Deutschlandradio Kultur, Literatur, 13.11.2007, 19.30 Uhr ?Mit Karlsson auf dem Dach? - Zum 100. Geburtstag von Astrid Lindgren Von Michael Reitz Musik-Collage (1) O-Ton Lindgren: Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Über meine Sorgen um sie und meine Hoffnungen für sie. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Sorge um die Geschäfte dieser Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Zitat (Kind): Außergewöhnlich in diesem Haus ist nur einer, und das ist Karlsson vom Dach. Er wohnt oben auf dem Dach, der Karlsson, und schon das ist ja etwas recht Außergewöhnliches. Er ist ein sehr kleiner und sehr rundlicher und sehr selbstbewusster Herr, und er kann fliegen. ? Karlsson vom Dach Musik Collage: O-Ton Weitendorf: Im Grunde ihres Herzens war sie ja auch nicht nur ein fröhlicher Mensch - O-Ton Schock-Werner: Ich glaube, dass es eine ganz andere Welt war, die da erzählt wurde. Ton Volmer: Und der hat eigentlich immer nur Mist gebaut ? O-Ton Yunus: Ich find eher Karlsson gut. Autor: Sie wurde zum Inbegriff der Kinder- und Jugendliteratur: Astrid Lindgren. Geboren am 14. November 1907 im südschwedischen Smaland (Smoland) nahe der Kleinstadt Vimmerby (Wimmerbü) Zitat (Lindgren): Meine Kindheit erlebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt. Autor: ?so beschrieb sie später eine Zeit, die sie immer als paradiesisch in Erinnerung behielt. Mit drei Geschwistern erlebte sie eine ländliche Welt, frei von Zwang, bestimmt von Geborgenheit und der frühen Begegnung mit Literatur. Zitat (Lindgren): Das grenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabenteuer. Für mich begann es, als ich zum ersten Mal ein eigenes Buch bekam und mich da hineinschnupperte. In diesem Augenblick erwachte mein Lesehunger, und ein besseres Geschenk hat das Leben mir nicht beschert. Autor: Die Sagen und Märchen der Heimat begleiten das Kind früh, finden später oft Eingang in das Erzählen der erwachsenen Autorin. Und der Vater ist ein großer Geschichtenerzähler. (2) O-Ton Gottschalk: Der Vater von Astrid Lindgren, der war durchaus jemand, der eine sehr innige Beziehung zu den Kindern geknüpft hat, eine emotionale, ich glaube auch eine mehr körperliche. Autor: Die Leverkusener Journalistin und Astrid Lindgren-Biographin Maren Gottschalk beschreibt in ihrem Buch ?Jenseits von Bullerbü? wie sich Astrid Lindgren Zeit ihres Lebens eine harmonische Welt bewahrte und aus dieser Erinnerung den Stoff für ihre Erzählungen zog - ohne die Wirrnisse unserer Welt zu verschweigen. (3) O-Ton Gottschalk: Ich glaube schon, dass sie zwischen diesen beiden Welten hin und her gesprungen oder gewandelt ist. Zwischen dieser Kindheit und dem Erwachsenenleben (...) Die Kindheit, die hat sie sozusagen als einen Raum, einen Schatz in sich bewahrt, oder eine Schatzkiste, in die sie immer wieder abgetaucht ist. Autor: Nach ihrer Kindheit hat es Astrid Ericsson nicht leicht. Ihrem Realschulabschluss folgt ein Volontariat bei der Lokalzeitung Vimmerbys. Ihr Leben nimmt eine dramatische Wendung, als die knapp Achtzehnjährige schwanger wird. Sie flieht vor dem kleinstädtischen Klatsch nach Stockholm, wo sie eine Sekretärinnenausbildung beginnt. Sie ist verzweifelt. Will den Vater des Kindes nicht nennen ? im damaligen Schweden ein Unding, denn hierdurch droht die Unterbringung des Kindes in ein Waisenhaus. Die junge Frau macht die Bekanntschaft einer Frauenrechtlerin. Diese rät ihr, das Kind im dänischen Kopenhagen zur Welt zu bringen, um so die Registrierungspflicht zu umgehen. Ihr Sohn Lars wird dort geboren ? und Astrid muss ihr Kind bei einer Pflegefamilie lassen, während sie in Stockholm arbeitet. Ein Schritt, dessen brutale Unausweichlichkeit Astrid Lindgren ihr Leben lang begleiten wird. Hieran erinnert sich Silke Weitendorf, Stieftochter des Verlegers Friedrich Oetinger in Hamburg, das Lindgrens Bücher Ende der vierziger Jahre nach Deutschland brachte. (4) O-Ton Weitendorf: Im Grunde ihres Herzens war sie ja auch nicht nur ein fröhlicher Mensch, sondern auch ein Mensch, der selbst dadurch, dass sie einiges in ihrer frühen Jugendzeit durchlitten hat, ich meine damit das frühe Mutterwerden und das Kind nicht bei sich haben können, hat sie doch Szenen verarbeitet, die aus ihrem Leben praktisch stammen und die auch für sich stehen. Zitat (Kind): Nein, wisst ihr: wenn junge Menschen auf all das hören wollten, was alte Leute reden, so würde die Erdkugel stillstehen.? ? Kati in Paris Autor: 1930 lernt Astrid Sture (Stühre) Lindgren kennen, den sie ein Jahr später heiratet. Sie beginnt mit dem Schreiben. Leserbriefe und kleinere Geschichten, die sie in Zeitungen veröffentlicht. 1934 wird ihre Tochter Karin geboren ? ein wichtigeres Datum der Literaturgeschichte, als man zunächst annehmen könnte. Denn dieses Kind erkrankt im Alter von sieben Jahren an Lungenentzündung und wünscht sich von der Mutter erfundene Geschichten. Astrid Lindgren erzählt von einem kleinen Mädchen, dass sich nichts gefallen lässt, über Bärenkräfte verfügt und eine Menge Sommersprossen im Gesicht trägt, schreibt diese Geschichten auf und schenkt sie ihrer Tochter zum zehnten Geburtstag. Die erfundene Figur hat keinen Namen, und deshalb soll Karin einen erfinden. Sie antwortet: Pippi Langstrumpf. Musik: ?Pippi Langstrumpf? (5) O-Ton Schock-Werner: Ich glaube, dass es eine ganz andere Welt war, die da erzählt wurde. Also, die Kinder aus Skandinavien, aus Schweden (..) war mir ja kein Begriff, was ist das für ein Land, die auf Bauernhöfen wohnten und (...) es passiert ja nichts Großartigeres. Also später, bei Ronja Räubertochter, das sind (...) außergewöhnliche Geschichten und Pippi Langstrumpf erst recht. Autor: Barbara Schock-Werner, Dombaumeisterin in Köln, erinnert sich, wie sie in den fünfziger Jahren Lindgren-Bücher verschlang. Denn die Autorin hat durch die Pippi-Geschichte Gefallen am Schreiben gefunden ? obwohl das Buch zunächst von einem Verlag abgelehnt wird. Sie schreibt ein weiteres Buch ? ?Britt Mari erleichtert ihr Herz? ? und gewinnt den zweiten Preis im Wettbewerb eines schwedischen Verlages. Ein ungeheurer Kreativitätsschub wird nun in ihr freigesetzt. Sie arbeitet mittlerweile in dem Verlag, der sie veröffentlicht. 1949 lernt sie den Hamburger Verleger Friedrich Oetinger kennen, der sie auf den deutschen Markt bringt. Ihr Mann Sture Lindgren stirbt 1952, die Ehe war bereits vor zu diesem Zeitpunkt zerrüttet. Bis 1954 veröffentlicht Astrid Lindgren vierzehn Bücher ? eine Produktivität, die Maren Gottschalk so beschreibt: (6) O-Ton Gottschalk: Sie hatte soviel angespeichert an Ideen, an Geschichten (...) und als es dann soweit kam, dass sie das erste Buch geschrieben hat, und dann kam das ja gleichzeitig Ende der vierziger Jahre auch mit dieser Krise in der Ehe wo sie vielleicht merkte, dass ist nicht die Beziehung, wie sie eigentlich tragfähig sein müsste, damit man ein Leben lang miteinander sich gut versteht (...) da hat sie auch gemerkt, ich kann das und das gibt mir ganz viel, da tauche ich ein noch mal in die Welt in der ich mich am Besten auskannte, in der ich mich am Wohlsten gefühlt habe. Autor: Astrid Lindgren hat offenbar das Paradies ihrer Kindheit so stark verinnerlicht, dass die Geschichten aus jener Zeit und die Lust am Fabulieren in ihr gären. In schneller Folge erscheinen ?Meisterdetektiv Kalle Blomquist?, alleine drei ?Pippi Langstrumpf? Bände und schließlich jene Geschichten, die wohl am stärksten ihre Kindheit widerspiegeln: die Welt der Kinder aus Bullerbü ? das sich nicht zufällig auf Vimmerby reimt. Was die Kinder dort erleben, hat das Kind Astrid selbst erfahren. Eine Welt im Einklang mit der Natur, grenzenloses Spielen und Toben. Musik, Bullerbü Zitat (Kind): Die Jungen hatten sich Flitzbogen und Pfeile gemacht und sie machten auch welche für uns. Lasse sagte, am anderen Ende des Gehölzes wohnten andere Indianer. Sie hießen Comanchen und wären sehr tückisch und gefährlich. Wir nahmen unsere Flitzbogen und rannten unter furchtbarem Kriegsgeheul durch das Dickicht. ? Wir Kinder aus Bullerbü (7) O-Ton Weitendorf: Es ist ja schon seltsam, dass sie eigentlich recht spät angefangen hat zu schreiben und dann mit so viel Macht die verschiedenartigsten Bücher geschrieben hat. Und das ist ja auch das Phänomen, finde ich, dass sie die Möglichkeit in sich hatte, alle Genres der Kinder- und Jugendliteratur zu bedienen (...) das Genre Kriminalroman, Märchen, moderne Kunstmärchen, den realistischen Roman (...) den Schelmenroman ? sie hat alles abgedeckt, alles konnte sie. Autor: Astrid Lindgren hält sich dabei immer an ein Prinzip des Philosophen Arthur Schopenhauer, den sie bereits als Jugendliche gelesen hatte: Sage Ungewöhnliches mit gewöhnlichen Worten. Und so finden sich auch in ihren über siebzig Büchern keine Passagen, die krampfhaft Kindersprache imitieren. Trotzdem verstehen Kinder ihre Bücher, denn die Geschichten sind einfach erzählt. Silke Weitendorf erinnert sich an eine Episode, die das besonders deutlich macht. (8) O-Ton Weitendorf: Und ich fand das ganz erstaunlich, wie sie einmal erzählt hat, dass ihr am Fenster in Furusund, in ihrem Ferienhäuschen sitzend, wo sie gerne geschrieben hat, durch die Zugluft ein Kapitel von Karlsson vom Dach (...) aus dem Fenster geweht ist, es war weg (...) Also hat sie sich hingesetzt und das noch mal neu geschrieben (...) Irgendwer hat das dann doch im Garten gefunden und hat die Seiten aufgesammelt. Und sie hat dann im Vergleich festgestellt, sie hat quasi nichts vergessen gehabt. Musik Autor: Ab 1949 wird der deutsche Kinderbuchmarkt geradezu überschwemmt mit Büchern einer Autorin, die so ganz und gar nicht in das Klischee der Kinderbuchliteraten zu passen scheint. Die Darsteller ihrer Geschichten sind intelligente Rabauken: unangepasst, aufmüpfig. Setzen sich mit Witz und gesundem Menschenverstand durch. Doch wie kommt es, dass ausgerechnet im Nachkriegsdeutschland ihre Bücher so einschlagen? (9) O-Ton Gottschalk: Es gab ja eigentlich keine gute, spannende, moderne Kinderbuchszene in Deutschland. Das, was es noch gab, das waren Sachen aus der Zeit vor dem Krieg. Das waren eben brave Kinder, belehrende Bücher, alles aus der Nazizeit war natürlich weg, und es war eigentlich eine Lücke da, man suchte nach neuen Büchern (...) Da kam Astrid Lindgren natürlich so wie ein Wirbelwind in die deutschen Kinderzimmer und ist ja dann auch gleich sehr begeistert aufgenommen worden. Zitat (Kind): Ich hab mal in Shanghai einen Chinesen gesehen. Seine Ohren waren so groß, dass er sie als Umhang benutzen konnte. Wenn es regnete, kroch er unter die Ohren, und darunter war es so warm und schön, wie man es sich nur denken kann. Wenn besonders schlechtes Wetter war, lud er seine Freunde und Bekannten ein, unter seine Ohren zu kommen. ? Pippi Langstrumpf Autor: Astrid Lindgren steht von Anfang an bedingungslos auf Seiten ihrer kleinen Leser. Auf die Frage eines Reporters, der nach dem pädagogischen Nutzen eines solchen Rüpelkindes und notorischer Lügnerin wie Pippi Langstrumpf fragte, antworten sie: Zitat (Lindgren): Wenn ich jemals beabsichtigt hätte, die Figur der Pippi zu etwas anderem als der Unterhaltung meiner jungen Leser dienen zu lassen, so wäre es dieses: ihnen zu zeigen, dass man Macht haben kann, ohne sie zu missbrauchen. (10) O-Ton Gottschalk: Das ist unglaublich, wie gut sie sich in die Gefühle von Kindern hineinversetzen konnte als Erwachsener, und zwar gar nicht so über den Kopf wie ein Psychologe das machen würde, ich verstehe, was da abläuft und ich verstehe dieses Kind als Erwachsener, sondern ich glaube sie hatte einen ganz direkten Zugang zu der Kinderpsyche und hat ganz intuitiv deswegen diese Kinderseelen auch verstanden und auch darstellen können, und das Schreiben über die Kindheit oder aus der Kindheit heraus sozusagen, hat sie auch selber gesagt, hatte durchaus die Funktion einer Therapie. Autor: Die Tochter Karin erzählte einmal, dass Astrid Lindgren oft mit dem Satz ins Bett ging: ?Wenn es doch schon Morgen wäre und ich wieder schreiben könnte.? Schreiben für Kinder ? in das Zentrum ihrer Geschichten gestellt, weil sie so besser über ihre Zweifel an der Welt reden kann. Sie schreibt nicht über, sondern aus der Perspektive des Kindes ? und kommt so ihrem inneren Kind näher. (11) O-Ton Gottschalk: Sie hat, glaub ich, intuitiv alle Kinderrechte verstanden, gekannt, in ihren Büchern auch thematisiert, ohne jemals das Wort Kinderrechte überhaupt auch nur zu erwähnen. Ich kann mich daran erinnern, wie sie in einem Aufsatz mal geschrieben hat, dass sie es ganz furchtbar findet, wenn Eltern ihre Kinder mit Gewalt und Angst erziehen. Autor: Gewalt gegen Kinder ? ein immerwährendes Thema der Schriftstellerin Astrid Lindgren. Schon in den fünfziger Jahren setzt sie sich für ein Verbot der körperlichen Züchtigung von Kindern ein. Als sie 1978 als erste Kinderbuchautorin den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhält, nutzt sie ihre Rede mit dem Titel ?Niemals Gewalt? zu einem Aufruf für die Rechte der Kinder. (12) O-Ton Lindgren: Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt von denen, die man liebt, von den eigenen Eltern erhalten? Und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben? Und so ging es fort. Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben, heißt es schon im Alten Testament und daran haben durch die Jahrhunderte viele Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig die Rute geschwungen und das Liebe genannt. Autor: Ihre Appell bleibt nicht ohne Wirkung, denn ein Jahr später erlässt Schweden als erster Staat der Welt ein Verbot der Gewalt an Kindern. Doch im Vorfeld der Frankfurter Rede war es fast zu einem Skandal gekommen. (13) O-Ton Weitendorf: Ihr war ja vom Börsenvereinsvorsteher angetragen worden, diese Rede bitte so nicht zu halten, sie völlig zu ändern. Da hat Astrid Lindgren sich wirklich auf die Hinterbeine gestellt und hat es durchgesetzt, dass sie gekommen ist und diese Rede gehalten hat. Sie wäre sonst nicht unbedingt gekommen. Das habe ich aber, oder alle im Verlag, erst im Nachhinein mitbekommen. Sie hat dieses nicht mit uns abgemacht, sie wollte uns von dieser Sache befreien und uns freihalten. Musik Autor: Neben ihrer bedingungslos konsequenten Haltung, fällt noch ein anderer Zug in Astrid Lindgrens Werk und Leben auf: niemals so zu tun, als sei die Welt nur eitel Sonnenschein. Eine Eigenschaft, an die sich der Hamburger Erzbischof Werner Thissen besonders gern erinnert, wenn er an seine Lindgren-Lektüre denkt. (14) O-Ton Thissen: Immer ein nicht verschweigen des Dunklen, des Angstvollen, des Bedrängenden, aber nicht dabei bleiben (...) Sie stellt sich den Ängsten der Kinder, die offenbar auch ihre eigenen Ängste sind (...) Sie stellt sich dieser Angst, diesen Fragen entgegen und versucht jetzt nicht eine theologische Antwort, sondern in ihrem Schildern eine Antwort, mit der sie sagen will: es gibt auch das Andere. Autor: Dem einsamen oder kranken Kind wird oft jemand zur Seite gestellt, der ihm hilft. Herr Lilienstengel (hamburgisches ?s?) zum Beispiel. Er besucht zur Dämmerstunde immer den gelähmten Jungen Göran und unternimmt mit ihm fantastische Dinge, die nur im Land der Dämmerung möglich sind: Zitat (Kind): Und ? wupps! ? stand da schon ein roter Autobus. Wir stiegen ein und ich setzte mich ans Steuer und trat auf das Gaspedal. Ich konnte ganz großartig fahren. Ich fuhr schneller, als jemals ein Mensch vor mir gefahren ist, und hupte, dass es sich anhörte, als sei es ein Krankenwagen. ? Im Land der Dämmerung Autor: Doch es gibt auch das Andere in Astrid Lindgren. Das Melancholische, Dunkle und Nachdenkliche. Zuweilen gerät sie darüber in Verzweiflung, was Kindern auf dieser Welt angetan wird ? und schreibt dagegen an. Dabei verschweigt sie den Kindern nicht, dass das Leben manchmal grausam und ungerecht sein kann. Wie in ihrem 1973 veröffentlichten Roman ?Die Brüder Löwenherz?, der in der schwedischen Presse Entsetzen auslöste. Der Grund: Astrid Lindgren beschreibt darin den Tod eines unheilbar kranken Kindes. Trotzdem endet die Geschichte gut, denn die Autorin lässt ihre Leser niemals im Nebulösen oder Angstvollen ? für Bischof Thissen eines der wichtigsten Merkmale im Werk von Astrid Lindgren. (15) O-Ton Thissen: Ich habe den Eindruck, dass die Welt Astrid Lindgrens auch auf Zukunft bestehen bleibt, weil sie heilende Elemente hat. Sie hat nicht vorschnelle Lösungen, sie hat nicht das Ausblenden von existentiellen Fragen, sondern sie stellt sich der ganzen Wucht der Fragen und hat darauf heilende Antworten. Das wird bleiben. Autor: Dabei sind die heilenden Antworten, die Astrid Lindgrens Helden oft geben, von einer verblüffenden Einfachheit, reizend zu einem Lachen, das dem erwachsenen Leser allerdings oft im Hals stecken bleibt. Zitat (Kind): Aber Lillebror konnte nicht ruhig sein, als er sah, wie es brannte. ?Guck mal, wie das Bücherbord aussieht?, sagte Lillebror bekümmert. ?War wird Mama sagen?? ?Ach was, das stört keinen großen Geist?, sagte Karlsson. ?Bestell das deiner Mama.? Autor: Um wen es hier geht? Die Frage geht an den Experten Yunus Kaynak. Der Zwölfjährige beschreibt auch gleich, was ihm an der Figur so gefällt. (16) O-Ton Yunus: Karlsson vom Dach (...) Weil der witzig war, und der hat immer alles gewollt, Süßigkeiten und alles (...) Dass der immer recht hatte nach seiner Meinung, dass der immer alles haben wollte (...) Manchmal würde ich schon so gerne fliegen wie er. Autor: Karlsson ? ein Junge, der extrem rechthaberisch und nervend sein kann. Doch ohne seinen Widerpart Lillebror würde die Figur Karlsson ziemlich verloren dastehen, denn der Kunstgriff Astrid Lindgrens besteht darin, zwei Helden zu wählen, die genau betrachtet zwei Seiten des Menschen darstellen: die emotionale und die rationale. Dass der besonnene Lillebror dabei auf der Strecke bleiben kann, beschreibt Yunus auch: (17) O-Ton Yunus: Ja, der hat alles dann gemacht, was der gesagt hat. Der hat sich immer überreden lassen, hät ich nicht gemacht (...) Gefallen? Kann man jetzt nicht so sagen. Ich find eher Karlsson gut. Aber Lillebror wollte halt immer einen Hund haben, das fand ich gut, weil ich auch einen Hund haben will. Musik Autor: Bei manchen Erwachsenen hat die Begegnung mit Astrid Lindgrens Literatur Auswirkungen bis heute. Wohl kaum ein Autor kann für sich in Anspruch nehmen, die Welt seiner Leser derartig durch Beispiele persönlichen Mutes beeinflusst zu haben wie Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf vermöbelt zudringliche Immobilienhaie, Kalle Blomquist nimmt es mit einer gefährlichen Verbrecherbande auf und Lotta aus der Krachmacherstraße konfrontiert ihre Eltern mit deren ungerechtem Verhalten. Vielleicht ist die Kenntnis dieser starken Persönlichkeiten ein Grund dafür, warum sich beispielsweise Barbara Schock-Werner in der Kölner Dombaumeisterei durchsetzen konnte. (18) O-Ton Schock-Werner: Natürlich gibt es in eigentlich allen Lindgren-Büchern weibliche Figuren, die ihre Entscheidung selber treffen. Und dazu gehört die Autorin vor allem selber, und insofern sehe ich mich doch da gespiegelt. Ich mein, ich war nie so exzentrisch wie Pippi Langstrumpf und lebte auch nicht so außerordentlich wie Ronja Räubertochter, aber alle die Figuren, selbst diese Lisa aus Bullerbü sind weibliche Figuren, die sich gegenüber ihrer männlich dominierten Umwelt sehr deutlich (...) behaupten und da find ich mich schon wieder. Autor: Verblüffend ist außerdem, dass Astrid Lindgren auch für erwachsene Leser faszinierend sein kann. So wie für Irmtraud Eifler, die im Rahmen einer Initiative der Solingen Stadtbibliothek aus den Büchern Astrid Lindgrens vorliest. (19) O-Ton Eifler: Ich habe mich da in meinem Leben zuwenig mit beschäftigt und ja, und deshalb lese ich daraus vor (...) Ja und eigentlich lerne ich die jetzt erst kennen (...) Und vorige Woche habe ich ja auch (...) vorgelesen über Pippi Langstrumpf (...) da war so en Hahn mit Kikeriki und da bin ich aufgestanden und hab gesagt, sollen wir alle en Hahn spielen, hab ich mich auch mit auf ein Bein gestellt: ?Kikeriki?, sind wir rumgehüpft, und die Kinder hatten Spaß (...) dat war echt hart. Autor: Für eine glückliche Kindheit scheint es offenbar nie zu spät zu sein. Glucksende Laute, plötzliches Lachen, wenn man heutige Erwachsene nach ihren Erfahrungen mit den Kindern aus Bullerbü oder Saltkrokan fragt. Für Laura Volmer, angehende Lehrerin aus Köln, war Michel aus Lönneberga der Favorit. (20) O-Ton Volmer: Und der hat eigentlich immer nur Mist gebaut und musste ständig Holzmännchen schnitzen, und der ganze Schuppen ist voll (...) Ich glaub, das wäre auch schlimm gewesen, wenn er es nicht mehr gemusst hätte (...) Aber der hat wirklich Mist gebaut, der hat irgendwie den Hühnern (...) da hat er den Hühnern vom Hof alkoholisierte Früchte zum essen gegeben (...) die lagen alle danach total betrunken und sahen aus, als wären sie tot. Und dann haben die gedacht, Michel hätte die alle umgebracht, und der musste wieder schnitzen. Autor: Die Figuren Astrid Lindgrens sind zeitlos ? auch was die persönliche Zeit eines Menschen anbelangt. Denn die Erinnerung an die Dynamik der Charaktere bleibt. Der Leser kann darin nicht nur das Kind in sich entdecken, sondern er wird konfrontiert mit Fragen des Allgemein-Menschlichen. Doch eine Frage drängt sich angesichts von PC- und Handyspielen, überbordendem TV-Angebot auf: Wird Astrid Lindgren heute noch von Kindern gelesen? (21) O-Ton Gottschalk: Ich bin ganz sicher, dass die meisten Bücher von Astrid Lindgren heute für Kinder noch sehr interessant sind, weil sie alle sehr existentiellen Themen eines Kinderlebens, oder eigentlich auch eines Menschenlebens berühren (...) Angst, Wut, Trotz, Verlassensein, Liebe, alle Themen, die für Kinder wichtig sind, kommen vor. Musik (22) O-Ton Weitendorf: Manchmal hat man das Gefühl, dass Astrid Lindgrens Bücher eher die Vermittlung erfahren durch Filme und durch Audios und durch andere Möglichkeiten (..) keines der Kinder hat gesagt, ich habe es gelesen, und das war schon sehr verblüffend, bzw. zeigt eben unsere heutige Zeit. Autor: Astrid Lindgren nutzte die Zeit ihres Lebens. Als Schriftstellerin und als Bürgerin ihres Landes. Sie mischte sich immer ein, auch noch in einem Alter, in dem viele Menschen nicht mehr daran glauben, dass sie noch etwas verändern können. (23) O-Ton Weitendorf: So wie dieses schöne legendäre Foto, Astrid Lindgren mit dem Kuhfuss auf der Hauptstraße Stockholms gegen die Steuergesetzgebung revoltierend zeigt. Autor: Das Brecheisen in der Hand Astrid Lindgrens symbolisiert einen kuriosen Vorgang: 1976 erhält Astrid Lindgren ihren Steuerbescheid. Der Fiskus will 102 Prozent ihrer Einnahmen. Die Autorin greift zur Brechstange: Unter dem Titel ?Pomperipossa in Monismanien? veröffentlicht sie in einer schwedischen Tageszeitung eine Satire, die die Steuergesetzgebung der sozialdemokratischen Regierung lächerlich macht. Hastig werden die Gesetze geändert, denn Astrid Lindgren ist nicht irgendwer. Trotzdem: Die Wahlen im selben Jahr verlieren die Sozialdemokraten, nachdem sie seit vierzig Jahren an der Macht waren. Musik: Pippi Langstrumpf Autor: Die Schriftstellerin Astrid Lindgren mutete ihre jungen Lesern niemals etwas zu ? sie traute ihnen etwas zu. Den Mut zum Eigenen nämlich; die Fähigkeit, sich schon als Kind eine Meinung zu bilden, dazu zu stehen und Vertrauen in eine Welt zu entwickeln, die für Kinder nicht gemacht zu sein scheint. Ihre Literatur ist identitätsbildend und hat Vorbildcharakter, ohne es jemals sein zu wollen. Mit den Mitteln des Humors, der feinsinnigen Ironie und dem Respekt vor allem, was sein eigenes Leben führen will, erreicht sie bis heute Kinder in aller Welt. Astrid Lindgren starb im Januar 2002 in Stockholm. Morgen, am 14. November 2007 wäre Astrid Lindgren hundert Jahre alt geworden. Zitat (Kind): Nach Nangijala ? das sagte er so einfach, als wüsste das jeder Mensch. Aber ich hatte noch nie etwas davon gehört. Nangijala, sagte ich, wo liegt denn das? Da sagte Jonathan, das wisse er auch nicht genau. Es liege irgendwo hinter den Sternen. Und er fing an, von Nangijala zu erzählen, so dass man fast Lust bekam, auf der Stelle hinzufliegen. Dort ist noch die Zeit der Lagerfeuer und der Sagen, sagte er, und das wird dir gefallen. ? Die Brüder Löwenherz. 1