COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen ab- geschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Zeitreisen 12. Februar 2014 "Wir haben keine Freude daran und spätere Historiker auch nicht" Der Kampf um die Stasi-Akten Von Gerald Endres Take 01 Demonstranten (0:10) Stasi in den Tagebau, Stasi in den Tagebau. Stasi in den Tagebau. Sprecher Dass sich die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit eine nützlichere Tätigkeit suchen sollten, das wussten die Demonstranten in der DDR Ende 1989. noch mal aufblenden: Take 01a Demonstranten Stasi raus, Stasi raus, Stasi raus Sprecher Aber was sollte mit den Hinterlassenschaften ihrer Arbeit geschehen: mit den Akten, die die Stasi angesammelt hatte, mit den Aufzeichnungen von der Be- spitzelung der Bürger, von heimlichen Eingriffen in ihr Leben, und mit den In- formationen, die Agenten im Ausland zusammengetragen hatten? In Kirchen- kreisen, aber auch bei vielen Bürgerbewegten gingen Zweifel um, ob man das öffentlich machen sollte. David Gill, Vorsitzender des Bürgerkomitees zur Auf- lösung der Stasi-Zentrale, kannte diese Bedenken. Take 02 David Gill (0:31) Es gab verschiedene Gründe. Der wichtigste war, glaube ich, dass bei einigen, und ich hab' dem Argument am Anfang auch was abgewinnen können, die große Angst bestand, wenn man die Akten aufmachen würde oder nutzen würde, kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in diesem Land, dann gibt es Selbstjustiz, wenn die Nachbarn vom Nachbarn erfahren, dass er sie bespitzelt hat, dann werden sie dem den Kopf einschlagen, also in drastischen Bildern wurde das auch behandelt. Sprecher Vor allem die HVA, die "Hauptverwaltung Aufklärung", stemmte sich gegen jede Offenlegung ihrer Akten. Schließlich habe jeder Staat einen Auslandsge- heimdienst, und wenn die Spione enttarnt würden, drohten ihnen Gefahren auch für Leib und Leben. Letzter Chef der HVA war Werner Grossmann: Take 04 Werner Grossmann (0:16) Es ging uns insbesondere um den Schutz unserer Kundschafter, die wir in einer Vielzahl in der Bundesrepublik hatten. Wir wollen verhindern, dass beim mögli- chen Bekanntwerden unserer Unterlagen sie belastet werden können durch ihre Tätigkeit. Sprecher Und da kam ein weiterer Aspekt ins Spiel. Die HVA hatte nicht nur ein umfang- reiches Agentennetz. Sie hörte im Westen systematisch die Telefone von Regie- rungsstellen, Regierungsmitgliedern und wichtigen Firmen ab. Da wurden sicher auch Informationen gesammelt, die manchem der Belauschten unangenehm wä- ren. Damit könnte vielleicht auch mancher nie ganz aufgeklärte Skandalfall end- lich gelöst werden. Aber durfte man dazu auf Stasiakten zurückgreifen? Hans- jürgen Garstka war damals Datenschutzbeauftragter in West-Berlin: Take 05 Jürgen Garstka (0:32) Die traditionelle, klassische Datenschutzposition ist die: Daten, die auf eine sol- che verfassungswidrige Weise erhoben worden sind und verarbeitet werden, müssen vernichtet werden. So steht es im Datenschutzrecht drin. Und daraus hat gefolgt, dass nicht nur die Stasi, die Leute selber, sondern durchaus westdeut- sche Stellen, das Bundesinnenministerium, sogar der Bundesdatenschutzbeauf- tragte der Auffassung waren: Diese Akten müssen verschwinden. Das ist rechtswidriges verfassungswidriges Material. Das darf nicht weiter aufgehoben werden. Sprecher In den Archiven der DDR-Staatssicherheit schlummerten nicht nur Informatio- nen über heimliches Regierungshandeln in der DDR. Die Bundesrepublik hatte ihre Flick- und Barschelaffären, und möglicherweise gab es auch Affären, die nie an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Bundekanzler Helmut Kohl vertrat eine eindeutige Linie beim Umgang mit den Stasi-Akten: Take 06 Helmut Kohl (0:08) Wenn ich völlig frei entscheiden würde, wüsste ich, was mit den Akten gesche- hen müsste. Wir haben keine Freude daran und spätere Historiker werden auch keine haben. Sprecher In einer revolutionären Situation in der DDR und einer unübersichtlichen Um- bruchsituation für ganz Deutschland stießen gegensätzliche Werte und Ansprü- che aufeinander. Auf der einen Seite stand der grundlegende demokratische An- spruch von Öffentlichkeit und Wissenschaft, soviel wie möglich zu erfahren. Viele Opfer des Unterdrückungsapparats DDR hatten zudem ohne Zugang zu den Stasiakten gar keine Möglichkeit, einen Ausgleich für das Erlittene durch- zusetzen oder auch nur Aufklärung zu bekommen, was mit ihnen geschehen ist. Auf der anderen Seite stand der Anspruch auf Schutz der vielen Menschen, de- ren privateste Geheimnisse damals ausspioniert wurden, die Angst um den ge- sellschaftlichen Frieden, und der grundlegende Wunsch von Obrigkeiten in Ost und West, sich nicht allzu sehr in die Karten schauen zu lassen. Die Staatssicherheit hatte schon im Herbst 1989 begonnen, Akten zu vernichten. Das sprach sich herum und im Dezember besetzten Demonstranten Bezirksver- waltungen, um das zu verhindern. Aber noch war unklar, wie es weitergehen würde mit der Stasi. Am Zentralen Runden Tisch, an dem Oppositions- und Re- gierungsvertreter saßen, wurde über eine Auflösung gestritten. In dieser Situa- tion spitzte sich die Lage plötzlich zu. Take 07 tagesschau (0:13) Guten Abend, meine Damen und Herren, die Zentrale des ehemaligen Staatssi- cherheitsdienstes in Ostberlin ist heute von einer aufgebrachten Menschenmen- ge gestürmt worden. Zehntausende drangen am Nachmittag in das Gebäude ein und richteten schwere Verwüstungen an. Sprecher Die ARD-Tagesschau am 15. Januar 1990. Das DDR-Fernsehen unterbrach mehrmals sein Programm und strahlte einen Appell zur Ruhe aus: Take 08 Fernsehfunk (0:21) Die Demokratie, die sich gerade beginnt zu entwickeln, ist in höchster Gefahr. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik ruft alle Bürger auf, in dieser schweren Stunde Ruhe und Besonnenheit zu bewahren und staatsbürger- liches Bewusstsein zu beweisen. Die Regierung setzt ihr ganzes Vertrauen in die Verantwortung der Bürger gegenüber unserem Gemeinwesen. Sprecher Die Tagesschau verkündete noch in der Sendung dieses Abends, wie es mit der Stasi-Zentrale weitergehen werde. 09 Tagesschaubericht (0:13) Ab morgen, so der Plan, den die Regierung akzeptiert hat, werden Bürgerkomi- tees, Volkspolizei und die Militärstaatsanwaltschaft hier beginnen, gemeinsam die Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit aufzuarbeiten. Sprecher Als "Sturm auf die Stasizentrale" ist das Ereignis vielen in Erinnerung, die dabei waren. Doch beim genaueren Hinsehen bleibt von der spontanen Erstürmung nicht viel übrig. Schon einige Tage vorher hatten die Regierungsvertreter am Runden Tisch den Widerstand gegen eine Auflösung des Geheimdienstes aufge- geben. Klaus Bästlein, Historiker beim Berliner Landesbeauftragten für die Stasiunter- lagen, beschreibt die Ereignisse so: Take 10 Bästlein Besetzung Die Besetzung, der angebliche Sturm auf die Stasi hier in Berlin, also auf das Ministerium für Staatssicherheit am 15. Januar war ein inszeniertes Stück. Das heißt, man hatte sich vorher verabredet. Die Stasi-Mitarbeiter dort waren be- reits seit dem 11. Januar entwaffnet worden, sie wurden am 15. Januar alle mit- tags um 13 Uhr nach Hause geschickt. Es ging dann um 15 Uhr extra nochmal eine Truppe von Volkspolizisten und von Bürgerrechtlern durch alle Räume, um aufzupassen, dass nun keiner das verschlafen hatte, dass er das Gebäude zu ver- lassen hatte, und als um 16.30 Uhr die ersten Demonstranten kamen, die dann um 17 Uhr auf den Hof kamen, da war keiner mehr da von denen, und das war auch so geplant. Und es war auch in der Folgezeit so, dass das Bürgerkomitee selber schon personell gar nicht in der Lage war, das, was auf dem Gelände ge- schah, und auch was den Bereich des Verlassens des Geländes angeht, über- haupt zu kontrollieren. Das taten in der Regel Volkspolizisten, denen standen aber Staatsanwälte vor, und zwar DDR-Staatsanwälte, und diese DDR- Staatsanwaltschaft war so, dass hundert Prozent aus der SED waren. Das wa- ren also Mitglieder der alten Gewalt, und die Stasi hat das sozusagen inszeniert, um sozusagen unter dem Schutzmantel einer scheinbaren Besetzung ihre Selbst- vernichtung von Akten fortsetzen zu können. Sprecher In der Normannenstraße entwickelte sich eine sonderbare Übergangssituation. Einige engagierte junge Leute aus der Protestbewegung, die bis dahin noch nie politische Verantwortung getragen hatten, sollten erfahrene Geheimdienstprofis und Verwaltungsspezialisten kontrollieren. Sie waren auf die Informationen der Stasi-Fachleute angewiesen und konnten entsprechend an der Nase herumge- führt werden. Dazu kam, dass sich die Bürgerrechtler untereinander noch nicht einig waren, was mit den Akten der Stasi geschehen sollte. Neben der Forderung nach Aufklärung gab es auch detaillierte Pläne, das Teufelszeug zu vernichten. Später sollte sich herausstellen, dass auch die Bürgerkomitees von der Stasi unterwandert waren, dass sogar Führer von Oppositionsgruppen am Runden Tisch, wie Ibrahim Böhme und Wolfgang Schnur, als Inoffizielle Mitarbeiter an der Leine der Stasi liefen. Sie waren natürlich durchaus daran interessiert, dass die Stasiunterlagen verschwanden. In dieser Situation fasste die AG Sicherheit des Zentralen Runden Tisches einen verhängnisvollen Beschluss: Die elektronischen Datenträger der Stasi sollten vernichtet werden. David Gill, damals Vorsitzender des Bürgerkomitees zur Auflösung der Stasi, erklärt, wie es dazu kam. Take 11 Gill Datentraeger (1:27) Aus heutiger Sicht ist das ganz klar ein großer Fehler gewesen, diese elektroni- schen Datenträger zu vernichten. Das sag' ich unumwunden. Es war damals ne andere Perspektive, die wir hatten. Der Ausgangspunkt der Überlegung war fol- gender: Auf diesen elektronischen Datenträgern, so wurde uns das bescheinigt und auch zumindest ansatzweise auch vorgeführt, befanden sich Daten, die alle auch im Archiv in Papierform nochmal da sind. So sind wir zu dem Schluss ge- kommen, dass wir gesagt haben: Wenn wir die vernichten, vernichten wir quan- titativ keinerlei Information, die Informationen sind alle da, sondern wir verhin- dern einen Missbrauch, aber die Sachen können genauso aufgeklärt werden wie mit diesen Datenträgern. Das war die Überlegung dahinter. Was wir damals zu wenig bedacht haben, war, dass natürlich in gewisser Weise ein papiernes Archiv leichter und gezielter zu manipulieren ist als eine elektronische Daten- sammlung, dass ein elektronischer Zugriff uns manches an Arbeit auch erleich- tert hätte, natürlich, aus heutiger Sicht muss man auch sagen, auch diese elek- tronischen Datenträger hätte man irgendwo auch sichern können. Sprecher Mit dem Vernichten des elektronischen Archivs war der Weg frei, viele Regalki- lometer von Aktenpapier zu säubern. Das war nicht nur den Stasileuten und ihren Zuträgern recht. Brisant blieb jedoch das Material, das die Hauptverwaltung Aufklärung in der Bundesrepublik gesammelt hatte. Der damalige HVA-Chef Werner Grossmann erzählt: Take 12 Grossmann Drohung (0:22) Leitende Mitarbeiter unseres Dienstes führten dann auch Gespräche mit Vertre- tern des Runden Tisches und konnten sie davon überzeugen, dass es notwendig ist, unsere Akten zu vernichten, um eben auch Dinge zu vermeiden, die zu einer Preisgabe von, oder sagen wir, die auch führende Persönlichkeiten in der Bun- desrepublik belastet hätten. Sprecher Ganz so einfach lief das allerdings nicht mehr. Letztlich musste der Runde Tisch übertölpelt werden, wobei mancher am Tisch wohl durchaus gewusst hat, was für ein Spiel da ablief. Historiker Klaus Baestlein: Take 13 Baestlein HVA-Akten (0:30) Bei der HVA hat man es nicht mal mehr gewagt, dem Runden Tisch die Frage vorzulegen, ob die Akten vernichtet werden sollen. Der Runde Tisch fasste durch seinen Ausschuss für Sicherheit, also, der dafür insbesondere tätig war, nur den Beschluss, dass die HVA umzieht und sich entsprechend büromäßig und perso- nell verkleinert, aber in dem ganzen Beschluss steht nichts über die Akten, und diesen Beschluss hat die HVA selber dann so legendiert, wie man das immer im Geheimdienst-Milieu sagt, also selber so ausgegeben, als sei es ein Vernich- tungsbeschluss für die Akten. Sprecher Für den Spionagechef Werner Grossmann gab es schon keine Obrigkeit mehr, der er sich noch zum Gehorsam verpflichtet fühlte. Es ging ihm darum, seinen Dienst, dessen Ansehen, und vor allem seine Leute zu schützen: Take 14 Grossmann Befehlsverweigerung Es gab auch einen Befehl, dass keinerlei Akten zu vernichten seien, und an die- sen Befehl haben wir uns nicht gehalten. Ich sage immer, es gibt einmal eine Sache, wo ich als Offizier den Befehlen nicht gefolgt bin - Befehlsverweigerung. Sprecher Das Tricksen der Stasi-Leute, das systematische Vertuschen der Vergangenheit, kam nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik manchen Mit- spielern auf der politischen Bühne durchaus recht. Denn mit der Volkskammer- wahl im März 1990 rückten die Parteien und Politiker aus dem Westen in die DDR ein und beeinflussten dort mehr und mehr das politische Geschehen. David Gill, Vorsitzender des Komitees zur Auflösung der Stasi, bekam es mit Abge- sandten aus dem Westen zu tun, die sich auch für den Umgang mit den Stasiak- ten interessierten. Take 15 David Gill Bonner (0:53) Im Frühjahr 1990 habe ich die Vertreter aus Bonn, ja wenn man's böse sagen will, als Ignoranten erlebt, die nur ihr eigenes Interesse hatten, die aus, ja aus der Bonner Perspektive sagten: Ja also erstens, wir wollen nicht, dass irgend- was über die alte Bundesrepublik hochkommt, zumal das ja alles illegal gesam- melte Daten waren, und es kann doch nicht sein, dass jetzt, weil die Stasi es nicht mehr gibt, plötzlich Staatsaffären entstehen aufgrund dieser Informatio- nen, und dass sie sich in keinster Weise, oder viele zumindest von denen, die ich da erlebt habe, in keinster Weise dafür interessiert haben, was eigentlich unsere Interessen waren als Ostdeutsche - sie wollten Ruhe haben. Sprecher Die Ängste im Westen, vor allem in der Bundesregierung, waren nicht unbe- gründet, sagt Klaus Bästlein. Take 16 Bästlein Kanzlerabhören (1:15) Was die Leute damals in der Bundesrepublik umgetrieben hat, ist, dass die Stasi natürlich unglaublich Telefonmitschnitte gemacht hat, und sie hat sich dabei natürlich auf den Apparat und auf die Anschlüsse konzentriert, die ihr wichtig erschienen. Und das ist die Bundesregierung gewesen, und man hatte ziemlich komplette Telefonmitschnitte beispielsweise des Bundeskanzlers Kohl, das war natürlich ein unglaubliches Erpressungspotential auch nach der Wende sozusa- gen. Also die Stasi-Generalität hatte natürlich immer noch den Zugriff auf diese Unterlagen und hätte damit die Parteispendenaffäre, aber allein auch das An- sehen des amtierenden Bundeskanzlers enorm schädigen können, denn das war nicht immer sehr höflich und sehr nett, was Herr Kohl beispielsweise einem Kreisvorsitzenden oder einem Ortsvereinsvorsitzenden der CDU gesagt hat, wenn der nicht nach seiner Pfeife tanzte. Sprecher Neben den Akten, die von der Hauptverwaltung Aufklärung immer noch unent- wegt vernichtet wurden, gab es viele Unterlagen anderer Abteilungen, vor allem in der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße. Dort begann eine Gruppe von Bürgerrechtlern mit einer ersten Aufarbeitung der Archive. Der Historiker Ste- fan Wolle war unter den ersten, die sich in dem unübersichtlichen Komplex zwi- schen Kilometern von Akten zurechtfinden mussten: Take 17 Stefan Wolle Schlüssel (0:26) Da liegt jetzt der Teufel im Detail. Dieser Zugang zu den Akten vollzog sich in Zusammenarbeit mit den dort arbeitenden Archivaren, also sprich: Stasi-Leuten. Anders hätte das überhaupt nicht funktioniert. Einer von diesen Stasi-Leuten sagte mir da mal im Gespräch: Wenn wir ganz gemein gewesen wären, hätten wir alle Schlüssel einfach auf einen Haufen geschmissen. Das hätte ein Jahr ge- dauert, alle diese Schlüssel wieder zu finden. Sprecher In der Normannenstraße saßen unter der so genannten Sicherheitspartnerschaft von Volkspolizei, Militärstaatsanwaltschaft und Bürgerrechtlern noch monate- lang vier Stasigeneräle und gaben täglich Anweisungen heraus. Die Aufarbei- tung der Stasi-Unterlagen bis in den Sommer 1990 beschreibt Klaus Bästlein so. Take 18 Bästlein Normannenstraße (1:19) Da am Haupteingang standen die Volkspolizei und Staatsanwälte, ein paar Stunden am Tag war da jemand anwesend. Ansonsten liefen die Stasi- Mitarbeiter weiter ein und aus, und es wurde vor allem natürlich in den Gebäu- den, in diesem Riesengebäudekomplex überall die Reißwölfe in Bewegung ge- setzt und die waren nach wenigen Tagen kaputt, die schmorten durch, und dann haben die angefangen, die Sachen zu zerreißen. Ein ganz großer Teil ist dann auf LKWs aus dem Gelände rausgefahren worden und ist anderswo bei ver- schiedenen Orten, zum Teil bei der NVA, zum Teil in alten Stasi-Objekten ver- brannt worden, verkollert worden. Und was wir heute noch haben an Plastiksä- cken, da sind zwar heute noch wichtige Unterlage drin, aber das ist nur ein Bruchteil vom, was man, und zwar systematisch vom Januar bis in den Juni 1990 hinein, systematisch vor Ort zerstört hat. Dazu waren extra 270 Leute in dem Auflösungskomitee festangestellt, und hinzu kamen noch mal bis zu 700 ABM-Kräfte sozusagen, die mit West-Devisen bezahlt wurden. Das waren fast alles alte Stasi-Mitarbeiter vom Komitee zur Auflösung, um Akten zu vernichten. Sprecher Bürgerrechtler schlugen zwar mehrmals Alarm, doch die subventionierte Akten- vernichtung wurde lange Zeit nicht gestoppt. Zu viele - auch in der neuen, frei gewählten DDR-Regierung - waren daran interessiert, die Stasiakten verschwin- den zu lassen. Und die Bundesregierung signalisierte von Anfang an, dass sie die Unterlagen der Stasi vernichten oder wenigstens jahrzehntelang wegschlie- ßen würde. Zu unberechenbar waren die politische Entwicklung in der DDR, das Verhalten der Volkskammer und die Pläne der Stasi-Generäle. Diese Gefahr musste man unter Kontrolle bekommen. Take 19 Bästlein Verhandlungen (1:11) Man hat das dadurch gemacht, dass man natürlich mit der Generalität gespro- chen hat. Das hat Eckehard Werthebach, damals der wichtigste Mann nach dem Minister im Innenministerium, jedenfalls unter Schäuble, der hat diese Gesprä- che geführt und hat natürlich der Stasi-Generalität gesagt, wenn ihr das macht, dann müsst ihr mit Konsequenzen rechnen. Die Stasi-Generalität hat umkehrt Forderungen an die Bundesregierung gestellt. Die wollten also eine Art Amnes- tie haben, also dass Straftaten, die verübt waren, nicht verfolgt wurden. Sie wollten 'ne Garantie haben für die wirtschaftliche Existenz, also Renten und so was. Und da war man auch bereit, 'ne Amnestie einzuräumen, man war auch bereit, sozusagen eine Art Grundsicherung, man hat damals noch ein bisschen abgestrichen von den Renten-, aber im Grunde genommen sind ja die Rentenbe- züge dieser Herrschaften heute viel besser, als sie jemals in der DDR gewesen wären, darüber kann man sich nicht ernsthaft beklagen. Und die Stasi- Generalität hatte wohl noch einen dritten Punkt im Gepäck, den sie auch gerne wollte, den sie allerdings nicht durchsetzen konnte, dass auch ihr Ansehen in der Öffentlichkeit nicht beschädigt würde. Das ist natürlich sehr deutlich seither geschehen, darüber sind sie auch böse, aber über die anderen Punkte können sie eigentlich nicht böse sein (Stimme bleibt oben). Sprecher HVA-Chef Werner Grossmann bestreitet, von solchen Verhandlungen zu wis- sen, allerdings äußert er sich heute so: Take 20 Grossmann bedauert (0:37) Wir waren also daran nicht interessiert, noch im Nachhinein, also jetzt große Dinge publik zu machen, also die Persönlichkeiten auch getroffen hätten. Heute sage ich, bedaure ich manches, weil ich nicht geglaubt habe, dass wir so diskri- miniert werden nach der Einheit Deutschlands, dass wir so verfolgt werden und so missachtet werden, ich hätte heute manches Dokument gerne noch bereit ge- habt, um entgegenzuwirken, dem was man uns antut, aber na gut, wir haben's gemacht, und es ist alles vernichtet worden. Sprecher Tatsächlich hatte die Bundesregierung Schwierigkeiten, ihren Teil der Abma- chung auch formal sicherzustellen. Ein Protokoll des Bundessicherheitsrats vom Juni 1990 ist - wie alle diese Protokolle - noch heute "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch". Das Papier trägt den umständlichen Titel: Zitatorin: Anlass, Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit einer Vereinbarung über Straffreiheit bei Straftaten des Landesverrats und geheimdienstlicher Tätigkeit. Sprecher Kern des Papiers ist der Vorschlag: Zitatorin: In die zweite Vertragsregelung mit der DDR wird eine Vereinbarung aufge- nommen mit dem Inhalt, dass die Vertragsparteien Straffreiheit gewähren für Personen, die für den Geheimdienst oder eine andere Regierungsstelle einer der Vertragsparteien tätig waren. Sprecher Diese Überlegungen der Spitzen von Ministerien, Sicherheits- und Justizorganen in der Bundesrepublik sollten in einen Gesetzentwurf gegossen werden, doch da kam die Demokratie ins Spiel: Als die SPD-Fraktion in der Volkskammer von diesem Plan erfuhr, legte sie sich quer, dem schloss sich die SPD-Fraktion im Bundestag an. Es folgten die Grünen und einige FDP-Abgeordnete. Die Pläne des Bundessicherheitsrats für ein Amnestiegesetz wurden still beerdigt. Der Umgang mit den Stasiakten brachte für einen kurzen Moment auch noch den Vereinigungsvertrag in Gefahr. Kurz vor der Unterzeichnung erfuhren die Abgeordneten der Volkskammer, dass die Verhandler ausgerechnet an diesem Punkt den ausdrücklichen Willen des Parlaments übergangen hatten. Die DDR- Parlamentarier reagierten sofort. Die Tagesschau berichtete am 30. August aus der Volkskammer: Take 21 Tagesschau Volkskammer (0:40) Dieser Beschluss, den die Volkskammer heute Nachmittag fast einstimmig fass- te, könnte, und das ist hier die Meinung von Abgeordneten fast aller Fraktionen, nach dem Streit um den Paragrafen 218 der neue Knackpunkt des Einigungsver- trags werden. Es geht darum, dass die Volkskammer erst am letzten Freitag ein Gesetz verabschiedet hat, wonach die kompletten Akten der Stasi in Sonder- archive der neuen DDR-Länder kommen sollten und jeder DDR-Bürger An- spruch auf Auskunft haben sollte. Unmittelbar danach stimmte jedoch in Bonn die DDR-Regierungsdelegation dem Vorschlag der Bundesregierung zu, die Ak- ten zunächst dem Präsidenten des Koblenzer Bundesarchivs zu unterstellen und damit den Zugang zu den Akten erheblich zu beschränken. Sprecher Vor allem ging die Furcht um, dass eine dreißigjährige Sperrfrist über die Akten verhängt wird. Nach einer Welle von Protesten wurde ein Kompromiss gefun- den, der die Ratifizierung des Einigungsvertrags sicherte: Die Akten bleiben auf dem Gebiet der neuen Länder, ein Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen wird eingerichtet, und ein noch zu beratendes Gesetz für den Umgang damit wird verabschiedet werden. Dieses Gesetz musste den Informationsanspruch der Stasiopfer, von Forschern und Medien in Einklang bringen mit dem Schutz der Privatsphäre Dritter und vielleicht auch mit staatlichen Geheimhaltungsansprüchen. Das war etwas Neu- es, denn noch nie ist ein Geheimdienst so offengelegt worden. David Gill, seit vielen Jahren enger Mitarbeiter von Joachim Gauck, lobt, wie letztlich die gegensätzlichen Ansprüche austariert wurden: Take 22 Gill Unterlagengesetz Also, ich sehe bei dem Stasiunterlagengesetz, was wir dann ab dem 1. Januar 92 haben, gar nicht so viele Kompromisse, ich finde schon, dass die bemerkenswer- te Öffnung eines so großen Archivguts für alle Möglichen, von den persönlich Betroffenen bis hin zu Forschung und auch den Medien, relativ gut gelungen ist. Also das ist meine innere Überzeugung. Und das ging ja deutlich weiter noch als das, was die Volkskammer verabschiedet hat. Sprecher Der Historiker Klaus Bästlein beim Berliner Landesbeauftragten für die Stasi- unterlagen sieht den Vergleich zum Volkskammergesetz anders: Take 23 Bästlein Unterlagengesetz (0:31) Das Stasiunterlagengesetz ist ein ganz anderes Gesetz. Das kommt aus einer Tradition der Geheimdienstgesetze, das ist eher ein Kontrollgesetz und kein Ge- setz zur Offenlegung. Es sind zwar Offenlegungsbestimmungen enthalten, aber eben nur nach den Maximen von Geheimdiensten. Das heißt, jede Seite, die die Bundesbehörde vorlegt, wird vorher genau analysiert und darauf geprüft, ob da keine Sachen drinstehen, die für die Bundesrepublik Deutschland irgendwie ne- gativ sein könnten, also sozusagen eine komplette Staatskontrolle. Mit dieser Krücke von Gesetz arbeiten wir bis heute. Sprecher Im Alltag behindert allerdings weniger der Schutz des Staates die Akteneinsicht, sondern viel mehr der Schutz der Privatsphäre unbeteiligter Dritter. Da wird manchmal derart exzessiv geschwärzt, dass die Akten völlig unbrauchbar wer- den. Zudem sind die Eingriffe oft sinnlos und von wenig Sachkenntnis getragen. Darüber ärgern sich Forscher genauso wie Journalisten. Journalisten haben außerdem das Problem, dass die Bearbeitung Seite für Seite oft unerträglich lan- ge dauert. Der Bundesbeauftragte Roland Jahn sieht die Probleme vor allem im Missverhältnis von Arbeitsanfall und Ausstattung der Behörde. Take 25 Jahn Arbeitsaufwand (0:52) Nun hat keiner damit gerechnet, dass bis zum Jahre 2013 jetzt immer noch über 5.000 Bürgeranträge jeden Monat gestellt werden, dass Journalistenanträge auch dieses Jahr wieder 1.300 waren, und da geht's von einem Antrag für eine Tageszeitung mit wenigen Blatt bis zu Anträgen, wo große Forschungsprojekte gemacht werden, wo zehntausende von Blättern vorbereitet werden müssen für die Aktenherausgabe. Das heißt, es ist ein Missverhältnis zwischen Personal und Anträgen, die gestellt werden und bearbeitet werden müssen. Sprecher Roland Jahn hat sich nach seinem Amtsantritt vor allem darum gekümmert, dass ehemalige Stasimitarbeiter ausschieden. Doch die Behörde leidet seit ihrer Gründung auch unter einem anderen Personalproblem. Damals wurden viele Mitarbeiter aus aufgelösten DDR-Einrichtungen wie dem Bau- und dem Innen- ministerium einfach in das neue Amt abgeschoben, auch Leute ohne Erfahrung in Archivarbeit. Mancher wartet bis heute seine Pensionierung ab, im besten Fall ersetzt Engagement die Fachkenntnis. Historiker Klaus Bästlein beschreibt den Kontrast zwischen fachgerechter Archivarbeit und der Aktenverwaltung in der Stasi-Unterlagenbehörde so: Take 26 Bästlein Archivkultur (0:56) Wenn das Bundesarchiv so arbeiten würde wie die Stasiunterlagenbehörde, könnte es morgen zumachen, weil - man würde nie mehr eine Akte zu Gesicht kriegen. Die würden alle nur noch schwärzen. Und die Akten müssen auch von entsprechend kompetenten Leuten vorgelegt werden, und da ist natürlich das Problem. Das geht jetzt nicht mehr. Die Verzeichnung ist nicht gut gelaufen bis- her im Bereich der Staatssicherheit. Man hat ja noch nicht mal festgestellt, was alles fehlt. Das ist ja eigentlich das erste, was man machen muss, und das Pro- blem ist, dass es bis heute keine konsistenten Findbücher gibt, wie das Bundes- archiv sie heute natürlich auch elektronisch anbietet. Man kann die Akten zu- hause schon auswählen, die dann ins Archiv nur kommen, man bekommt sie vorgelegt. Bei den Stasiunterlagen stellt man einen Antrag, man weiß gar nicht, welche Akten einem ausgewählt werden, die werden einem auf den Tisch gelegt. Es kann auch sein, dass da ganz wichtige Sachen fehlen, das kann Ihnen im Bundesarchiv nie passieren, weil - Sie können immer gucken, welche Akten möglicherweise fehlen. Das steht dann im Verzeichnis: die und die Überliefe- rungsgeschichte, das und das fehlt. Das finden Sie alles da nicht. Sprecher Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen ist einerseits Pro- dukt eines revolutionären Umbruchs, andererseits Ergebnis des Versuchs, die Kontrolle nicht zu verlieren. Sind mächtige Interessen tangiert, reagiert die Staatsgewalt. Beispiel: USA, NSA. Wir hätten viel früher etwas über die Aktivi- täten der NSA in Deutschland wissen können, denn ein Maulwurf hatte damals der HVA umfangreiche Unterlagen geliefert, und die blieben erhalten. Doch dann forderten die USA diese Unterlagen an, und als der Bundesbeauftragte zö- gerte, sie herauszugeben, schickte Innenminister Schäuble den Bundesgrenz- schutz, um diese Forderung durchzusetzen. Muss es die Stasiunterlagenbehörde weiter geben? Über die Frage entscheidet der Bundestag. Steht eine revolutionäre Errungenschaft der DDR- Bürgerrechtsbewegung auf dem Spiel? Die Behörde kümmert sich heute auch um Aufgaben, die andere Einrichtungen übernehmen könnten: Forschung und politische Bildung. Ihre Kernaufgabe ist und bleibt die Verwaltung der Stasi- Akten und der Zugang für die Öffentlichkeit. Wenn das Bundesarchiv diese Aufgabe verlässlicher erfüllen kann als die Stasiunterlagenbehörde, stellt sich ernsthaft die Frage nach der Zukunft jener Institution, die aus dem Ringen zwi- schen Bürgerbewegung und Bundesregierung hervorgegangen ist. -4 -