DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Antigone oder Nachhilfeunterricht für eine Deutschlehrerin Von Ricarda Bethke B ( Autorin ) Zitatorin 1 ( Eike ) Zitatorin 2 ( Antigone ) Zitatorin 3 ( Ismene ) Zitatorin 4 ( Christa Schumann ) Zitator 1 ( Kreon ) Zitator 2 ( Pressetexte u.ä. ) Zitator 3 ( Zeugnistexte u.ä. ) Zitator 4 ( Winfried Baumann ) Chor REGIE: Fabian von Freier Ursendung . Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 5. März 2010, 20:10 ? 21:00 Uhr I. B: knüllt Papier. Umziehen, kleiner, weniger Platz? ?Muss jetzt eben alles weg. Diese Berge von Erinnerungen auf Papier. ?Aktivist der sozialistischen Arbeit?.1982 Eine Pestalozzi Medaille in Silber - Deutsche Demokratische Republik. Für mich? Wann war denn das? Scharfes Profil, der Johann Heinrich Pestalozzi. Silber? Nein. Vergilbte Abiturzeitungen, Klassenfotos, alles weg??, und die Briefe? ZITATORIN 1 (Brief): Tübingen, März 1990 Liebe Frau B. Als eine Ihrer vielen Schülerinnen schreibe ich Ihnen. Ich möchte versuchen, mein Gesicht in ihren Gedanken auftauchen zu lassen und merke, wie schwierig das ist. Vielleicht erinnern Sie sich an unseren Theaterbesuch in Schwerin in der 12. Klasse. Sie haben mein Interesse an der Antike geweckt. Zum Geburtstag schenkten Sie mir ein großes Blatt, handschriftlich, eine Übersicht über die antiken Götter, die ich heute noch habe und sogar manchmal zu Rate ziehe. Damals war ich über diese persönliche Zuwendung sprachlos und sehr berührt. Bis vor kurzem hätte ich nicht gewagt, an Sie zu schreiben. Seit zwei Jahren bin ich in Heidelberg und studiere Medizin, wie ich es in Berlin vorhatte? und nun habe ich an Sie geschrieben, weil ich dachte,? wie das alles so gelaufen ist, wie es hätte nicht sein müssen, dass man sich eigentlich niemals gesagt hat, was man denkt, dass man nie wirklich etwas miteinander zu tun gehabt hat, also jedenfalls von meiner Seite aus, war das so. Ich habe jetzt das Gefühl, das wäre alles anders gelaufen, wenn man anders miteinander geredet hätte, also Sie und ich, wir hätten uns vielleicht viel besser verstanden. B: Eike Schumann. Das ist ihr erster Brief. Den heb ich auf. // Eike Schumann? Abitur 86? Ich war ihre Lehrerin, 11. 12. Klasse. Literatur nach vorgeschriebenem Lehrplan mit ideologischer Tendenz. Den Plan habe ich nicht so genau eingehalten, dass da Ideologie sei, habe ich nie verleugnet. Brecht, Seghers, Majakowski, Aitmatow, auch Böll und Lenz, Hochhuth?dann Antigone, Faust, Galilei vor dem Abitur, ?lange her. Je älter ich wurde, um so mehr lernte ich von denen, die früher meine Schüler waren. Manche von ihnen wurden Freunde, einige sind es noch heute. Und dann gab es eine Schülerin, die erst nach 1990 meine Freundschaft suchte, Eike Schumann. Wie war sie? Sie trug oft solche selbst gesteppten weißen Jacken, weiße Hosen. Wie eine antike Statue stand sie zwischen den anderen, verschlossen. Sie saß stumm vor mir, eine mokante Schönheit. Sie schien eines von den Mädchen zu sein, die mich kritisch musterten, meine Schuhe, mein Haar. Wenn ich das merkte, dann stieg in mir so ein Groll auf, und es entstand ein Graben zwischen uns, der scheinbar nicht zu überwinden war. ?So eine ist das also?, dachte ich anfangs, eine, die sowieso kein Vertrauen zu mir hat und also schweigt, die alles fleißig lernt, aber eigentlich schweigt. Ich finde in den alten Papieren Durchschläge von Zeugnis - Beurteilung, die mir der Klassenlehrer einst zum Nachlesen gab. ZITATOR 3 ( Zeugnisbeurteilung) ?Eike ist eine ruhig und ausgeglichen wirkende Schülerin? B: Ja, -ruhig wirkende. aber war sie das - wirklich? Konnte sie ausgeglichen und ruhig sein? Hatte sie den Schrecken, der sie als 10 jähriges Kind traf, mit 18 Jahren so tief in sich versenkt, dass sie ruhig war? ZITATOR 3 ( Zeugnisbeurteilung ) Gründliche theoretische Kenntnisse wies Eike im FDJ Studienjahr nach. Sie ist befähigt, diese auf aktuelle Tagesthemen anzuwenden?. B: Das habe ich nicht geschrieben, aber auf dem Zeugnis habe ich es mit unterschrieben. Ich wusste wenig von ihr, nichts von ihrer Mutter. Ich wusste auch später nicht, dass Eike bald nach dem Abitur das Land verlassen hat. Sie saß im Unterricht meist ganz unbeeindruckt vor mir, und oft habe ich gesagt: - Eike, was meinen Sie dazu?- Es kam keine Antwort auf diese Fragen. Für mich, für den Umgang der Schüler mit Literatur? da brauchte ich Mitfühlen, Mitsprechen, Widersprechen. Ich versuchte es immer wieder und wartete vergeblich auf eine Reaktion. . ZITATORIN 2 (Antigone): Was wartest du? In deinen Reden find ich nichts, gar nichts, was mir gefällt, mir je gefallen kann. Und dich stößt, was von mir kommt, ab, ? B: Dann behandelten wir Antigone von Sophokles und ihren Konflikt mit dem Tyrannen Kreon. Ich beauftragte Eike mit einem Referat zur Funktion des antiken Theaters. Sie machte das gut und schien auch sonst plötzlich aufmerksamer zu sein. Damals gab es ein Antikenprojekt am Schweriner Theater. Ich bin mit der Klasse hingefahren. Nachts auf der Rückreise nach Berlin saß Eike im Zug zwischen den anderen, redete lebhaft über die Inszenierung und das Publikum, sah schön aus in ihrer weißen Jacke, hatte heiße Wangen und glänzende Augen, ihre Stimme war hoch und hell. Es hatte ihr sehr gefallen. Chor nach Hölderlin Unkriegerisch spielt da nämlich die göttliche Schönheit mit. B: Von da an habe ich gespürt, dass Eike nun dem Unterricht mit Spannung folgte. Beim Lesen mit verteilten Rollen war sie die Ismene. ZITATORIN 3 (Ismene): Gleichgültig ist mir?s gar nicht, doch der Bürgerschaft die Stirn zu bieten, find ich nicht die Kraft in mir, Ismene: Sprich vorher wenigstens zu keinem von der Tat! Bedecke sie mit Schweigen! Dabei helf? ich dir. ZITATORIN 2 (Antigone): O, nicht doch, sag?s. Viel widerwärt?ger wirst du, wenn du schweigst und gibst es nicht bekannt ganz öffentlich! B: Dass sie sich Antigones Aufforderung zur Offenheit damals schon zu Herzen nahm, glaube ich nicht. PAUSE B: Eines Tages, Jahre nach dem Abitur stand Eike vor meiner Tür, keine weiße Jacke, sondern eine schwarze diesmal. Sie fragte, warum ich nicht beim Begräbnis gewesen sei, die ganze Klasse wäre gekommen, viele von den Kollegen auch. Ich wusste nichts: Was für ein Begräbnis? -Peter-, sagte sie stockend. Peter studierte Fotografie in Halle, er war zu den großen Demos in Sachsen auf die Dächer gestiegen und hatte Fotos gemacht, besondere Blickwinkel von oben. Aber die Dächer in der verkommenen Hallenser Altstadt waren noch bedeckt mit einer alles zusammenziehenden grau-rußigen Schicht. Der Dreck von Jahrzehnten verwischte die Unterschiede zwischen noch fest und lange schon brüchig. Peter trat auf das unkenntlich gewordene Glasdach über einem vergessenen Lichtschacht. Er sauste in die Tiefe, sechs Stockwerke hinunter. Eike sagte leise: ?Er war derjenige unter uns, der das Leben am meisten geliebt hat?, und sie sagte noch. ?Er hat es ausprobiert, hat das Leben für das Leben riskiert, vielleicht muss man das, er war so? ?. Wir schwiegen beide. Damals ungefähr begann Eikes Nachhilfeunterricht für mich, das heißt, ich lernte nun etwas über das Land, in dem ich gelebt und gearbeitet hatte, was ich wohl nicht so genau wissen wollte. Sie suchte plötzlich mein Vertrauen, und so fragte ich sie, ob sie in Deutsch damals so schweigsam war, weil sie mich, die Lehrerin, als Teil einer ihr feindlichen Staatsmacht empfunden habe. Ja, sie sei schon sehr vorsichtig gewesen, meinte sie. Aber , ein Feind, nein, das denn doch nicht, schon einfach dadurch, dass viele in der Klasse mich nicht ernst genug genommen hätten, mich auch so für?n bisschen für einen Narren ansahen, denn ich hätte eben so Ideale und Ideen gehabt, die in ihren Augen nicht zu verwirklichen gewesen wären, und mit denen man im Leben sowieso nichts erreichen konnte?, so hätten sie damals gedacht. ZITATORIN 3 (Ismene): Wirst du?s denn können, du begehrst Unmögliches. ZITATORIN 2 (Antigone): Erst wenn die Kräfte mir versagen, geb ich?s auf ZITATORIN 3 (Ismene): Von vornherein jagt man Unmöglichem nicht nach. Pause B: Aber das mit der Antigone, sagte Eike zu mir, das wäre es dann doch gewesen, wo sie dachte, das interessiere sie. Alles andere kam ihr vor wie ein Aufguss des immer gleichen. Antigone aber und das Antikenprojekt in Schwerin, das hätte so viel mit wirklichen Konflikten und mit dem Staat zu tun gehabt. Es sei in der Schule nach einer eigenen Meinung zu wenig gefragt worden und schon gar nicht, wenn dadurch irgendein Konflikt heraufbeschworen wurde, alles sei sowieso schon vorher fertig und klar gewesen, was raus kommen musste, und da habe man im Unterricht darauf hingesteuert, ohne vom Kurs abzuweichen. ZITATOR 1 (Kreon): ?Weiß ich doch, nur so allein bringt uns das Staatsschiff heil hindurch auf rechten Kurs,? B: Also die Schule, stellte Eike fest, so fleißig sie gelernt habe, auch für das FDJ Studienjahr, denn sie wollte ja Medizin studieren. Die Schule habe sie nicht in sehr angenehmer Erinnerung. Ich aber hätte nicht nachgelassen, ich hätte sie immer wieder gefragt. Zuerst habe sie gedacht, dass ich schon registriert hätte, von da kommt nichts, sie habe aber gefühlt, dass ich es ernst mit ihr meinte. Es sei eben nicht gegangen, schon dadurch nicht, dass ich, die Literatur - Lehrerin, von den anderen nicht ernst genommen wurde. Es seien ja nur wenige in der Klasse gewesen, die sich überhaupt über irgendetwas Gedanken machten, den meisten wäre das alles absolut fremd gewesen, politisch und in jeder Hinsicht. ZITATORIN 2 (Antigone nach Hölderlin): ...nun auf die Närrin gekommen, ?War ich dem Narren Kreon Narrheit ein wenig schuldig. B: Ach, dachte ich, ich muss doch voller Illusionen über meine Wirkungen gewesen sein. War das also eine Farce, die Mühe meines Unterrichtens all die Jahre lang? Im Bauch der Farce liegt die Tragödie, sagt der Dichter. Wie wichtig war den Schülern die Antigone, die Tragödie der Tochter des Ödipus, die Geschichte vom Untergang in den Gefahren eines Bürgerkrieges? Antigones Brüder erschlagen sich im Kampf um die Macht gegenseitig. Der, der Theben angriff, weil er vom Erbrecht ausgeschlossen wurde, soll nach dem Gebot des neuen Königs Kreon kein Grab bekommen. Zur Abschreckung für alle im Staat soll er von Aasgeiern zerrissen, geschändet und vergessen sein. Antigone, die Schwester des Toten, trotzt diesem Gebot. ZITATORIN 2 (Antigone): wenn dem eignen Bruder ich das Grab bereite, das würden alle hier gutheißen, schlösse ihnen nicht die Furcht den Mund. ZITATOR 1 (Kreon): Du bist die einz?ge in ganz Theben, die so denkt: ZITATORIN 2(Antigone): Sie denken?s auch, vor dir nur unterdrücken sie?s ZITATOR 1 (Kreon): der Feind wird nie, auch nicht im Tod zum lieben Freund ZITATORIN 2 (Antigone): Mitfeindin war ich nie, Mitliebende seit je. PAUSE B: Eike wählte Antigone als Aufsatzthema im Abitur. ZITATORIN 1 (aus Eikes Aufsatz): Kreon, der sich in seiner Hybris mit dem Staat verwechselt, bestraft Antigone. Sie fühlt sich allein, denn der Chor kann seine Zustimmung nicht öffentlich bezeugen. Nur durch das Schweigen und Dulden des Volkes ist es möglich, eine solche Herrschaft aufrecht zu erhalten?. II. B: Ich hatte bei Eikes erstem Besuch nicht gleich gefragt, warum sie nach Heidelberg zu ihrer Mutter gegangen war, obwohl sie im Osten einen Studienplatz für Medizin hatte. Sie hat es mir später erzählt, sie brachte auch Artikel aus dem ?Spiegel? und der ?Quick? mit, die über eine der seltsamsten Spionageaffären erschienen waren. Die Grenze war offen, die Dokumente der Geheimdienste waren nicht mehr so geheim. Ein Reporter der ?Quick? hatte Eikes Mutter selbst gesprochen. ZITATOR 2 ( Quick, aus einer Reportage von Harvey T Rowe) Die Fachärztin Dr. Christa Karin Schumann 44, hat soeben ihren Dienst in der Poliklinik Frederic Joliot Curie in der Ostberliner Grünstraße beendet, steigt in ihren weißen VW Golf, um zu ihrer Wohnung im Hochhaus in der Leipziger Straße 46 zu fahren. Sie hat die Wedekindstraße erreicht, als ein Wage sie überholt, ihr den Weg abschneidet und sie zum Halten zwingt. Im selben Augenblick hält unmittelbar hinter ihr ein zweiter Wagen. B: Eikes Mutter war am 5. Juni 1979 vom Staatssicherheitsdienst verhaftete worden und erst 1987 wieder frei gekommen. Sie lebte danach in Heidelberg und holte die Kinder bald nach, das erfuhr ich nun. Das neu gewonnene Vertrauen einer ehemaligen Schülerin freute mich, aber Eike versicherte mir, sie hätte in meinem Unterricht damals über Antigones Konflikt mit der Staatsgewalt nicht gleich an sich oder an ihre Mutter gedacht, ?Wenn, dann nur unbewusst?, so sagte sie mehrmals und mit Bestimmtheit. Sie hätte sich damals verboten, über ihre Mutter nachzudenken. Chor: Die Glücklichen, deren Leben die Not nicht streifte! Denn wessen Haus die Götter erbeben ließen, dem kommt Unheil in Fülle und trifft ihm Kind und Enkel. B: Eike lebte von 1979 bis 1987 bei ihrem Vater, nur die Großeltern besuchten die Mutter im Gefängnis, die Kinder nicht. PAUSE ZITATORIN 2 (Antigone): ..so leid ich und bekenne mich als Frevlerin, Doch freveln d i e hier- wehe, wenn Schlimmeres, als was sie mir zu Unrecht antun, i h n e n droht. B: Von Eikes Mutter wusste ich 1986 also nichts. Eine solche Entschuldigung, man habe nichts gewusst, ist eine verdächtige Entschuldigung. Einer Lehrerin kann eine solche Entschuldigung nicht abgenommen werden. Wie soll sie glaubhaft sein, wenn sie nicht immer nachgefragt und hingehört hat. Ich aber verhielt mich wohl wie ein Fluchttier, das schon wegläuft, ehe es die Gefahr überhaupt genau erkennt. Ich kannte die Eltern meiner Schüler nicht gut, schlimmer, ich wollte sie oft gar nicht kennen lernen. Ich fürchtete die obligatorischen Elternbesuche in den privaten Wohnungen. Ich fürchtete mich vor den Verstellungen, die ich da auslösen könnte, und ich fürchtete, dass ich mich verstellen müsste. Und so wusste ich nichts, nichts von dem, was sich alles später so genau nachlesen ließ. Eikes Mutter war wegen Spionage und Vorbereitung zur Republikflucht im Zusammenwirken mit Winfried Baumann, alias Zakrzowski, eines ehemaligen hohen Offiziers des Nachrichtendienstes der DDR, zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. PAUSE ZITATOR 3 ( aus ? Der Schattenkrieger? von Schmidt Eenboom, Kapitel 8, S 181, 182) Winfried Baumann macht im Sommer 1977 die Bekanntschaft der HNO Ärztin Christa Karin Schumann. Im September 1977 eröffnet er ihr die Chance, gemeinsam mit den Kindern in den Westen zu kommen. Als ehemaliger Geheimdienstoffizier wisse er genug, um ein Interesse westlicher Geheimdienste zu wecken. Christa Schumann weiht ihren in Heidelberg lebenden Bruder ein. Er soll Kontakt zum BND aufnehmen? Über den Agentenfunk sendet Pullach Fragen nach Berlin. ?Da dem BND nicht bewusst ist, dass er es mit einem seit acht Jahren außer Dienst gestellten Alkoholiker zu tun hat, übermittelt er Beschaffungsaufträge. B Sicher, erklärte mir Eike, ihre Mutter hätte den gefährdeten, von Geheimnissen umwitterten Mann im Range eines Fregattenkapitän wirklich geliebt, aber mehr noch betonte sie die große Entschlossenheit ihrer Mutter, das Wagnis eines Spionagedienstes für den BND einzugehen, das sie so teuer bezahlen musste. Freiheit, der Begriff fiel in unseren Gesprächen über Eikes Mutter ständig. Sie habe immer gesagt, ? Freiheit, das ist das größte Gut des Menschen, die Entscheidungsfreiheit des einzelnen, und sie habe auch gesagt. ?Ich mach es auch für meine Kinder, egal, was es kostet.? Was sie gedacht und getan hat, das konnte Frau Schumann sicher ihren beiden Kindern erst nach deren Ankunft in Heidelberg erklären, denn 1979 waren die noch zu klein. ZITATOR 2 (Quick) Dr. Christa Karin Schumann weiß bis heute nicht, wo die Kinder in jenen ersten zwei Wochen nach ihrer Verhaftung festgehalten wurden. ?Es muss für sie sehr schlimm gewesen sein. Sie wollen noch immer nicht darüber reden,? sagt sie. B: Eike war , als ihre Mutter verhaftet wurde, 11 Jahre alt, ihr Bruder 10. Sie sprach mit mir über diese ersten Wochen. Sie habe es lange verdrängt, es sei einfach zu heftig gewesen, als dass sie das als Kind hätte verkraften können. Die Kinder wurden aus der Wohnung weggefahren und in ein Haus gebracht bei Nacht und Nebel. Sie haben nie gewusst, wo sie sind, es war kein Heim ,eher ein Einfamilienhaus, ein Paar mit schon erwachsenen Kindern, eine Familie, die für solche Fälle vorgesehen war. Nach drei Wochen seien sie zu ihrem Vater gekommen, der habe nicht mit ihnen darüber geredet, und sie hätten beide auch nie mehr darüber gesprochen, auch mit ihrer Mutter nicht. III. Chor aus der Antigone, drei Übersetzungsvarianten: 1.Vieles Gewaltige lebt, nichts ist gewaltiger als der Mensch? 2. Schrecken bereitet vieles, nichts tieferen Schrecken als der Mensch 3. Ungeheuer ist viel, nichts ungeheurer als der Mensch! B: Ich hatte Schüler aufgefordert, sich für eine der drei Übersetzungen der Anfangszeile des Chorliedes zu entscheiden. Eike wählte ??, nichts ist ungeheurer als der Mensch?, das habe diese doppelte Bedeutung: groß und gewaltig und zugleich schrecklich, erinnerte sie sich, als wir uns wieder trafen. Und wir bemerkten beide, wie heute ?ungeheuer? meist lobend gebraucht wird. ?Ungeheuerlich? aber bedeutet ganz unfassbar und schlimm. PAUSE ZITATOR 2 ( Der Spiegel, Nr. 47/1992 S. 133, Autorin: Joachim Preuß und Georg Maskow) Als Winfried Baumann kurz nach seinem 49. Geburtstag verhaftet wird, hat er 18 860 Mark Schulden und ein angeschlagenes Herz?Er ist arbeitslos und dem Alkohol verfallen. Die Frau, mit der er das neue Leben beginnen wollte, hat er mit ins Unglück gerissen. Baumann ist gescheitert, ein Wrack, und er ist viel zu intelligent, um das nicht zu wissen. B: Als nicht ganz geheuer war dem Schulkind Eike schon jener Mann erschienen, den ihre Mutter mit in die Wohnung brachte, nachdem der Vater ausgezogen war. ?Ich merkte, da stimmt irgendetwas nicht,? sagte sie zu mir. Er brachte immer Geschenke mit, hatte immer Westgeld, das hat die Kinder schon interessiert. Aber Eike hat er auch abgestoßen, schon vom Äußeren her. Einmal musste sie ihn sogar aus einer Kneipe holen, wo er saß, schwadronierte und trank. Am meisten scheute das Kind zurück, wenn der betrunkene Baumann unberechenbar wurde, wenn er seine miesen und launischen Zeiten hatte, sich aufgab und abhängig war. Dann aber wäre er auch wieder ganz freundlich und aufmerksam gewesen und hätte sich liebevoll um andere Menschen gekümmert. Alles in allem habe sie damals schon gefühlt, dass Baumann eher ein Pflegefall und eine Belastung für ihre Mutter war. Und manchmal habe sie ihn deswegen gehasst und gar nicht verstanden , wie ihre Mutter diesen Mann achten und lieben konnte und habe das auch nicht recht glauben mögen. Kinder, denke ich, wollen die geschiedene Mutter erst einmal ganz für sich allein haben. Hat sie sich nicht scheiden lassen, damit mehr Harmonie und Frieden sei? Aber ein Ersatzvater saß da im Wohnzimmer, rauchte und trank, sah bis tief in die Nacht alle Nachrichten und Reportagen Ost und West. Er hat alles laut belehrend kommentiert, hat seiner Christel und ihren Kindern als ein Alleskönner und alles Wissender mit Leidenschaft und Penetranz die Welt erklärt, um dann wieder tagelang mürrisch zu schweigen oder einfach zu verschwinden. So ein Bild gewann ich von Winfried Baumann durch Eikes Erzählungen. ZITATORIN 4 ( Frau Schumann im Interview der Quick ) ?Er litt häufig an Depressionen und machte oft einen gehetzten, verfolgten Eindruck auf mich. Ich habe ihn wohl hundertmal gefragt, für wen arbeitest du eigentlich? Aber er wich immer aus.? B: Seit ich nachlas, frage ich mich, was sie vielleicht nicht wissen wollte oder sollte. Winfried Baumann, alias Zakrzowski, war 1930 in Schlesien geboren, auch Frau Schumann kam aus Schlesien. Die beiden waren sich sofort sympathisch. Es sei so etwas wie die große Liebe gewesen, sagte sie. Baumann hatte in der DDR eine beeindruckende Karriere gemacht, aber die war 1977 lange vorbei. ZITATOR 3 ( aus Eenboom, der Schattenkrieger, S 180 ) Die Halbwaise Zakrzowski lernte zunächst, als Mechaniker Schreibmaschinen zu reparieren. Dann meldete er sich als 22 Jähriger freiwillig zur seemännischen Ausbildung??dem jungen Marineoffizier, inzwischen Mitglied der SED. vertraute man die Leitung des Hauses der Offiziere in Stralsund an. Er heiratet die Schwägerin des Chefs der Volksmarine Waldemar Verner. Nicht erst die Zusammenarbeit mit den russischen Freunden, wie später behauptet wird, hat ihn zum Alkohol gebracht, sondern schon die Arbeit in diesem NVA Kasino. ?1956 wird er, nach Berlin zum Militärnachrichtendienst versetzt und steigt auf zum Fregattenkapitän. Doch seine dienstliche Karriere kollidiert immer wieder mit dem Alkohol. Disziplinarische Abmahnungen sind die Folge. ? ZITATOR 2 ( Der Spiegel Nr. 46 1992 S 125 ) In seinen Gesprächen mit den russischen Offizieren entwirft Zakrzowski die Idee einer kräftigen, konkurrenzfähigen DDR, aus Ostpreußen, Pommern und Oberschlesien, aus den DDR und ? den früheren deutschen Ostgebieten? sollte ein starker deutscher sozialistischer Staat werden? B: Ich würde an solchen Wodka-Hirngespinsten zweifeln, die Baumann noch bei seinen Verhören verteidigte, wenn ich nicht selber einst von nüchternen Funktionären solche Überlegungen zu einer vergrößerten DDR im Zusammenhang mit der Kritik an den polnischen Entwicklungen von 1980 mit Schrecken vernommen hätte. Die beiden Autoren des Spiegel, J. Preuß und G. Mascolo, deuten das Leben Winfried Baumanns , seinen Aufstieg und seinen Fall, fast wie ein Gleichnis für den Aufstieg und den Niedergang des ostdeutschen Staates. Der begabte junge NVA - Offizier hatte ein Zusatzstudium als Journalist mit ?sehr gut? abgeschlossen, seine Diplomarbeit hatte das Thema: ZITATOR 4 Die Kriegsdoktrin der BRD in der Presse, ein Vergleich zwischen ?Der Spiegel? und ?Deutsche National und Soldaten Zeitung? B: Spiegel-Autoren analysieren 1992 den DDR-Spiegel - Kritiker, denke ich. Das ist so etwas wie: die Faust aufs Auge der Geschichte. IV. B: Wegen seiner Alkoholexzesse, wegen des Schwadronierens mit seinen russischen Freunden und wegen noch peinlicherer Vergehen war Winfried Zakrzowski bei seinen Genossen längst in Ungnade gefallen, Ohne Rückhalt in der Dienststelle und fallengelassen von seiner Frau, unternimmt er 1970 einen Selbstmordversuch. Er ist in Haft gewesen und aus den Sicherheitsdiensten entlassen worden. Neue Tätigkeiten in der ? Liga für Völkerfreundschaft? oder als Journalist bei der Zeitung, ?Tribüne?, gab er bald wieder auf. Er heißt jetzt Baumann, nach seiner zweiten Frau. In den Augen seiner früheren Freunde galt er als abgestürzt. Dennoch hatte er noch viele alte Verbindungen, die ihm halfen, für seine neue Liebste, Christel, manche Wunder zu vollbringen. Eike hat so etwas als Kind erlebt. Das Auto der Familie hatte nach der Scheidung der Vater bekommen, ein neues Auto war sehr schwer zu bekommen, es fehlte Frau Schumann sehr. Eines Tages stand ein weißer Golf unten vor ihrer Tür, überglücklich war sie und voller Bewunderung für Baumann, den scheinbaren Alleskönner. Das Paar begann mit den Vorbreitungen der Flucht. Baumann versprach nicht mehr zu trinken im neuen Leben und im andern Land. Die eigentliche Arbeit erledigte meist sie, die Verbindung zum BND, Geheimbriefe, Deckadressen, Funkkontakte. ZITATOR 3 ( aus: Der Schattenkrieger) Bevor er auf die Bedingungen seines frischgebackenen Agenten zur Ausschleusung eingeht, will der BND unbedingt als Zeichen des guten Willens und der Zuverlässigkeit der Informationen einen Beweis der Ehrlichkeit sehen. In einem in Geheimschrift verfassten Brief an eine Münchner Deckadresse verrät Baumann am 29. März 1979 die ersten drei von insgesamt acht DDR Spionen in der Bundesrepublik. Unter anderem den Obersten Siegfried Petrelli?.Beim Versuch des Zugriffs auf diese DDR Spione in der Bundesrepublik gibt es 1979 die erste große Panne im Fall Baumann. B: Baumanns Wissen aus Geheimakten des Jahres 1958 war alt. Der BND hat später einen der Genannten, den Oberst Petrelli, festgenommen, drei andere konnten sich der Verhaftung entziehen. Keiner der acht DDR Spione in der Bundesrepublik, die Baumann insgesamt nannte, wurde je wirklich verurteilt. Die Ergebnisse entsprachen dem Aufwand nicht. Ich erschrak, als ich einige Hintergründe des Spionagefalles begriff. Überzeugungen spielten kaum eine Rolle, Doppelagenten waren normal. Geldgewinn und Schuldenlasten, Erpressungen, heimliche Liebesbeziehungen bestimmten das Handeln. Was war der Antrieb Winfried Baumanns, BND- Agent zu werden? Überdruss, Geltungsdrang, die Flucht aus einem verpfuschten Leben? Oder war es eine Rest - Sehnsucht nach großen Aufgaben, Freiheit, Liebe? ZITATOR 2 ( aus dem Quick Interview mit Frau Schumann) Er ließ erkennen, dass er mit den Verhältnissen in der DDR nicht mehr zufrieden war, dass sich seine Ideale als überzeugter Kommunist ? nicht erfüllt hatten. B: Aber warum soll es nicht Flucht in eine neue Liebe gewesen sein, denke ich, warum nicht? Beim Übertritt des DDR Agenten Stiller, das war eine Erfolgsgeschichte des BND, da sei auch Liebe im Spiel gewesen. Stiller hätte sich nicht noch einmal in der DDR gegen den Willen des MfS scheiden lassen können, um seine neue Freundin, die Kellnerin aus Oberhof heiraten zu können, so heißt es. Also wollte er mit ihr zusammen in die Freiheit, in den Westen. Für seine neue Liebe war Baumann zu vielem bereit, besonders zu großen Gesten und großen Worten. Er wollte seine Christel immer beeindrucken. ZITATOR 2 ( Aus dem Quick Interview mit Frau Schumann) Eines Tages saßen sie auf einer Bank am Märkischen Ufer an de Spree. Baumann trug einen roten Schlips. ? Bitte trage ihn nicht in meiner Gegenwart?, sagte Christa-Karin Schumann. Alle Genossen haben ihn?, sagte er. ?Eben darum?, sagte sie. Da stand er wortlos auf, band die Krawatte ab und warf sie in die Spree. PAUSE V. B: Über die Geheimdienste und die Spionage sprach Eike nicht mit mir, natürlich nicht. Und auch ich hielt mich ihr gegenüber mit meinen Überlegungen zurück. Beim Nachlesen empfand ich eine Abneigung gegen die Peinlichkeiten des geheimdienstlichen Sprachgebrauchs. Da klingen die Decknamen, die Codeworte verspielt, eitel und zynisch, der Fregattenkapitän wird zum ?Roten Admiral?, in Anlehnung wohl an Canaris. Es gab unter den Mitarbeitern der DDR - Organe einen Spitznamen : ?Operettenmajor?. Schon das Wort ?Organe? klingt für mich seltsam, so eine Form: ?bewaffnete Organe?, erinnert an solche schrecklichen Worte wie ?Volkskörper? Der Kontaktmann des BND ist sowohl Stasi-Agent ?Alexander? als auch BND Agent ?SISSI?, der Spitzname einer Kaiserin? Mit Frau Schumann wurde zum Beispiel das Erkennungswort ?Salami? für die Übergabe von Dechiffriertabellen, Geld und Kleidung ausgemacht. Salami, wohl, weil die Flucht über Ungarn gehen sollte. Einen Brief an den BND unterschrieb Baumann mit ansonsten: l.m.a.A. ( leck mich am A.). Das wurde aber doch noch in ?ansonsten Götz von Berlichingen? abgewandelt, weil die gebildete Frau Schumann das verlangte. Ich erschrak über diese Banalitäten, die im krassen Gegensatz zur Tragödie des Lebens und Sterbens der davon betroffenen Menschen stehen und auch nicht zu meinen Gesprächen mit Eike über Antigone und den Staat passen wollten ZITATOR 3 ( Heiner Müller) Im Bauch der Farce liegt die Tragödie B: Mit Eike redete ich mehr über Hybris und Katharsis und über die Genealogie der antiken Götter, die sie mir zeigte, stolz, dass sie sie noch aufgehoben hatte. VI. ZITATOR 2 ( Der Spiegel 46, 1992,S133) Ostern 1979 sollten Baumann, Frau Schumann und ihre beiden Kinder über Ungarn in die Bundesrepublik geschleust werden B: Christa Karin Schumann fliegt mit den Kindern nach Budapest. Winfried Baumann fliegt nicht mit. Er komme nach, das sei ganz sicher, verspricht er jedenfalls am Telefon. ZITATOR 2 ( Der Spiegel, Nr.46/1992 S 135) ?Ich wusste nicht mehr, was ich wollte?, sagte er später, ?ich lebte doch nur noch von einem Tag auf den anderen.? B. Eike erinnerte sich, sie seien weggefahren, sie hätte aber von den Fluchtplänen ihrer Mutter nichts gewusst. Es war schön für die Kinder im Hotel Hilton. Sie waren immer sehr selbständig und sind zur Schwimmhalle, zum Tischtennis gegangen und auf die berühmte Bastei. Merkwürdig war nur, dass ihre Mutter so komisch war, total krank und nervös, sie lag nur in ihrem Zimmer und telefonierte, schrecklich sei das gewesen. Auf den roten Admiral warteten Frau Schumann und der Agent des BND vergeblich. Haltlos, betrunken, rätselhaft klang er am Telefon. Sie solle allein fliehen. Unmöglich wäre es nicht, die falschen Pässe, die Kleider sind vorbereitet.? ZITATOR 3 ( aus Eboom. S.188 Schreiben des BND) Sie solle keineswegs allein mit ihren Kindern den Weg nach Westen suchen, denn die daraufhin einsetzenden Nachforschungen würden zu ihrem Liebhaber führen und für den das Todesurteil bedeuten. B: Frau Schumann fliegt mit den Kindern zurück nach Berlin. ZITATORIN 4 ( Der Spiegel: Frau Schumann) ??da ich keinen Menschen auf meinem Gewissen haben möchte.? Chor aus Antigone Ach, Eros, Du machst scheu der Gerechten unrechte Sinne, ?daß in die Schmach weg Sie flüchten, B: Die Flucht wird verschoben, ein neuer Fluchtplan über Polen vereinbart. -Himmelfahrt, Pfingsten-, ?die Freiheit im Fluge erlangen über einen hellen Frühlingshimmel fliehen. - Dazu kommt es nicht mehr. Es gibt ihn nicht für sie beide, diesen Flug, so hinauf und hinaus über ihr Land DDR hinweg. PAUSE Nach einem Jahr Untersuchungshaft kommt es für Frau Schumann zum Prozess, das Urteil: 15 Jahre Haft. Sie hat das anfangs nicht ernst genommen und gedacht, sie würde sowieso bald ausgetauscht, aber es vergingen fast acht Jahre. PAUSE III. Chor: Scheiden vom Himmelslicht. Hieß es gewaltsam /Eherne Haft /Zwängte sie aufs Lager /Grabesstiller Gefangenschaft B. Eike erzählte mir, was sie von der Zeit der Haft ihrer Mutter weiß. Das Schlimmste sei gewesen, dass sie als Politische zwei Jahre in Einzelhaft saß, sie hätte gern eine Sprache mit jemandem gelernt oder mit jemandem Schach gespielt. ZITATORIN 4 ( Frau Schumann; aus Quick 91 ) ?Das war die Zeit, als ich mich vor den Spiegel in meiner Zelle stellte, um mich mit mir selbst zu unterhalten und dabei wenigstens in ein Gesicht zu sehen.? B: Gesprochen hat nach dem Untersuchungsrichter keiner mehr mit ihr, nur so: ?Schumann, komm se, gehen se, machen se, lassen se?.? Sie hasste die hässliche Anstaltskleidung dunkelgrau, an der Seite die giftgrünen Streifen, und sie ekelte sich vor dem Dreck überall, sogar das riesige Gerichtsgebäude, wo der Prozess stattfand, starrte vor Schmutz, erinnert sie sich. Christa Schumann hat all die Jahre hauptsächlich als Reinigungskraft gearbeitet und auch steinerne Treppenhäuser der Stasigebäude aufgewischt. VII. B. Jahre wartete Frau Schumann, über sieben Jahre lang mit der Hoffnung, dass man sie austauschen werde. Sie wusste nichts von Baumann und wusste auch nicht, dass man sie längst aufgegeben hatte. Sie sollte nicht nachfragen können, wo er denn sei, der Rote Admiral, und Namen, die sie vielleicht von Baumann wusste, sollte sie nicht verraten können. In einem ganz anderen Verfahren, vor dem Militärgericht, ist über Winfried Baumann, den ehemaligen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane, das Todesurteil gefällt worden. ZITATOR 3 ( aus den ?Gemeinsamen Anweisung der DDR Justiz- Organe zur Verwirklichung der Todesstrafe? von 1968 ) Die Todesstrafe trägt, indem sie der "Sicherung und dem zuverlässigen Schutz unseres souveränen sozialistischen Staates, der Erhaltung des Friedens und dem Leben der Bürger dient, einen humanistischen Charakter". B: Diese ?humanistisch? genannte Art der Hinichtung hieß nun ?unerwarteter Genickschuss?. ZITATOR 2 ( Der Spiegel, Nr 47,1992 S 139) Am 18. Juli 1980 . Leipzig, Kästnerstraße. Unter strengster Geheimhaltung findet hier die ?Strafverwirklichung? statt.. B. Strafverwirklichung, was für ein Wort! ZITATOR 2 ( weiter Der Spiegel, Nr 47, 1992) Am 28. August, wird die Urne auf dem Leipziger Südfriedhof im Grab Nr. 112, Reihe 6, VIII. Abteilung, beigesetzt, es ist ein namenloses Urnengrab. B: Da galt es, Kreons Gebot. ZITATOR 1 (Kreon): Auch in Zukunft geb? ich nie Verbrechern vor den Gerechten einen Ehrenplatz. B. Und in vielen anderen Fällen in der jüngsten Geschichte bekamen die getöteten Staatsfeinde kein auffindbares Grab. Wie ist das heute? Denke ich. Man findet die heimlich Verscharrten und stellt Denkmale auf, es kommt auch vor, dass Denkmale für Opfer wieder weggenommen werden. Das Wichtigste aber ist wohl, dass an die Öffentlichkeit kommt, was wirklich geschehen ist. Und es war die Öffentlichkeit, die die inzwischen in der langen Haft erkrankte Christa Schumann 1987 schließlich frei gekämpft hat. ZITATORIN 3 ( Text der Schumann Schwägerin auf einem Protestplakat, Spiegel 47, 1992 ) Herr Honecker! Lassen Sie die Ärztin Karin Schumann leben! 7 ½ Jahre DDR Haft sind genug! B.: Eike ist ihrem Onkel und ihrer Tante in Heidelberg dankbar, die ab 1986 die Öffentlichkeit mit aller Energie und allem Einsatz auf das Schicksal ihrer Mutter aufmerksam gemacht haben. Nicht von Anfang an taten sie das, denn der Anwalt Vogel hatte immer gesagt, man dürfe keine Öffentlichkeit. suchen, das schade dem Mandanten. Sie hätten sechs Jahre stillgehalten in der Hoffnung, Frau Schumann werde ausgetauscht, aber als nichts passierte, hätten sie verstärkt mit der Presse gearbeitet. Als Erich Honecker 1987 in die Bundesrepublik reiste, sind sie auf die Straße und zu allen Empfängen gegangen, sie haben sich nicht abweisen lassen, bis auch das Fernsehen auf sie aufmerksam wurde. VIII. ZITATOR 2 ( Reportage Harvey T. Rowe ) 10. August 1987, ein Montag. Beim Mittagessen erscheint eine Aufseherin: ?Schumann, Sie haben einen Sprecher, kommse. Im Besucherzimmer erwartet sie Professor Vogel. ?Wir haben es geschafft?, sagt er?Ein Beamter fragt sie noch, warum sie in den Westen gehen will. ? Weil ich über meinen Körper selbst verfügen möchte?, erwidert sie. B: Sie wurde aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen, dann erst erfuhr sie von Baumanns Tod. Sie wollte es immer noch nicht glauben. Eike erzählte mir, dass ihre Großeltern lange Zeit gedacht hätten, er sei nach Sibirien gekommen und lebe noch mit einer anderen Identität. Seltsam, denke ich, wie doch das unaufgeklärte Verschwinden von Menschen, das man in den Nachkriegsjahren erlebte, immer weiter wirkt. Mangelnde Öffentlichkeit erzeugt so etwas. Jetzt kann man vieles nachlesen, aber die Quellen widersprechen sich in manchen Punkten, vieles bleibt so doch im Dunkeln. Unbestritten ist, dass der Rechtsanwalt Vogel am 12. August 1987 Eikes Mutter in seinem gold lackierten Mercedes über die Grenze brachte. Anlässlich des Staatsbesuches von Erich Honecker in der Bundesrepublik gab es eine größere Amnestie, im gleichen Jahr wurden in der DDR die Todesurteile abgeschafft. ZITATOR 2 ( Der Tagesspiegel, 19.7.2007, Andreas Austilat ) Vor 20 Jahren, am 17. Juli 1987, wurde die Höchststrafe aus dem Gesetzbuch der DDR gestrichen. In aller Eile, denn eigentlich hätte dieser Schritt qua Verfassung durch die Volkskammer erfolgen müssen. Aber die Abgeordneten zu befragen, dazu war keine Zeit, Staats- und Parteichef Erich Honecker bereitete seinen Besuch in der Bundesrepublik vor. Ein humanitäres Mitbringsel kam da gerade recht. B: Nach wenigen Monaten gingen zuerst die Tochter Eike und etwas später der Sohn Frank zur Mutter in den Westen. Der Onkel in Heidelberg nahm seine Schwester und ihre Kinder liebevoll auf. Es hatte sich erfüllt. Die Familienliebe, die Bande des Blutes und die Sehnsucht Christa Schumanns nach ihrem Recht auf persönliche Freiheit hatten gesiegt. Eike beobachtete aber bald, dass das erwartete Glück in der Familie nicht recht eintrat. Alle hatten sie um die Einheit und das Zusammensein der Familie gekämpft und haben geglaubt, wenn das verwirklicht ist, dann ist alles gut. Aber dann ging es auf einmal gar nicht so gut. Frau Schumanns Schwägerin wurde krank, bekam Depressionen,? Früher hatte sie noch gearbeitet als Krankenschwester, und dann hatte dieser Kampf um Christas und der Kinder Freiheit sie ganz ausgefüllt, das war auf einmal vorbei, ? Eike sagte mir, dass ihre Mutter lange noch an Winfried Baumann und sein Schicksal dachte, sein Bild auf ihrem Nachttisch stehen hatte. Dann fügte sie hinzu, wenn sie als Kind auch dafür kein Verständnis gehabt habe, später glaubte sie schon, dass ihre Mutter es ernst gemeint habe mit ihrer Liebe und gehofft habe, dass Baumann in einem neuen Leben aufhören würde zu trinken. 1989 fiel die Mauer. Das Schicksal Baumanns konnte man in der Presse nachlesen. PAUSE IX. Ich traf mich mit Eike noch oft, sie begann zu malen und Theater zu spielen. Sie schickte mir Fotos von ihren Bildern und schrieb mir von ihrer Entscheidung, den Dr. med. im Spezialfach psychosomatische Medizin zu machen. Bei einem Klassentreffen von Eikes Abiturklasse haben wir uns noch einmal an den Unterricht erinnert, und daran, wie wir Kreon beurteilt hatten. Nicht mehr so wie in der Brecht Bearbeitung als ein Gleichnis für den faschistischen Diktator, der uneinsichtig bis zum Schluss alles zugrunde richtet, die Stadt und den Staat, sondern als einen Tyrannen, der am Ende vom Seher Theiresias und vom Chor heftig gemahnt, vom dreifachen Selbstmord Antigones , seines Sohnes, seiner Frau tief erschüttert, sein furchtbares Unrecht einsieht und sagt: ZITATOR 1 (Kreon): Ich bitt euch, ach, schafft mich Nichtswürdigen fort!. B: Katharsis sagte Eike mehrmals, Katharsis. Chor: Gewaltigen Spruch des übermütigen Mundes straft gewaltiger Schlag und lehrt selbst Alte das Einseh´n B: Anfang 1990, als die in den Augen der Bevölkerung schuldig gewordenen Funktionäre der DDR manchmal in Beharrung auf einem historischem Recht, manchmal beschämt, manchmal einsichtig, manchmal tief verzweifelt, ihre Posten verließen, waren das etwa Kreons? fragte ich Eike . Das wisse sie nicht, sagte sie, aber ihr eigener Vater, der sie ja erzogen habe und im Osten geblieben sei, der wohl nicht. Er habe sie auch nicht zum Widerstand erzogen, immer zu Leistungen und Anpassung: Er sei nie in der SED gewesen und habe nie Macht gehabt, er wollte nie in den Westen, er hatte seine Wohnung, seine Freundin und seine Arbeit. Worüber er sich jetzt einfach ärgere, das sei, dass er seine Arbeit nicht mehr habe, aber Hybris oder Katharsis? Solche Begriffe, die für das Tragische gelten, treffen sie auf Baumann zu? PAUSE X. B. Nicht von Eike sondern aus den Berichten von Journalisten erfuhr ich, was Winfried Baumann dachte, bevor er starb. Sie zitieren aus seinen letzten Notizen und aus den Protokollen seiner Verhöre. ZITATOR 4 (Der Spiegel, 47/1992, S 137, Baumann ) Mir fehlt jeder Habitus, mich heldisch geben zu wollen, weil bei dem Sterben jedes Ziel fehlt. B: Ein Protokollführer im Prozess Baumann hält das handschriftlich fest. ZITATOR 4 ( bei Schmidt ? Eenboom, Baumann ) Ob ich aus der Haft entlassen werde, lebenslänglich oder die Todesstrafe kriege, für mich ändert das an meinem Leben nichts mehr. B: Suchte er den Tod als einen Ausweg schon lange, schon seit 1970, als er schon einmal mit seinem Leben Schluss machen wollte? Ist er Ostern 79, als alles vorbereitet war, schon deshalb nicht nach Budapest geflogen, weil er diesen Ausweg gar nicht als seinen Ausweg empfand? Er wusste doch, wie wenig er dem BND als Überläufer bringen würde, wenn sich herausstellte, dass er kein Mitglied der?geheimdienstlichen O r g a n e? mehr war? Das würde ein ?homerisches Gelächter? geben, soll er gesagt haben. Vielleicht hat der Agent Baumann die Reste seiner längst verlorenen Ideale immer wieder mit Alkohol zugeschüttet, ohne sie ganz löschen zu können? ZITATOR 4 ( Baumann ) ?Die DDR, mein Land, das ich nicht mehr mein Land nennen darf? ?Statt mich zu nutzen, schlachtet ihr mich? PAUSE Vor dem Sichtfenster sitzend, ist dieses tagelange Sterben ein von mir nicht gewolltes Schauspiel. ? Ekelhaft zu wissen, man schaut zu?Eremitisch wäre es schöner. Hoffe, dass man mich zuletzt nicht fesselt, mir nicht die Augen verbindet,?PAUSE Ich bitte um die Gnade, mir die Möglichkeit zu geben, zu sterben. Haft wäre für mich unerträglich. Folgen Sie dem Antrag des Staatsanwalts. ZITATOR 1 (Kreon): empor steige Tod, mein Tod, schönster du? Ans Ziel bringe mich. Ich will keinen Tag das Licht länger sehn, ? Alles schwankt, was mich hielt. B: Winfried Baumann wurde 1980 erschossen, das war eines der letzten Todesurteil, die in der DDR vollstreckt wurden. ZITATOR 3 ( Franzisca Zecher, Die Todesstrafe im sozialistischen Einheitsstaat ) Zumindest bis Anfang der 70er Jahre wurden in der DDR hauptsächlich Sexualstraftäter, Mörder und andere Schwerverbrecher hingerichtet. Und nicht, wie man es vielleicht erwartet hätte, massenhaft Regime-Kritiker. Nach 1970 waren es dann vor allem in Ungnade gefallene Stasi-Mitarbeiter. B: Winfried Zakrzowski/ Baumann war einst ein begabter und hoffnungsvoller junger Mann, den man in der DDR gut brauchen, vielleicht auch missbrauchen konnte. Seine kriminellen Verfehlungen, seine Lügen und Verschuldungen waren noch verhältnismäßig geringfügig, sein Spionageverrat war uneffektiv, sein kommunistischer Glaube hatte ihn eher behindert, sein Alkoholismus war eine Krankheit. Ist sein Tod immer noch so etwas wie: ?Die Revolution frisst ihre Kinder!?? Dafür ist alles zu banal? Zeigt nicht Georg Büchner im ?Danton?, wie banal alles sein kann mitten im Tragischen? Baumann soll sich für Literatur interessiert haben, so schreibt Der Spiegel. Dr. Eike Schumann aber, die Tochter seiner Christel ist heute eine anerkannte Fachärztin für Psychosomatik, die in der Suchtprävention arbeitet Sie schrieb zu folgendem Dissertationsthema: ZITATORIN 1: Beziehungsmuster erwachsener Kinde aus Alkoholikerfamilien Eine qualitative Untersuchung von Erstinterview-Protokollen in der Psychosomatischen Klinik Heidelberg, Promotion 1995, Universität Heidelberg Nachsatz B: Den Nachhilfeunterricht von Eike werde ich nicht vergessen, sie hat mich aufgeklärt über etwas, das ich einst nicht wissen wollte, konnte oder sollte. Sie hat mich nach 1990 aufgesucht, weil sie, wie sie sagte, mich nicht verlieren wollte. Dieses Zutrauen hatte sie zu mir gefasst, als wir über die Antigone sprachen. 1