei weitere Genretypen. Zum einen ist da die aufs Populäre schielende Variante. Sie wird im geistigen Leben lange Zeit nicht für voll genommen und gewinnt erst in Gefolge aktueller Hörer- und Leseranalysen Geltung. Zum anderen gibt es die akademische Spielart: Sie versteckt ihre Subjektivität hinter einem sich objektiv gebenden Bescheidwissertum. Im 19. Jahrhundert ziehen Universitätsprofessoren das ungestüm Brausende der Literatur so auf ihr Level herunter. Derlei Kritiken sind längst vergessen, aber ihre Attitüde hält sich bis heute. Der gesunde Menschenverstand wird allgemein gern gegen eine literarische Eigendynamik in Stellung gebracht, das eint die populistische wie die akademische Variante. Kritikertypen wie Alfred Kerr oder Walter Benjamin setzen jedoch die Linie Friedrich Schlegels auch im 20. Jahrhundert fort: sie sind selbst vor allem Schriftsteller. Benjamins Glanzstücke sind seine Essays über Zeitgenossen wie Kafka oder Proust. Über Proust schreibt er 1929: Zitator 2: Mit Recht hat man gesagt, dass alle großen Werke der Literatur eine Gattung gründen oder sie auflösen, mit einem Worte, Sonderfälle sind. Unter ihnen ist aber dieser einer von den unfasslichsten. Vom Aufbau angefangen, welcher Dichtung, Memoirenwerk, Kommentar in einem darstellt, bis zu der Syntax uferloser Sätze (dem Nil der Sprache, welcher hier befruchtend in die Breiten der Wahrheit hinübertritt) ist alles außerhalb der Norm. Sprecher: Und wenig später findet er noch poetischere Worte für das Leserglück: Zitator 2: Im vorigen Jahrhundert gab es in Grenoble - ich weiß nicht, ob heute noch - ein Wirtshaus "Au Temps perdu". Auch bei Proust sind wir Gäste, die unterm schwankenden Schild eine Schwelle betreten, hinter der uns die Ewigkeit und der Rausch erwarten. Regie: Musikakzent (Jazz, z.B. Intro Ella Fitzgerald) Sprecher: Nach 1945 entstehen neue Formen der Debatten über Literatur. Die Praxis der Gruppe 47 bündelt bald alle Formen der Kritik: sie versammelt Populisten, Schulmeister und literarische Essayisten gleichermaßen. In den späten fünfziger und sechziger Jahren erreicht sie den Höhepunkt ihrer Bedeutung. Ihr Chef Hans Werner Richter aktualisiert den Typus des Kritikers: O-Ton 3: Hans Werner Richter, Video Fernsehfeature 21:18-21:42 Wir waren ja keine Samariteranstalt. Wir wollten die deutsche Literatur wieder lebendig machen, die Nachkriegsliteratur. Wir wollten ihr wieder eine Bedeutung in der Welt geben. Und dazu brauchen Sie schon scharfe Kritik, und da können Sie nicht mit Rücksichten arbeiten, das ist unmöglich. Regie: Musikakzent Sprecher: Die Kritik ist von Anfang an das Salz in der Suppe der Gruppe 47, sie bildet den Kern ihrer Erfolgsgeschichte. Ihre Anfänge allerdings sind sehr bescheiden, niemand ahnt, dass daraus einmal eine solche Macht erwachsen wird. Hans Werner Richter nimmt Ende Juli 1947 an einem Treffen junger Autoren in Altenbeuern/Hinterhör teil. Es steht unter dem Motto "Ruf der Jugend". Den Festgottesdienst hält der religiöse Schriftsteller Rudolf Alexander Schröder - er gilt zu diesem Zeitpunkt als der herausragende Lyriker Deutschlands. Schröder hält auch den eröffnenden Festvortrag, mit dem Titel: "Vom Beruf des Dichters in der Zeit". Nachher gibt es Schuhplatteln im Dorf. Hans Werner Richter erinnert sich später: Zitator 1: Die meisten waren unzufrieden mit dem Verlauf der Tagung. Nein, das was sie gehört hatten, war nicht das, was sie sich vorstellten. Nur mir gefällt etwas: dieses Lesen und Kritisieren und Wiederlesen und Wiederkritisieren. Es hatte sich spontan entwickelt, und Rudolf Alexander Schröder konnte es nur schwer ertragen: diese offene Sprache, die oft brüskierend und beleidigend war, in der Wortwahl an die Landsersprache der vergangenen Kriegsjahre erinnernd: rauh, karg, die Dinge unmittelbar beim Namen nennend. Ja, die Methode, die sich hier entwickelt hatte, war richtig: Lesen und Kritisieren, nur besser, schärfer, genauer. Darauf kam es an. Ich sagte es denen, die um mich herum saßen: "Das müsste man wieder machen. Nur mit anderen Leuten." Regie: Musikakzent Sprecher: Wenige Wochen später, am ersten Septemberwochenende 1947, trifft sich am Bannwaldsee bei Füssen ein gutes Dutzend junger Autoren, und dieses Treffen wird im Rückblick als die erste Tagung der Gruppe 47 bezeichnet. Es geht um ein Werkstattgespräch unter Schriftstellern, um kollegiale Kritik. Hier werden Spielregeln erprobt, die für frischen Wind und für geistige Auseinandersetzung sorgen. Es gibt das Gesetz, dass direkt nach der Lesung über den Text von allen in der Runde diskutiert wird. Der Autor, der gerade gelesen hat, darf selbst nichts sagen. Die Kritik ist zwar solidarisch, aber zum Teil auch sehr hart. Man will kein Blatt vor den Mund nehmen. Man ist schließlich direkt von der Front gekommen. O-Ton 4: Hans Werner Richter, CD Saulgau 2, 15:25-15:28 Ja, wir kommen also zur Kritik! Sprecher: Dies ist fast der einzige Satz, den Hans Werner Richter bei den Lesungen der Gruppe 47 sagt: Wir kommen zur Kritik. Ohne Umschweife, direkt nach der Lesung. Aus dem anfangs praktizierten Werkstattgespräch wird allerdings im Lauf der Zeit unmerklich etwas Anderes. Ohne, dass dies geplant gewesen wäre, geben immer deutlicher Berufskritiker den Ton an. Die Gruppe 47 hat zwar von Anfang an nicht nur aus reinen Schriftstellern bestanden, es sind immer schon Publizisten, Zeitungs- und Rundfunkleute und Lektoren dabei gewesen. Doch mit der Entfaltung des literarischen Marktes und der wachsenden Bedeutung der Gruppe entwickelt sich eine besondere Spezies. Die Gruppentagungen werden eine Bühne für Rhetoriker, die sich auf dem Markt als Kritiker positionieren wollen. Hier ist die Grundlage gelegt für Entwicklungen, die heute noch anhalten. Die Gruppe 47 hat den Literaturbetrieb, so wie wir ihn kennen, geradezu erfunden. Und ihre Großrecken bestimmen noch heute, achtzigjährig und darüber, das Geschehen. O-Ton 5: M. Reich-Ranicki, Lit. Quartett, CD1, 10:56-11:09: Grass muss endlich belehrt werden, es ist höchste Zeit: Kritik ist unter anderem und vor allem dazu da, die literarischen Produkte zu werten und zu beurteilen. O-Ton 6: Grass, Zimmermann CD 1, Track 12, 5:00-5:15 Wer lacht hier, hat gelacht? Hier hat sich's ausgelacht. Wer hier lacht, macht Verdacht, dass er aus Gründen lacht. O-Ton 7: M. Reich-Ranicki, Lit. Quartett, CD 1, 8:51-9:03: Es wird nicht erzählt, sondern festgestellt und mitgeteilt. Es gibt keine einzige lebendige Figur, es sind Marionetten und Puppen. Es gibt keine Story, keine Geschichte, keine Fabel. Gar nichts! O-Ton 8: Grass, Zimmermann CD 1, Track 12, 5:15-5:30 Wer weint hier, hat geweint? Hier wird nicht mehr geweint. Wer hier weint, der auch meint, dass er aus Gründen weint. Sprecher: Wenn Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki auftreten, stehen die Journalisten auch heute noch stramm. Beide haben, jeder auf seine Weise, in der Gruppe 47 gelernt, wie man im Literaturbetrieb auf sich aufmerksam macht, und Grass ist auf seine Weise gar nicht so weit von Reich-Ranicki entfernt. Spätestens Ende der fünfziger Jahre ist bei den Tagungen der Gruppe der Zustand erreicht, dass nach den Lesungen hintereinander die Protagonisten aus der ersten Reihe, die Hauptkritiker, loslegen und um die schönsten Pointen, Verrisse und Einfälle wetteifern. Als tonangebende Protagonisten stellen sich heraus: Zitatorin: Walter Höllerer, Walter Jens, Joachim Kaiser, Marcel Reich-Ranicki Sprecher: und der bis 1963 in der DDR lebende Zitatorin: Hans Mayer. Sprecher: Martin Walser porträtiert diese Herren 1962 in einem Zeitungsartikel, den er mit "Brief an einen ganz jungen Autor" betitelt. Es ist die Glanzzeit, der absolute Höhepunkt in der Geschichte der Gruppe 47 und wegweisend für die künftige Entwicklung des Literaturbetriebs. Walser bereitet seinen fiktiven jungen Autor schonend darauf vor, was ihn bei der Gruppe 47 erwartet. Zitator 2: Höllerer hebt zuerst die energische kleine Hand. Er wird Dein Vorgelesenes flink tranchieren, in Schnitte, wie fürs Mikroskop, zerlegen, wird einzelne Sätze vom Gros abtrennen, wird sagen, das seien für Dich typische Sätze. Weil Du ein ganz junger Autor bist, er aber ein ganz großer Kulturen-Züchter, spricht er vorsichtig über Dich. Du hast das Gefühl, er spricht über Dich wie über eine neue Krankheit. Dabei spricht er über Dich wie über eine neue Bakterien-Art, die er, wenn Du nur wolltest, aus Deinen Anlagen züchten könnte. du musst darauf gefasst sein, dass er murrt. Sein Murren wird Dich verletzen, obwohl es gar nicht gegen Dich gerichtet ist. Es ist ein dauernder Hinweis auf die Sprache, in der sich eigentlich ausdrücken möchte. Keiner von uns kennt sie. O-Ton 9: Walter Höllerer, CD Sigtuna 2, Track 2, 1:28-2:10 (danach langsam ausblenden): Das ist nicht nur das plötzliche Hin- und Herwechseln, sondern da wird durchexerziert die Frage nach der Beschreibbarkeit der Dinge und zugleich mit der Beschreibbarkeit nach dem Bestand der Dinge und auch der Leute. Und das läuft hinaus auf das Vergleichbare. Nur von der Umgebung her ist das Haus, ist der Hausherr zu beschreiben. Immer ist etwas dazwischen. Zwischen dem Gast und dem Haus steht der Hausherr, dann die Haushälterin, immer ist etwas drumherum. Und nur dadurch wird Beschreibbarkeit möglich. Regie: Musikakzent Zitator 2: Zum Schluss wird Höllerer noch kurz praktisch und spickt die für Dich typischen Sätze mit einer paar Fähnchen und versieht die Fähnchen mit einigen subtilen Gutachter-Formeln. Dann wirft er Dein Vorgelesenes samt seinen Fähnchen wieder in die Luft, aber keine Angst: Walter Jens fängt es auf und nimmt Dein Vorgelesenes und Höllerers Fähnchen in seine Scheren. Du darfst ruhig an sowas wie Languste denken. Jens hält sich mit seinen Scheren Dein Vorgelesenes und die Zugaben Höllerers vom Leib. Du kannst Dich nicht darauf verlassen, dass er das pure Gegenteil von dem behauptet, was Höllerer gesagt hat. Zweifellos wird er dieses oder jenes Fähnchen Höllerers an eine andere Stelle stecken, vor allem aber wird er Dein Vorgelesenes immer wieder in die Luft werfen und immer wieder selbst auffangen, um zu sehen, wie schwer es ist, wieviel es aushält. O-Ton 10: Walter Jens, CD Sigtuna 2, Track 2, 8:13-9:00 (danach langsam ausblenden) Also, ich glaube den Text etwas verstanden zu haben, während ich Walter Höllerers Rede überhaupt nicht verstanden habe. (...) Bei solch schwierigen Texten kommen die Kritiker zunächst einmal weniger zur Kritik als zur Interpretation, geben Analysen, müssen sich erst einmal verständigen. Das leuchtet mir ein. Aber es scheint mir etwas leichter noch möglich zu sein. Das sind uns vertraute Lettau-Elemente. Da sind die verselbständigten Dinge, da sind die witzig-meckernden Teile, da sind die zuckenden Muskeln, da sind all die... Regie: Musikakzent Zitator 2: Nehmen wir an, Jens habe seine Scheren wieder eingezogen, die Stille, die nach Jens eintritt, sei eingetreten, was nun? Eigentlich wäre Joachim Kaiser dran. Das Alphabet weiß es, der Saal weiß es, er selbst weiß es. Hans Werner Richter sagt es. Kaiser, ein Kenner von Jens-Finalen, hat den Kopf rechtzeitig in Schrägstellung gebracht: jeder, der jetzt hinschaut, sieht, dass er Dein Vorgelesenes treuherzig anschaut. Er findet es hübsch, das sagt er auch, weil er weiß, dass alle wissen, was er sagt, wenn er ein Wort sagt, das er eigentlich nicht sagt. Den treuherzigen Blick auf Dein Vorgelesenes hält er noch eine ganze Zeitlang aufrecht, auch wenn er sich sichtbar dazu durchringt, sein "hübsch" zu erläutern. Wenn er noch das kritische Werkzeug seiner Vorredner in Erinnerung bringt, dann mit jenem Schauder, mit dem Erstkommunikantinnen von Vergewaltigung sprechen. O-Ton 11: Kaiser, CD 1962/3, 28:45-29:35 Man muss am Anfang sagen, dass es vielleicht zu oft verschwiegen wird, auf welchem Niveau wir einen Text behandeln, an welchem Anspruch man das misst. Und dies finde ich also First-Class, das ist große hohe Literatur (...). Also: ein bisschen widersprechen möchte ich Höllerer, aber nur damit eine Diskussion zustande kommt. Ich fand manchmal diese Bilder noch besser als das Gesehene, die Figuren noch besser als die Worte. Mir schien mitunter, dass die Ironie dem Format und der Gewalt des Textes nicht ganz gewachsen war. Ich will das an ein paar Beispielen begründen... Regie: Musikakzent Zitator 2: Dein Vorgelesenes landet, mit Höllerers Fähnchen gespickt, von Jens groß etikettiert und gewogen, von Kaiser ein- und ausgeatmet und intim entlarvt, bei Reich-Ranicki, der sofort aufsteht, wenn er sich mit Dir abzugeben beginnt. Weil er schneller sprechen kann als seine Vorredner, kann er, bei nur geringer Überschreitung der erträglichen Rede-Dauer, alle Verfahren seiner Vorgänger an Dir exekutieren und noch ein eigenes dazu. Höllerers Sprach-Bakteriologie, Jensens Maßnahme und Platzanweisung und Kaisers Versuch, Dein Bild in seinem Spiegel-Kabinett zu versehren, haben Reich-Ranicki, außer Wiederholungen und Korrekturen, nur noch übriggelassen, die weltliche Nützlichkeit und Anständigkeit Deines Vorgelesenen zu beurteilen. Und schon der bloße Gedanke, dass ohne sein Da- und Dabeisein dieser weiß Gott nicht nebensächliche Aspekt ganz unerwähnt geblieben wäre, versetzt Reich-Ranicki in große Eile. O-Ton 12: Reich-Ranicki, CD 1962/1, Track 1, 12:38-12:48: Ja, was wäre noch zu sagen? Regie: Musikakzent Zitator 2: Nun hoffe ich, um Deinetwillen, um unseretwillen, Hans Mayer sei uns erlaubt worden. Reich-Ranicki hat eigentlich doch recht langsam gesprochen, findest Du. Und noch eine Revision: wenn Reich-Ranicki bei Deiner Lesung etwas eingefallen sein sollte, was er vorher schon wusste, so hast Du bei Mayer den Eindruck, du hättest ihm einen Gefallen getan, weil Du ihm alles bestätigt hast, was er schon wusste. O-Ton 13: Hans Mayer, CD Sigtuna 2, Track 2, 11:21-12:05 Ich möchte zunächst zur Unterscheidung von Jens sagen, dass ich Höllerer eigentlich ganz gut verstanden habe und dass mir eigentlich Höllerers Interpretation weniger Schwierigkeiten gegeben hat als der Text . Höllerer sagte: das Äußerste, was von dieser Art der Darstellung epischen Prinzips geleistet werden könne, wäre die Bestimmung auch noch eines konkreten Erzählers. Und nun muss ich sagen beim Anhören des Textes habe ich ja wirklich die merkwürdigsten Evolutionen durchgemacht. Ich habe mich immer in jedem Augenblick gefragt: Wer erzählt eigentlich? Musik: Bob Dylan, aus "The times they are a-changin'": Come writers and critics Who prophesize with your pen And don't criticize What you can't understand For the loser now Will be later to win For the times they are a-changin'. Sprecher: Hans Werner Richter, der spiritus rector der Gruppe, hat lange nicht gewusst, welche Geister er da gerufen hat. Nach 1960 versucht er noch ein paar Mal, die Tagungen so zu gestalten, wie sie früher gewesen sind: ohne so viele Zaungäste, ohne so viele Journalisten und Verleger, und er versucht auch halbherzig, die Rolle der Kritiker einzuschränken. Aber das kann nicht mehr funktionieren. Die Autoren greifen immer seltener in die Diskussion ein. Sie sind viel vorsichtiger geworden, es geht ja um ihre Karriere. Die Gruppe 47 ist zum Literaturbetrieb schlechthin geworden. Das Reden über Literatur, das Drumherum, die Klatschgeschichten und Intrigen sind das A und O dafür, im Gespräch zu bleiben, und der Kritiker wird zu einer Instanz, die bis in den Boulevard hinein Einfluss gewinnt. Musik: Georg Kreisler Und so hab auch ich die Ehre Und mach jetzt Karriere als Musikkritiker. Ich hab zwar ka Ahnung, was Musik ist, Denn ich bin beruflich Pharmazeut, Aber ich weiß sehr gut, was Kritik ist: Je schlechter, um so mehr freun sich die Leut. Es gehört zu meinen Pflichten, Schönes zu vernichten als Musikkritiker, Sollt ich etwas Schönes finden, Muß ich's unterbinden als Musikkritiker. Mich kann auch kein Künstler überlisten, Da ich ja nicht verstehe, was er tut. Drum sag ich von jedem Komponisten: Erst nachdem er tot ist, ist er gut! Sprecher: Die alte Pose des Kritikers wird in der Gruppe 47 den zeitgemäßen Bedingungen angepasst. Im Gegensatz zu den eher akademisch geprägten Kollegen entspricht vor allem Marcel Reich-Ranicki einem neuen, populär werdenden Kritikertypus. In der Gruppe 47 kann er diese Fähigkeiten nur sporadisch ausspielen - seine Kollegen und Widerparts sind rhetorisch weitaus differenzierter, sie bewegen sich vorwiegend im Spannungsfeld zwischen Gesellschaftspolitik und ästhetischer Theorie. Das alles interessiert Reich-Ranicki nicht. Er ist von Anfang an ein Fernsehkritiker, obwohl das Fernsehen noch gar nicht dabei ist. Bei den Tagungen der Gruppe 47 fallen seine Diskussionsbeiträge vor allem durch den Willen zur Pointe, zum eindeutigen Effekt auf. Da die Zeitung noch das unangefochtene Leitmedium ist, agiert er zunächst dort, zuletzt als Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sein genuines Talent aber zeigt sich unverhüllt, als er ab 1977 den Ingeborg Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt prägt und 1988 zum Primgeiger des "Literarischen Quartetts" im Fernsehen wird. Seine Zeitungsartikel sind zwar auch schon die direkte Übersetzung mündlicher Rede, mit dem Stilmittel sofortiger Überrumpelung und verblüffender Eindeutigkeit, aber es sind eben Zeitungsartikel. Sie sind viel mittelbarer als die direkte Präsenz im Fernsehen. Hier aber kann Reich-Ranicki auf den letztlich lästigen schriftlichen Text ganz und gar verzichten und sein Arsenal rhetorischer Mittel voll zur Geltung bringen. Er lobt oder verreißt. Allzu feinziselierte Differenzierungen meidet er instinktiv. O-Ton 14: MRR Berlin 1962, 37:00-37:28 Prosa, die nicht unterhaltsam in irgendeinem Sinne ist, ist damit disqualifiziert, glaube ich. Ich bin dagegen, was Höllerer gesagt hat, diesen einen Satz, es seien jene Stellen, die weniger wirkungsvoll waren, vielleicht interessanter. Wirklich: Können wir uns nicht darauf einigen: Prosa und Literatur hat zu wirken! Und wenn etwas wirkungsvoll ist, ist das nicht etwas Negatives! Sprecher: Reich-Ranicki nennt in seiner Autobiografie seinen Vorgänger als Literaturchef bei der FAZ, den brillanten Intellektuellen Karl-Heinz Bohrer, nicht einmal mit Namen - die Höchststrafe! Es heißt über Bohrer dort nur, dass dieser den Literaturteil "mit dem Rücken zum Publikum redigiert" habe. Musik: Georg Kreisler ich weiß sehr gut, was Kritik ist: Je schlechter, um so mehr freun sich die Leut. Sprecher: Beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt radikalisiert Marcel Reich-Ranicki jene Aspekte des Literaturbetriebs, die ihm bei der Gruppe 47 zupass gekommen sind. Mit Werkstattgesprächen hat dieser Wettbewerb nichts mehr zu tun, es ist ein Schaulaufen für die Kritiker. Reich-Ranicki legt dabei großen Wert darauf, dass die Position des Kritikers als unabhängig und distanziert definiert wird. Als er in der FAZ im Juni 1977 einen Vorbericht zum Klagenfurter Ereignis schreibt, erwähnt er mit keinem Wort, dass er selbst hinter der Sache steckt. Er nennt sich nicht einmal als Mitglied der Jury, obwohl er einige Namen aufzählt. Als idealer Kritiker beurteilt er die Sache von außen: Zitator 1: Was soll denn nun das Ganze eigentlich sein? Ein Fest der Literatur? Ein Dichtermarkt? Ein Wettbewerb mit zwei Preisen? Eine Art Börse? Wirklich eine Arbeitstagung? Oder gar eine literarische Modenschau? Es wird wahrscheinlich und hoffentlich alles auf einmal sein. Regie: Musikakzent Sprecher: Es kommt in Klagenfurt auch gleich zu einer Diskussion über die die Modalitäten des Wettbewerbs. Als Wortführer treten sich der Autor Vintila Ivanceanu und Reich- Ranicki gegenüber, sachte moderiert vom alten Friedrich Torberg: O-Ton 15: Klagenfurt, Track 2, 3:28-4:08 -Ivanceanu: Ich bin hierhergekommen wegen dem Geld, wegen dem kleinen Ruhm und wegen dem Schauspiel, das Sie mir auch anzubieten haben! -Reich-Ranicki: Wir denken nicht daran, für Sie eine Show abzuziehen! -Ivanceanu: Sie können sich nicht so verfälschen in dieser Sekunde und behaupten, dass Sie keine Show angeboten haben! Sie selbst sind ein Showmaster! Das ist eine andere Sache. Und Sie sind auch Ihrer Rolle gerecht. Nur, Sie waren zu bescheiden in diesem Fall. Ich möchte... -Torberg: Das erste Mal, dass man ihm das vorwirft! -Reich-Ranicki: Ein Novum unter den gegen mich erhobenen Vorwürfen! -Ivanceanu: Es tut mir leid, dass Sie mich nicht befriedigt haben. Sprecher: Damit trifft der Autor den Kritiker an seiner empfindlichsten Stelle. Aber ansonsten stößt Reich-Ranicki auf die Form von Widerstand, die er gewohnt ist. Am prägnantesten wird sie artikuliert von seinem Mitjuror, dem Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg. Dieser plädiert, wie in der anfänglichen Praxis der Gruppe 47, für ein verständnisvolles Werkstattgespräch und lehnt die mediale Inszenierung ab. Über solche Einwände setzt sich Reich-Ranicki aber längst hinweg. O-Ton 16: Klagenfurt, Track 5, 8:00-8:50 + 1:12-2:00 - Muschg: Klagenfurt und diese Veranstaltung - über ihre Fragwürdigkeit brauchen wir nicht zu reden. Die ist in den ersten Tagen ja überdeutlich zum Ausdruck und auch explizit zum Thema geworden. Aber eine der wenigen Chancen, die wir hier haben, sollten wir nutzen. Und deshalb: ich find's richtig, dass Sie auch zu einem apodiktischen Urteil stehen, aber das ist hier eine Meinung unter anderen. Auch die Presse, die über unsere Tagung berichtet, redet ja gern von Führungsansprüchen, von Hierarchie der Urteile. Die Kürze verpflichtet dann dazu, irgendeines der hier gefallenen Bonmots für das verbindliche Urteil über ein Buch hinzunehmen, was von diesen Tagungen bleibt in den Zeitungen ist für den Autor immer kränkend, beschämend usw. Die jungen, die dabei gewesen sind, die sollen wenigstens erlebt haben und ganz besonders der Autor, der hier sitzt, dass es hier durchaus human zugeht. - Reich-Ranicki: Sie wollen Autoren belehren, erziehen, ihnen helfen. Ich will nicht Autoren belehren, ich glaube, dass ich das gar nicht kann. Sie schreiben für Autoren, ich schreibe für Leser. Ich bin nicht hierhergekommen, um Autoren Unterricht zu erteilen und ihnen zu sagen, wie sie das, was sie gemacht haben, hätten besser machen können. Sie haben über die Art dieser Literatur etwas zu sagen und was wir davon halten und warum. Und haben das zu belegen. Ob der Autor von unserer Äußerung Nutzen hat oder nicht, ist eine sekundäre Frage. Regie: Musikakzent Sprecher: Das schwerste Geschütz, das Marcel Reich-Ranicki auffahren kann, ist "der Leser". Auf den beruft er sich immer. Es ist aber die Frage, ob es diese allgemeine Form von Leser überhaupt gibt. Ob er ihn nicht immer wieder für sich neu erfindet. Der Gestus des allgewaltigen Kritikers, den Reich-Ranicki inszeniert, ist auf seine Person zugeschnitten und auf unmittelbare Medienwirkung angelegt. Doch es gibt auch andere Protagonisten. Joachim Kaiser etwa ist als Kritiker eine genauso große Autorität wie Reich-Ranicki und setzt sich von dessen Gestus eindeutig ab: O-Ton 17: Kaiser, Klagenfurt, Track 5, 11:24-11:57 Herr Ranicki, ich möchte auch noch was dazu sagen. Sie sagen, wir verschleiern und verschleiern die Unterschiede zwischen den Texten, wenn wir sagen, das was hohen oder mittleren Ansprüchen nicht genügt noch quasi ernstzunehmen scheinen. Dieser Zustand, dass das Urteil im Lebendigen fällt, dass man nicht zuhause schreibt, das Buch hat mir nicht gefallen, aber wenn man so quasi lebendig miteinander zusammenarbeitet, dann ist ein gewisses Wohlwollen gegenüber jeder Kunstäußerung, und sei sie noch so misslungen, platterdings eine Voraussetzung. Sprecher: Es gibt parallel zu Klagenfurt in den Feuilletons natürlich noch andere Kritiker, die differenziert urteilen und der Literatur mit deren ureigenen Mitteln begegnen - Reinhard Baumgart etwa schreibt in den siebziger Jahren über die "See-Stücke" von Fritz Rudolf Fries, einem der besten Schriftsteller aus der DDR. Es ist nur scheinbar ein Reisebuch über die DDR-Ostsee: Zitator: Da nun unaufhaltsam der Winter beginnt, ist das ein schönes Buch zum Reisen im Kopf. Man sitzt lesend vollkommen still, wird bewegungslos bewegt und ist schon da. Fries muss über die Beschaulichkeit der besuchten Orte und Landschaften nicht viel Worte verlieren, die behagliche Gangart seiner Stücke teilt sich von selbst mit. "Die Stille der Stadt kommt aus uns selber", sagt er von Wismar, aber dieser Subjekt- Objekt-Satz lässt sich natürlich auch umkehren: Die Stille aller dieser Fries-Sätze kommt auch von ihren Gegenständen. Norm-Wendungen wie "Ehrentag der Republik" oder "über den Plan hinaus" liegen dann plötzlich in den Zeilen wie Kunststofftüten in der Landschaft. Regie: Musikakzent Sprecher: Schriftliche Kritik, mit solch assoziativ gleitenden Passagen, und Medienkritik treten immer deutlicher auseinander. Marcel Reich-Ranicki polarisiert dabei am effektivsten. Das Fernsehen ist in Klagenfurt von Anfang an dabei, nach einiger Zeit überträgt es die Lesungen und Diskussionen sogar ungekürzt und live. Als Reich-Ranicki nach zehn Jahren Klagenfurt verlässt und 1988 das "Literarische Quartett" im Zweiten Deutschen Fernsehen initiiert, erklimmt er die höchste Stufe seiner Medienkarriere. Kritik ist bei ihm kein literarisches Genre, sie hat die Differenziertheit des schriftlichen Ausdrucks längst hinter sich gelassen. Der Kritiker ist bei ihm etwas zwischen großem Zampano, Zirkusdirektor und den alten Grummlern und Bescheidwissern auf dem Balkon in der Muppet-Show. O-Ton 18: MRR, "Streit-Lust" Track 4, 3:19-3:24 Ja, genau das werfen wir ihm vor - ja: ein erlösendes Wort: Das Buch ist typischer Handke, das ist kein Ausrutscher! Sprecher: Die Literatur, die im Fernsehen immer ein Fremdkörper war, kann in der Figur Marcel Reich-Ranickis zum ersten Mal restlos inkorporiert werden, Reich-Ranicki ist das Medium schlechthin. O-Ton 19: MRR, "Streit-Lust" Track 1, 12:51-12:57 Ob Frau Jelinek das wollte oder nicht! Sprecher: Reich-Ranicki trennt Dichter und Kritiker kategorisch, er lehnt alles ab, was diese Grenzen verschwimmen lassen könnte - den dichterischen Essay etwa, das Schreiben über Literatur als literarische Form selbst, wie es in der Frühromantik postuliert wurde. Schon bei Goethe sieht der große Fernsehkritiker die große Kluft zwischen Dichtern und Kritikern sich grundsätzlich auftun. Und er ist dabei keineswegs auf Seiten des Dichters. In einem seiner Aufsätze über frühere Literaturkritiker schildert Reich-Ranicki, wie Goethe die Uraufführung von August Wilhelm Schlegels Tragödie "Ion" inszenierte: Zitator 1: Dem Kritiker Karl August Böttiger missfiel diese Darbietung, er verfasste eine umfangreiche und recht ungünstige Rezension für das "Journal des Luxus und der Moden". Goethe erfuhr davon und zögerte keinen Augenblick, die Veröffentlichung dieser Rezension zu verhindern. Das allerdings genügte Goethe keineswegs. Gleich am nächsten Tag wandte er sich an seinen alten Duzfreund Wieland, der in Weimar den "Neuen Teutschen Merkur" herausgab. In dieser Zeitschrift könnte der "niederträchtige Mensch" Böttiger, befürchtete Goethe, die vom "Journal" abgelehnte Rezension doch noch unterbringen wollen. Sollte dieser "Tigeraffe" das tun wollen - schrieb Goethe an Wieland -, "so wünschte ich nicht, dass er den Merkur zum Gefäß seiner Unreinigkeiten ersehe". Wieland dachte nicht daran, Goethe zu verärgern, die Rezension wurde auch im "Neuen Teutschen Merkur" nicht publiziert. Das Ganze hatte übrigens noch ein Nachspiel. Das Theaterreferat im "Journal" wurde dem Kritiker Böttiger ganz und gar entzogen - und der es jetzt übernahm, war kein anderer als der Theaterdirektor in eigener Person, also Goethe. O-Ton 20: Video LQ, 3:30:35 - Reich-Ranicki: Aber jetzt Freunde... - Löffler: Das ist nicht der Punkt! - Reich-Ranicki: Böttiger... - Karasek: Das ist nicht der Punkt! - Reich-Ranicki: Böttiger... Böttiger... Sprecher: Im "Literarischen Quartett" sind die Rollen klar verteilt, das ist wie in einer Sitcom. Reich-Ranicki ist der Chef und Familienvater, Sigrid Löffler der weibliche Gegenpart, der ab und zu aufmuckt, Hellmuth Karasek mimt den Sekundanten und den Clown. Es ist ein eingespieltes Team. Der vierte Teilnehmer, der Gast, hat es da schwer. Manchmal ist es sogar ein Schriftsteller. O-Ton 21: Reich-Ranicki, Becker-Quartett 0:00-0:15 Am Literarischen Quartett nehmen heute teil: meine Freundin Sigrid Löffler, Profil Wien, mein Freund Hellmuth Karasek, Der Spiegel Hamburg, und mein ganz alter Freund Jurek Becker. O-Ton 22: Becker, SR 56:40-56:45 Ich halte Reich-Ranicki für einen Trivialkritiker! Regie: Musikakzent O-Ton 23: Becker-Quartett, 6:30-6:35 - Reich-Ranicki: Herr Becker, Ihr Schweigen beunruhigt mich etwas. - Jurek Becker: Das versteh ich gut! Sprecher: Es ist eine merkwürdige Dialektik um den Kritiker Marcel Reich-Ranicki. Auf der einen Seite rüstet er den Kritiker auf zur medienkompatiblen Showgröße. Auf der anderen Seite entwertet er immer offensiver diejenigen Formen der schriftlichen Kritik, denen ein bloßes Plus-Minus-Schema, ein einfaches Daumenhoch- Daumenrunter nicht genügt. Indem Reich-Ranicki den Kritiker zu einem großen Popanz aufbläst, schafft er ihn ab. Die Blase platzt. Es ist kein Zufall, dass seine legitime Nachfolgerin als Chef-Literaturkritikerin des ZDF Elke Heidenreich wird. Sie nennt ihre Sendung "Lesen!" und baut konsequent auf dem Fundament, das Reich- Ranicki gelegt hat. Sie huldigt enthusiastisch dem "Leser". Und sie legt auch gar keinen Wert mehr darauf, groß die Rolle des "Kritikers" zu definieren. Sie ist schon weiter. O-Ton 24: Heidenreich, Track 2, 1:28-2:13 Ich mach ja auch keine Literaturkritiken! Mir wird witzigerweise aus dem Feuilleton immer vorgeworfen, Literaturkritik wär das ja nun nicht - ja, richtig, ist es nicht! Soll es auch gar nicht sein! Es sollen Buchempfehlungen sein bei diesen 80000 Neuerscheinungen im Jahr, bei denen sich kein Mensch mehr auskennt! Ich kenn mich halt aus, weil ich sehr viel lese, weil ich von allen Verlagen bemustert werde, weil ich aus den Katalogen auswähle: was könnte vielen Leuten gefallen und ist dennoch nicht Mainstream oder seichter Quatsch oder Rosamunde Pilcher, sondern eine gut erzählte Geschichte, mit der man die Leute wieder ohne Furcht ans Lesen kriegt! Denn unsere Feuilletons, die sich mit Literatur ernsthaft auseinandersetzen, die sind manchmal so kompliziert, dass die Leute denken. wenn ich schon die Kritik nicht verstehe, versteh ich auch das Buch nicht! Und da kommt dann Elke und macht das wieder verstehen! Musik: Ella Fitzgerald, CD Scheck Critics? Who need them? Sprecher: Der Gegenentwurf in der ARD ist Denis Scheck. Er wendet sich nicht ostentativ von der Kritik ab, sondern rückt Reich-Ranickis Erfindung des Medienkritikers ins radikal Zeitgenössische. Das "Literarische Quartett" war noch im weitesten Sinn eine Literatursendung. Denis Schecks "Druckfrisch" am späten Sonntagabend ist aber vor allem eine Fernsehsendung. Scheck tritt hauptsächlich als Talkmaster und Porträtmaler in Erscheinung. Aber er gibt auch den Kritiker, und als solcher widmet er sich programmatisch der Bestsellerliste. Das ist die konsequente Umsetzung von Medienanalysen. Wenn man Medienexperten und Programmdesigner nach Kultur fragt, antworten sie sofort mit der Parole: "Fernsehen ist ein Massenmedium". Nicht nur darin bringt Denis Scheck Reich-Ranicki unmittelbar auf den Punkt. Wofür dieser noch mäandrierende Sätze und einige rhetorische Anläufe brauchte, ja manchmal sogar ein Gegenüber, das ihn herausfordern konnte, sucht Scheck einfach nach einer Pointe. Seine Besprechung von Jan Fleischhausers Spiegel-Bestsellerlisten- Titel "Unter Linken" lautet so: O-Ton 25: Scheck, 12:27-12:57: Dass manch Mächtiger seinen Körper im Lauf der Zeit mit dem seines Staates verwechselt, daran hat man sich gewöhnt. Jan Fleischhauer verwechselt originellerweise seinen Staat mit seiner Mutter. Diese Dame ist 73 Jahre alt und seit Jahrzehnten SPD-Mitglied. Dies führt Jan Fleischhauer zur Diagnose: "Die Linke hat gesiegt, auf ganzer Linie. Sie ist zum juste milieu jener geworden, die über unsere Kultur bestimmen." Ein schöner Traum! Ich fürchte aber, gesiegt hat lediglich Jan Fleischhauers Mutter. Sprecher: Das ist eine überzeugende Beweisführung, und auch in der Form hieb- und stichfest. Denn für diese Form ist das Fernsehen das Primärmedium - wenn Zeitungen versuchen, derlei Effekte nachzumachen, wirken sie eher kläglich. Nichtsdestotrotz gibt es in den Feuilletons aber verstärkt Tendenzen, das Primärmedium Fernsehen zu kopieren. Da setzt man den Magazinstil, den Hausbesuch mit Porträt, das Interview oder die Namenskolumne an die Stelle der Kritik. Der Literaturkritiker der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" beispielsweise hat kürzlich eine "Literaturgeschichte von 1945 bis heute" veröffentlicht. Da geht es um die Pointe, um die Zeitstimmung, um das unbedingte Jetzt. Zitator 1: Christoph Hein ringt weiter. Eisern. Aufrecht. Sprecher: Richtig fetzig ist das Statement zu Rolf Dieter Brinkmann: Zitator 1: Dieser Mann war eine Waffe. Dieser Mann war der Hass und die Liebe. Diesem Mann war das Leben nicht genug. Sprecher: Manchmal ist das ziemlich witzig. Wenn aber literarische Texte selbst im Mittelpunkt stehen, wird es sehr dünn. Zitator 1: Paul Celan war der unglücklichste Dichter Deutschlands. Er lebte nach dem Krieg in Paris, in immer größerer Isolation, dichtete und dichtete - im ,absoluten Exil' auf dem Weg zum ,absoluten Gedicht'. Sprecher: Obwohl das nach banalen Gemeinplätzen aussieht, ist fast alles daran falsch. Natürlich könnte der Autor wissen, dass Celan sich immer programmatisch vom "absoluten Gedicht" abgesetzt hat. Aber auf so etwas kommt es gar nicht an. Es geht um die Tonlage, es geht um den Stil. Musik: Ella Fitzgerald, CD Scheck: The Critics, who need them? Musik: Georg Kreisler und es sagten mir viele Herren: Genial, großartig! Sie müssen Kritiker werden! Ich sagte ja und es geschah! Sprecher: Die Medien sind sich tendenziell selbst genug, sie zeugen sich aus sich selbst heraus, und so kann eine Eigendynamik in der Themensetzung und Themenbearbeitung entstehen, die mit dem klassischen Literaturverständnis nichts mehr zu tun hat. Aber man wähnt sich um so mehr auf der Höhe der Zeit. In den letzten Jahren ist es mehrfach aufgefallen, dass einflussreiche Literaturagenturen beim Marketing bestimmter Titel zusammen mit einflussreichen Journalisten, die ebenfalls bei der betreffenden Agentur unter Vertrag stehen, Trends zu setzen versuchen. Da können auch siebzehnjährige spätpubertierende Mädchen zu medialen Ereignissen werden. So trennt sich die Spreu vom Weizen: entweder man betreibt Literaturkritik, oder man versucht, sich als Hauptentfacher eines Medienwirbels zu positionieren. Zitator 1: Es hängen ihre langen blonden Haare im Gesicht, ab und zu schiebt sie einzelne Strähnen wie einen Vorhang zur Seite. Zitatorin: Die Zeit Zitator 1: Sie trägt dunkelblonde Haare, unter denen ihr Gesicht hervorschaut. Zitatorin: Der Spiegel Zitator 1: Sie hat mittelblonde Haare, die ihr ständig ins Gesicht fallen. Zitatorin: Süddeutsche Zeitung Zitator 1: Jeder, der über 30 ist, sollte sich vor diesem Buch hüten! Zitatorin: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Sprecher: Der Stil der Kolumne, eines sich selbst absolut setzenden Ich ist sehr aktuell: er verbindet die althergebrachte Schülerzeitung mit der Blogger-Kultur im Internet. Unter den Internet-Blogs gibt es einige interessante, aber auch viel Scharlatanerie und selbstgefälligen Stumpfsinn. Zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden, wird eine der wesentlichsten Kompetenzen für die Zukunft sein. Auch Kinderkrankheiten wie etwa im Internet-Forum "Perlentaucher" sind dann überwunden, wo man mit intellektuell eher bescheidenen Mitteln in einem Feuilleton- Überblick in uralter Manier Klüngelwirtschaft betreibt. Wie sich die notwendige Hierarchisierung des Wissens und der Diskussionsforen über Literatur herausbilden wird, ist eine der spannenden Zukunftsfragen. Währenddessen aber werden in den deutschen Zeitungen nach wie vor glänzende Kritiken geschrieben. Vielleicht sind die gegenwärtigen medialen Zuspitzungen sogar die Voraussetzung dafür - die Praxis der Gruppe 47 hat da einige Grundlagen gelegt. Es gibt wenige Länder, in denen die Feuilletons so gut funktionieren wie in Deutschland, in denen so ausgefuchste, anspielungsreiche und glänzend geschriebene Literaturkritiken erscheinen. Regie: Musikakzent Zitatorin: Lothar Müller über die frühe Erzählung "Antwort aus der Stille" von Max Frisch, Erstdruck 1937, wiederaufgelegt 2009: Zitator 1: Der Stil dieser Erzählung ist kein Vorgriff auf die Prosa nach 1945, weder die von Frisch noch die seiner bedeutenden Zeitgenossen. Er ist das epigonale Echo eines bereits in den dreißiger Jahren ausgelaugten Stils, der nach metaphysischen Großbegriffen gierte, Nietzsches Pathos kleinkochte und in großen Portionen ausgab und den Hermann Hesse wohl auch deshalb kritisierte, weil er ihn besser beherrschte als der junge Frisch. Regie: Musikakzent Zitatorin: Iris Radisch über "Alice" von Judith Hermann, 2009: Zitator 2: Als Judith Hermann 28 Jahre alt war, veröffentlichte sie den Erzählungsband "Sommerhaus, später". Es ging um junge Frauen, die sich in der Feierabendstimmung des Jahrtausendendes unbehaust fühlten und sich in die Schneckenhäuser einer leeren Empfindsamkeit zurückzogen. Damals hatte Judith Hermann den Blues, in dem sich das Zeitalter erkannte. Als Judith Hermann 33 Jahre alt war, veröffentlichte sie den Erzählungsband "Nichts als Gespenster". Es ging immer noch um junge Frauen, die ihre Unbehaustheit in der Start-up-Stimmung des jungen Jahrtausends wie einen überflüssigen Koffer um die ganze Welt schleppten. Doch die leere Empfindsamkeit dieser Pausengeschöpfe hatte plötzlich ein bisschen Stipendiatengeschmack. Man wollte es sich so grob sagen, aber plötzlich dachte man beim Lesen: Was machen diese Literaturjugendlichen eigentlich mit ihrer schönen Lebensmüdigkeit, wenn der Wecker eines Tages klingelt? Inzwischen ist Judith Hermann 39 Jahre alt, und in ihrem neuen Erzählungsband "Alice" klingelt der Wecker. Regie: Musikakzent Zitatorin: Robin Detje über den Roman "Es gut uns gut" von Arno Geiger, der 2005 den neu geschaffenen hochdotierten Deutschen Buchpreis erhielt: Zitator 1: Die Literaturgeschichte kennt Autorinnen und Autoren, die viel gewollt und viel riskiert haben, von Zorn zerrissen, mit der Welt über Kreuz. Das nervt, nicht wahr? Die Anerkennung für Arno Geigers Buch zeigt uns, mit wie wenig wir Menschen oft schon zufrieden sind. Was sich auf mittlere Weise im Mittleren nur mittel hervortut, drücken wir besonders warmherzig an unsere mittelvollen Herzen. Natürlich ist solcher Konsensschrott im Grunde widerlicher als ehrlicher Trash oder ehrliches Scheitern. Aber das Nichts nichtet. Es gibt keine Gerechtigkeit. Musik: aus Bob Dylan, "The times they are a'changin'" (Regie: entspricht nicht der realen Abfolge im Lied!) Come writers and critics Who prophesize with your pen And don't criticize What you can't understand For the loser now Will be later to win For the times they are a-changin'. Sprecher: Nichts ist so einfach, aber auch so schwer, sich einfach auf die Tonlage eines Buches einzulassen und sie mit der eigenen Leseerfahrung zu konfrontieren, subjektiv, immer wieder neu und anders - das hat etwas Zeitloses und wird auch in Zukunft seine Nische finden, zwischen all den Lautsprechern und Betschwestern. Regie: Musik (Bob Dylan), darauf Collage der folgenden O-Töne O-Ton 26: Heidenreich-Video, 1:09-1:16 Ich hab vor zwei Jahren im "Spiegel" einen großen Artikel geschrieben über ihr erstes Buch, weil mich dieses Buch wirklich zu Tränen gerührt hat. Regie: Musik O-Ton 27: Fried/Mangold, DVD 6:28-6:47 -Je höher die Bildungsschicht, desto weniger Weichspüler wird gekauft. Fand ich echt verblüffend. Benutzt du eigentlich Weichspüler? -Meine Mutter fragte mich das kürzlich, und ich sagte: Nee, ich hab keinen Weichspüler! Und erst, seit ich David Wagner gelesen habe, weiß ich, dass das soziologisch natürlich was bedeutet! - Jetzt wissen wir endgültig, dass du ein Intellektueller bist! - Ich fürchte, ja! Regie: Musik O-Ton 28: Scheck, 14:40-14:52 Dass dieses Machwerk seit vielen Monaten auf der Bestsellerliste hierzulande steht, ist traurig und schlicht eine Schande. Regie: Musik O-Ton 29: Reich-Ranicki, LQ-Video, 3:34:38 Wehe, wenn Sie es wagen, das Zeug von dem Böttiger abzudrucken! 2 2