COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. 10.11. FG: Chaos und Ordnung - zur Aktualität der Selbstorganisation Zum 100. Geburtstag von Heinz von Foerster Von Matthias Eckoldt Sprecherin Autor Zitator Im O-Ton: * Heinz von Foerster * Dirk Baecker, Dirk Baecker, Systemtheoretiker und Professor für Kulturtheorie und - analyse an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen. * Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaften von der Universität Tübingen * Fritz B. Simon, Gründungsprofessor des Lehrstuhls für Organisationsberatung an der Universität Witten/Herdecke Regie: Musikakzent. Unterlegen (1)O-Ton(Pörksen 34:04): Aus meiner Sicht hat das Selbstorganisationsparadigma ... gerade heute eine besondere Aktualität. Autor: Das Konzept der Selbstorganisation befasst sich mit dem Phänomen, dass unter bestimmten Bedingungen aus Chaos Ordnung entsteht. Und das auf den verschiedensten Ebenen: Aus einer Ansammlung von Aminosäuren kann plötzlich eine lebendige Zelle werden. Eine Fülle von Geld-Transaktionen kann eine Bank oder ein ganzes Finanzsystem erschaffen. Eine Vielzahl gesellschaftlicher Handlungen kann bestimmte soziale Systeme wie das Rechts-, das Politik- oder das Kunstsystem herausbilden. (2)O-Ton(Simon dito): Wenn man intellektuell redlich ist, landet man bei Selbstorganisationsmodellen. Die Frage ist immer wieder: Was mache ich damit? Und diejenigen, die sich nicht sehr damit beschäftigen, kommen schnell zu dieser Idee, na ja, man kann nicht Einfluss nehmen. Doch, man kann Einfluss nehmen, aber eben unter anderen Bedingungen. (3)O-Ton(Pörksen dito): Die Forschung, mit der ich mich in meinem Fach - der Medienwissenschaft - beschäftige, führt einem die Aktualität von Selbstorganisationsprozessen beständig vor Augen. Man denke nur ... an die Bildung von mehr oder weniger klugen Mob-Formationen im Netz, an Schwarmphänomene insgesamt im Internet, die genau dies zeigen: Also organisierte Selbstorganisation. Man denke an die Entlarvung eines Politikers, der plagiiert hat. Da bildet sich ein Schwarm, der strikt auf Entlarvungskurs getrimmt, herausfindet, wie ist dieser Politiker eigentlich vorgegangen? Regie: Musik hoch und blenden Sprecherin: Bei Selbstorganisationsphänomenen sticht ins Auge, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. So wie der menschliche Körper weitaus mehr ist als seine einhundert Billionen Zellen, ist eine Firma mehr als ihre Mitarbeiter. Selbst das differenzierteste Wissen über die Körperzellen reicht nicht aus, um einen Menschen zu kreieren, ebenso genügt es nicht, die Mitarbeiter zu befragen, um ein Unternehmen zu verstehen. Es tritt etwas hinzu, um die neue Struktur zu ermöglichen. Das Konzept der Selbstorganisation beschäftigt sich mit jenem Etwas, das aus der Vielheit von Ereignissen eine neue Einheit zu schaffen vermag. Einen Menschen. Oder eine Firma. Autor: Die Ideen dazu stammen maßgeblich von dem österreichischen Physiker Heinz von Foerster. Als er Ende der vierziger Jahre in die USA kam, war dort gerade das erste große interdisziplinäre Forschungsprojekt im Gange. Wissenschaftler verschiedenster Provenienzen arbeiteten auf den so genannten Macy-Konferenzen an einer universalen Theorie der Steuerung und Regulation, die für Lebewesen ebenso wie für Maschinen oder ökonomische Prozesse gelten sollte. Die zentralen Begriffe der zehn folgenreichen Konferenzen unter der Schirmherrschaft der Josiah Macy Foundation hießen: Zitator: Information. Feedback. Analog/digital. Sprecherin: Heinz von Foerster referierte als Gast der sechsten Konferenz Ende März 1949. Zu dieser Zeit konnte Heinz von Foerster allerdings nach eigenen Aussagen nur auf einen Wortschatz von gerade einmal einhundert englischen Vokabeln zurückgreifen: Zitator: Als man mich wieder hineinbat, verkündete mir der Vorsitzende Warren McCulloch, dass man aufgrund meiner schlechten englischen Sprachkenntnisse bemüht sei, für mich eine Möglichkeit zu finden, wie ich mir diese Sprache möglichst schnell und gründlich aneignen könnte. Sprecherin: ... erinnert sich Heinz von Foerster in seinem Buch KybernEthik. Zitator: Mir wurde aufgetragen, den Sitzungsbericht der Konferenz zu verfassen, der so schnell wie möglich herausgegeben werden sollte. Ich war völlig platt! Nachdem ich mich wieder gefaßt hatte, sagte ich, dass mir der Titel der Konferenz "Zirkulär-kausale Rückkoppelungsmechanismen in biologischen und sozialen Systemen" zu schwerfällig erscheine, und ich mir überlegt hätte, ob diese Konferenz nicht einfach "Kybernetik" heißen und die gegenwärtige Bezeichnung als Untertitel benutzt werden könnte. Sprecherin: Das war nicht nur die Geburtsstunde der Kybernetik, sondern auch der Forschungen zur Künstlichen Intelligenz. Denn wenn man die Regelungsprozesse im Gehirn des Menschen verstand, musste es prinzipiell möglich sein, dieses Gehirn technisch nachzubauen. (4)O-Ton(Pörksen 06:45): Heinz von Foerster hat die zunächst sehr unschuldig wirkende Frage gestellt: Was braucht man eigentlich, um ein Gehirn zu verstehen und um es dann zu bauen? Autor: Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaften von der Universität Tübingen, der mit Heinz von Foerster das Buch "Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" geschrieben hat. (5)O-Ton(Pörksen) Also: Was braucht man, um ein Gehirn zu verstehen? Und seine Antwort war: Man braucht ein Gehirn! Und auf diese Weise, in der Spur dieses Denkens ist sein Gespür für diese eigentümliche Zirkularität des Erkenntnisprozesses entstanden. Denn es ist ein Gehirn, das ein Gehirn beschreiben und es schließlich bauen will. Das ganze Denken rutscht in eine eigentümliche ... Zirkularität hinein. Und in der Konfrontation mit diesen sehr mechanistisch orientierten Kybernetikern hat er dann seine Denkrichtung, die Kybernetik zweiter Ordnung, entwickelt. Autor: Die Kybernetik zweiter Ordnung ist die Kybernetik der Selbstorganisation. Sprecherin: In seinen Forschungen am Biologischen Computerlaboratorium der Universität von Illinois brach Heinz von Foerster radikal mit der herkömmlichen Wissenschaftstradition. Er versuchte nicht mehr nach dem Ursache-Wirkungs- Prinzip Stufe um Stufe ins Innere vorzudringen und den Kern der Phänomene zu ergründen, sondern beobachtete, wie sich die Forschungsobjekte verhielten. Autor In der Kybernetik nennt man diese bei komplexen Systemen angewandte Methode das Black Box Prinzip. Das heißt, die Funktionsmechanismen des Untersuchungsgegenstands verschwinden - ob nun tatsächlich oder im Gedankenexperiment - in der Dunkelheit. Die gesamte Konzentration des Kybernetikers richtet sich auf die Reaktionsweise des Forschungsobjekts. Man kann mit diesen Untersuchungsmethoden also nicht sagen, wie ein komplexes System etwas macht, wohl aber was es macht. Sprecherin: Auf diese Weise versuchte Heinz von Foerster den Unterschied zwischen dem Menschen und technischen Systemen heraus zu bekommen. Seine Schlussfolgerungen goss der brillante Rhetoriker in eine eingängige Formulierung und sprach von zwei Arten von Maschinen: Autor: Der trivialen und der nicht-trivialen Maschine. Heinz von Foerster: (6)O-Ton(Foerster2): Eine triviale Maschine besteht darin, dass sie immer wieder dasselbe tut. ... Wenn Sie heute in ein Geschäft gehen und wollen ein Auto kaufen. Was wollen Sie von dem Auto? Dass es eine triviale Maschine ist. Also wenn Sie sich hineinsetzen und fahren heraus und drehen das Steuer nach rechts, fährt das Auto nach rechts, steigen Sie auf die Bremse, wird es langsamer, steigen Sie aufs Gas wird es schneller. Dann steigen Sie eines Tages auf die Bremse, und es bleibt nicht stehen. Was machen Sie? Sie holen einen Trivialisateur, und der macht wieder die Bremse, so dass sie funktioniert. Das Schreckliche ist, dass mit dieser Liebesaffäre auch mit Elementen umgegangen wird, die prinzipiell nichttrivial sind. Denken Sie an unsere Kinder, die absolut nichttriviale Maschinen sind. Man fragt sie: Wieviel ist zwei mal zwei, sagen sie: Grün. Na das geht so nicht weiter. Daher schickt man sie dann sofort in eine staatliche Trivialisationsmaschine, so dass sie lernen zu sagen, zwei mal zwei ist vier. Regie: Musikakzent Autor: Das entscheidende Merkmal einer nichttrivialen Maschine wie der des Menschen ist ihr innerer Zustand. Alle Handlungen, die eine solche Maschine ausführt, verändern diesen inneren Zustand. Sprecherin: Das Besondere dabei ist, dass die Veränderung des inneren Zustandes ihrerseits das Handeln der Maschine verändern kann, so dass ein gleicher Input - anders als bei trivialen Maschinen - nicht den gleichen Output zur Folge haben muss. (7)O-Ton(Simon 08:15): Natürlich, es gibt Maschinen. Triviale Maschinen. Autor: Fritz B. Simon, Gründungsprofessor des Lehrstuhls für Organisationsberatung an der Universität Witten/Herdecke. (8)O-Ton(Simon): Kaffeemaschinen. Ich hab auf den Knopf gedrückt und der Kaffee kam. Wunderbar! ... Aber Menschen sind nicht so! Ganz Vieles, was in der Wissenschaft vorausgesetzt wird, folgt diesem Maschinenmodell. Aber da, wo es spannend ist - zwischen Ihnen und mir: Ich erzähle Ihnen ein Witz, Sie lachen, wenn er gut ist. Ich erzähle ihn Ihnen zwei Mal, Sie lachen schon weniger, und wenn ich Ihnen das fünfundzwanzigste Mal erzähle, schlagen Sie mir den Schädel ein. Also diese Wiederholbarkeit nach dem Motto gleiche Ursache hat gleiche Wirkung stimmt hinten und vorn nicht. Autor: Trotzdem aber neigt die abendländische Wissenschaft dazu, nicht nur die trivialen, sondern auch die nichttrivialen Maschinen in kausale Erklärungsmuster zu pressen. Aristoteles, wurde mit der Denkfigur des Syllogismus - des logischen Schlusses - zum Taktgeber der abendländischen Logik, Er demonstrierte, wie stringent sich aus zwei Prämissen eine Schlussfolgerung ableiten ließ. Sprecherin: Obersatz: Zitator: Alle Menschen sind sterblich. Sprecherin: Untersatz: Zitator: Sokrates ist ein Mensch. Sprecherin: Schlussfolgerung: Zitator: Sokrates ist sterblich. (9)O-Ton(Simon dito): Aber Menschen sind nicht so. Autor: Sterblich sind wir Menschen schon, aber so lange wir leben sind wir von unserem Verhalten her nicht trivial. Wir verhalten uns nicht - oder zumindest nicht nur - kausallogisch, sondern selbst- beziehungsweise innengesteuert. Wir sind zukunftsoffene Systeme, von uns ist immer noch etwas anderes als das Erwartbare zu erwarten. Wäre dem nicht so, könnten wir von niemandem überrascht werden und niemanden überraschen. Weder positiv noch negativ. Sprecherin: So verwundert es nicht, dass Heinz von Foerster nur beißenden Spott für den Behaviorismus übrig hatte, der mit seinen Reiz/Reaktions-Modellen das Lebendige auf kausale Logiken zu reduzieren suchte. Pawlow's nobelpreisgewürdigte Untersuchungen zum konditionierten Reflex waren so etwas wie der Heilige Gral der wirkmächtigsten Verhaltenslehre des zwanzigsten Jahrhundert. (10)O-Ton(Foerster 23:15): ... Also da hat er den Hund auf den Tisch gestellt, da war ein großes Fenster, da war ein kleines Fenster, der Assistent im weißen Kittel und hat dem Hund das Fleisch gezeigt. Natürlich ist ihm das Wasser im Mund zusammengelaufen. In der Fachsprache heißt das saliviert. Dann hat man ihm das Stück Fleisch gegeben, gleichzeitig hat man eine Glocke geläutet. ... Zum Schluß kommt der Assistent herein, hat gar kein Fleisch, da klingelt die Glocke, der Hund saliviert. ... Ein polnischer Experimentalpsychologe hat diese Experimente wiederholt. Also: Ein Hund, großes Fenster hier, kleines Fenster da, Assistent im weißen Kittel, Glocke geläutet etc. Alles ist gegangen wie am Schnürchen. Jetzt kam das experimentum crucis: Konorski, der Experimentator, hat heimlich den Klöppel aus der Glocke genommen. Also, der Assistent kommt rein, nimmt die Glocke: stumm. Der Hund saliviert! Also hat natürlich Konorski gesagt: Wie man sieht war das Klingeln ein Reiz für Pawlow, aber nicht für den Hund. Und leider muss ich Ihnen sagen: Konorski hat dafür nicht den Nobelpreis bekommen. Regie: Musikakzent Sprecherin: Mit der Neubestimmung des Verhältnisses von Reiz und Reaktion im Zeichen der Selbstorganisation demonstrierte Heinz von Foerster, was seine zirkuläre Logik zu leisten in der Lage war. In den Arbeiten des Schweizer Psychologe Jean Piaget fand er die entscheidenden Anregungen. Autor: Piaget untersuchte in den neunzehnhundertdreißiger Jahren, wie Kleinkinder die sie umgebende Welt der Dinge erkunden. Dabei fand er heraus, dass die Gegenstände nicht von vornherein durch das Gehirn erkannt werden können. Vielmehr müssen sie im Wortsinn b e g r i f f e n werden. Und das ist die Aufgabe von Sensorik und Motorik. Piaget nennt diese Phase der Entwicklung von null bis zwei Jahren dann auch die Erlangung der sensomotorischen Kompetenz. Zitator: Die Phase, die sich von der Geburt bis zum Spracherwerb erstreckt, ist durch eine außergewöhnliche Entwicklung des Denkens gekennzeichnet. Autor: ... schreibt Jean Piaget. Zitator: Es handelt sich dabei in der Tat um nichts Geringeres als um die Eroberung des Handlungsuniversums, das das kleine Kind umgibt. Im Alter von achtzehn Monaten oder zwei Jahren bewirkt diese sensomotorische Assimilation der unmittelbaren Außenwelt eine kopernikanische Wende en miniature. Am Anfang dieser Entwicklung zieht das Neugeborene alles an sich, während es am Ende dieser Phase praktisch nur ein Element oder eine Größe unter anderen in einem Universum geworden ist, das es Schritt für Schritt selbst konstruiert hat, und das es schließlich mit Bezug auf sich selbst als extern erfährt. Autor: Durch das fortwährende Heranziehen, Betasten und Wegwerfen diverser Gegenstände lernen Kleinkinder, in kompetenter Weise mit den Gegenständen umzugehen. Heinz von Foerster hat Piagets Erkenntnisse unter kybernetischen Gesichtspunkten betrachtet und kam zu dem Schluss, dass die Ur-Situation menschlicher Gegenstandwahrnehmung in einem zirkulären Regelkreis läuft. (15)O-Ton(Heinz 8:35): Wenn Sie sowas haben, dass der Ausgang eines solchen Systems wieder zum Eingang wird, dann passiert etwas ganz Erstaunliches: Nach einiger Zeit läuft ein solches System in stabiles Verhalten. ... Wenn Sie zu Hause einen Taschenrechner haben, dann geben Sie irgendeine Zahl ein und drücken auf die Wurzeltaste, dann drücken Sie wieder auf die Wurzeltaste, und so gehen Sie Wurzel für Wurzel runter, und Sie werden sehen, dass die Zahlen immer mehr zur Eins gehen. Schließlich sind Sie bei Eins angekommen. Naja, das ist ja auch verständlich, denn die Wurzel aus Eins ist Eins. Und diese stabilen Werte, die durch eine rekursive Operation solcher nichttrivialen Maschinen erreicht wird, nennt man Eigenwerte, der Eigenwert zu dem System. Autor: Die konkreten Gegenstände stellen also keine objektive, unveränderliche Welt dar, sondern erscheinen als Eigenwerte unseres Wahrnehmungssystems. Wir erfahren von unserer Umgebung nur zu unseren eigenen Bedingungen. Sprecherin: Die Außenwelt rieselt nicht in uns hinein wie Schneeflocken in ein zerstörtes Dach, sondern wir selbst sind es, die jene Außenwelt konstruieren. Wir streichen die Dinge farbig, wir lassen die Nachtigall jubilieren, wir erzeugen die Gegenstände. Autor: Die erklärtermaßen anti-behavioristische Pointe dieses Gedankengangs lautet: Zitator: Nicht der Reiz, sondern der Organismus ist für sein Verhalten verantwortlich! Autor: Nichttriviale Systeme wie Menschen können nicht von außen gesteuert werden, sondern sie steuern sich selbst. Regie: Folgende O-Töne durch ähnliches Musikmotiv wie am Anfang trennen. (16)O-Ton(Pörksen 15:00): Die zentrale Denkfigur, um die es stets ging, war die Denkfigur der Autonomie. ... Von diesem Autonomiegedanken kommt man sehr schnell zum Begriff der Selbstorganisation. Denn was heißt Selbstorganisation? ... Selbstorganisation bricht mit dieser Vorstellung einer linear-kausalen, direkt durchgreifenden Kausalität: A erzeugt B, ein Außenreiz erzeugt eine bestimmte Reaktion. Selbstorganisation ist das spontane Entstehen von Ordnung innerhalb eines Systems. Und diese Entstehung von Ordnung ist nicht linear rückführbar auf einen Außenimpuls. Auf diese Prozesse hat Heinz von Foerster sehr früh aufmerksam gemacht, inspiriert durch seine eigene Abscheu letztlich vor mechanistischen Denkfiguren. (17)O-Ton(Baecker 16:56): Heinz von Foerster ... stellte sich vor ein Publikum von fünf Leuten, von 50 Leuten, von 500 Leuten - ganz egal - und fing an zu reden und alles hing gebannt an seinen Lippen, ... weil er sofort in das Problem hineinführte, um das es dann ging. Und dies mit einer Klarheit, die denkwürdig war. Autor: Dirk Baecker, Systemtheoretiker und Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen. (18)O-Ton(Baecker 17:45): Mit solchen Konzepten wie triviale Maschine/nicht triviale Maschine ... hat er letztlich nichts anderes getan, als dieses im 20. Jahrhundert aufgekommene Wissen um komplexe Phänomene auf den Punkt zu bringen und mit ganz wenigen, ganz harmlosen mathematischen und kybernetischen Mitteln Modelle bereitgestellt, die man sich in einer halben Stunde angucken kann, dann hat man sie begriffen und dann kann man auf ganz andere Weise mit diesen komplexen Phänomenen umgehen als vorher. (19)O-Ton(Simon 12:05): Heinz von Foerster hat sehr abstrakte Modelle entwickelt. Zum Beispiel das Modell der Eigenstruktur. ... Das ist sehr abstrakt, das sind mathematische Modelle, aber wenn man die mit Inhalten füllt und fragt: Was heißt das jetzt für unser soziales System - zum Beispiel für ein Unternehmen, dann wird es wieder plausibel. Und man guckt anders drauf, man konstruiert andere Erklärungsmodelle ... Aber diesen Transfer hat er nicht geleistet. ... Das müssen andere tun. Regie: Musik hoch und aus Autor: Das Konzept der Selbstorganisation sorgt in den einzelnen Fachwissenschaften für völlig neue Perspektiven. So ermöglicht es der Kommunikationswissenschaft, vom so genannten Übertragungsmodell wegzukommen, das ingenieurswissenschaftlich davon ausging, dass Sender ihre Botschaften einfach dem Empfänger übermitteln könnten. Sprecherin: Diese Vorstellung greift im Paradigma der Selbstorganisation zu kurz, da jede Information erst im Kopf des Empfängers erarbeitet werden muss. Und das geschieht eben nicht zu den Bedingungen des Senders, sondern zu denen des Empfängers. Autor: Ähnlich umstürzend wirkt die Konzentration auf selbstorganisierende Prozesse in der Pädagogik, die endgültig Abschied nehmen muss vom Traum des Nürnberger Trichters, mit dem man beliebig viel Wissen in den Kopf des Schülers einfüllen kann. (20)O-Ton(Pörksen 21:45): Ich glaube, man kann sagen, dass diese Idee der ... Selbststeuerung in ganz unterschiedlichen Disziplinen Anwendung gefunden hat, das sind aber interessanterweise allesamt Disziplinen, die sich mit einer entscheidenden Frage beschäftigen, nämlich: Wie verändert, wie transformiert man Menschen? ... Wenn wir versuchen, andere Menschen zu steuern, sei es in einem therapeutischen Setting, sei es in einem schulisch-pädagogischen Setting, dann werde wir ja permanent darauf verwiesen, dass unsere Kontrollideen, dass unsere Steuerungsideen nicht funktionieren ... in einem direkten, einem linearen Sinne. Außer man setzt auf Zwang und brutale Machtausübung. Auf diesem Zusammenhang hat (Heinz von Foerster) hingewiesen durch das Paradigma der Selbstorganisation ... auf eine Art andere Steuerungsidee, die eben nicht von den eigenen Zielen, von den persönlich privaten Ausgangspunkten ausgeht, sondern die davon ausgeht: Wie funktioniert eigentlich das System, das ich versuche zu steuern? ... Die entscheidende Inspiration liegt darin zu sagen: Fremdsteuerung funktioniert eigentlich nur nach Maßgabe der Eigensteuerung. Und diese Idee ist fundamental, weil es auf einmal heißt: Wir beschäftigen uns nicht damit, was wir jemandem beibringen wollen, sondern wir beschäftigen uns auf einmal mit dem Schüler, mit dem Gegenüber, mit dem, der lernen soll, den wir versuchen zu steuern. ... Um dann erst in einem zweiten und dritten Schritt darüber nachzudenken, was wir ihm beibringen. Regie: Musikakzent . Autor: Der Theorietransfer des Konzepts der Selbstorganisation in die Geisteswissenschaften ist eng mit der Entstehung der soziologischen Systemtheorie verbunden. Niklas Luhmann erarbeitete in Deutschland die Theorie sozialer Systeme, indem er den Foersterschen Gedanken der Innensteuerung lebendiger Organismen auf die verschiedenen gesellschaftlichen Teil-Systeme anwandte, wie: Zitator: Wirtschaft, Politik, Kunst, Massenmedien, Religion, Recht, Erziehung und Wissenschaft. Sprecherin: All diese Systeme sind, wie das Wahrnehmungssystem des Menschen bei Heinz von Foerster, operativ geschlossen. Das heißt, die Systeme bilden ihre Eigenwerte aus und beobachten die Umwelt unter einem je spezifischen Aspekt. Die Wirtschaft sieht nur Geldbewegungen, die Politik nur Machthandlungen und die Massenmedien sehen nur das je Aktuelle, mit dem sie ihre spezifische Welt aufbauen. Autor: Wenn man mit so einer Perspektive beispielsweise in die Bankenwelt geht, um deren Kommunikationsströme zu untersuchen, kommt man zu erhellenden Erkenntnissen. Der Luhmann-Schüler Dirk Baecker: (20)O-Ton(Baecker 11:00): Damals hatten wir in der Soziologie die Idee, dass Banken, die ja mit Risiken handeln, indem sie Kredite vergeben oder indem sie Einlagen aufnehmen, besonders viel über Risiken wissen müssen, und wir wollten es gleichsam als Paradigma für andere, die es auch mit Risiken zu tun haben bereitstellen und mussten dann zu unserer Überraschung feststellen, dass schon das Wort Risiko bei den Bankern, die in den Banken beobachten, was Banken tun, eher ein Erschrecken ausgelöst hat, und sie gesagt haben: Nein, wir handeln doch nicht mit Risiken, sondern mit Sicherheiten. Das Stichwort Risikomanagement war damals, Ende der achtziger Jahre, überhaupt noch nicht verbreitet in den Banken, so dass wir es mit einer sozialen Organisation - der Bank - zu tun hatten, die auf extrem raffinierte und subtile Art und Weise mit den Risiken handelte, ohne darüber Auskunft zu geben, wie sie das tat, das heißt, dass sie über eine unzureichende Selbstbeobachtung verfügte, die sicherlich mit einen Anteil daran hat, dass es dann dort später zu den bekannten krisenhaften Entwicklungen kam. Autor: Geschlossene Systeme wie Menschen oder Banken können die Realität nicht objektiv beobachten, sondern sie bauen sich nach der Heinz-von-Foersterschen Eigenwerttheorie ihre eigene Welt auf. Sie sind nicht fremdgesteuert, sondern sie steuern sich selbst. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass trotz fieberhafter Bemühungen kein rechtes Mittel gegen die Bankenkrise gefunden wird. Sprecherin: Möglicherweise fehlt den Entscheidungsträgern ein Gespür für die zirkuläre Logik des sich selbstorganisierenden Wirtschaftssystems, und so wird mit monokausal wirkenden Vorschriften versucht, ein hochkomplexes System in den Griff zu bekommen. Autor: Doch ist nicht mit der Konzeption der Selbstorganisation geradezu zwingend verbunden, dass man von außen letztlich überhaupt keinen Einfluss mehr auf ein System nehmen kann? (21)O-Ton(Simon 20:40): Was mich beschäftigt, ist die Beziehung zwischen Organisationsstrukturen - und das sind Kommunikationsstrukturen - und dem Einzelnen, der da mitmacht - denn er müsste ja nicht mitmachen - diese Wechselbeziehungen, die finde ich sehr spannend. Unter welchen Organisationsbedingungen entwickelt jemand ein Burn-Out, oder unter welchen Organisationsbedingungen bringen die Leute sich um und springen aus dem Fenster. Oder unter welchen Organisationsbedingungen arbeiten die Leute lustvoll und kreativ und haben Freude dran. Also das ist eine spannende Frage und da kann man durchaus Einfluss nehmen. Auch das sind Selbstorganisationsphänomene, aber Selbstorganisation heißt eben nicht, dass ich nicht Einfluss nehmen kann, sondern dass ich immer damit rechnen kann, dass noch mehr oder auch viel weniger passiert, als ich denke. Dass ich das eben nicht nur einfach so steuern kann. Autor: In diesem Sinne hat Heinz von Foerster mit seiner Konzeption der Selbstorganisation ein bleibendes Irritationspotenzial geschaffen. Wo immer jemand zu wissen vorgibt, was gut und richtig für andere sei, ist dem mit Verweis auf die Innensteuerung lebendiger und sozialer Systeme entschieden zu widersprechen. Sprecherin: Man kann den anderen anregen, man kann ihn einladen, mitzuspielen und über Handlungsoptionen nachzusinnen, aber man hat schon aus erkenntnistheoretischen Gründen kein Recht, einem anderen etwas vorzuschreiben. Autor: So steckt in der Theorie der Selbstorganisation letztlich ein neues Welt- und Menschenbild, das radikal Abschied nimmt von Zwang und Kontrolle. (23)O-Ton(Simon 31:30): Das ist bei Managern gut zu beobachten: Die Hoffnung alles unter Kontrolle zu bekommen. Kriegt man nicht! Aber es ist ja auch viel lustiger, wenn man nicht alles unter Kontrolle hat. Wäre ja schrecklich, wenn man alles unter Kontrolle hat. Dieser Kontrollideen sind doch mit dem realexistierenden Sozialismus gestorben. Das war doch ein großer Feldversuch, dass man alles steuern kann, planen kann, durchkontrollieren kann. Das ist einfach nicht sexy. ... Es ist nicht wirklich ein lustvolles Leben. Weder für den, der alles unter Kontrolle hat - vielleicht für den noch, aber da muss er auch schon spezifische psychische Strukturen haben - das ist durchaus behandlungsbedürftig und schwierig zu behandeln, aber für alle andere sicherlich nicht. Es ist unkreativ. Regie: Musikakzent Autor: Heinz von Foerster wurde oft als Sokrates der Kybernetik bezeichnet. Tatsächlich verstand er es wie das antike Vorbild für die Brüchigkeit und Bedingtheit des menschlichen Wissens zu sensibilisieren. Eine weitere Parallele zu dem griechischen Philosophen bestand darin, dass er jede Form der Schulenbildung ablehnte. Wenn man Heinz von Foerster als Begründer des Konstruktivismus bezeichnete, sagte er, dass er gar nicht wüsste, was das sei. Sprecherin: Und das, obwohl diese philosophische Richtung, die sich mit der Konstruktion von Erkenntnis durch selbstorganisierende Systeme befasst, auf den Einsichten Heinz von Foersters beruht. (22)O-Ton(Pörksen 31:35): Er hat sich gestört an diesem Denken, das sich an Labels und Etikettierungen orientiert. Das hat ihn wirklich zutiefst in Rage gebracht. Sein Argument war, ein solches Denken ... der vorschnellen Etikettierungen verhindert den Dialog, verhindert das Gespräch, verhindert die ... tiefergehende Auseinandersetzung mit den Inhalten, um die es ihm ging. ... Nämlich die Eigenverantwortung für die eigene Wirklichkeitskonstruktion und die Verabschiedung einer mechanistischen Idee von Fremdsteuerung. ... Die Tatsache, dass heute seine Überlegungen in Schulbüchern auftauchen, dass Schüler abgefragt werden, was ist denn die Kybernetik zweiter Ordnung und welche bahnbrechenden Dinge hat denn Heinz von Foerster über das Selbstorganisationsparadigma gesagt? Diese Tatsache hätte ihn zutiefst entsetzt. Er hätte sie als Zerstörung seiner Ideen begriffen und sicher als Aufforderung, sich sehr schnell aus dem Diskurs zu verabschieden und weiterzugehen. Ganz nach dem sokratischen Prinzip: Die eigenen Wahrheiten sind es und die Wahrheit der anderen, die es zu erschüttern gilt. Regie: Musikakzent (24)O-Ton(Foerster 11:30): Wahrheit! Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Also, wie ich da drauf gekommen bin, war ich ganz stolz. Da habe ich einen Freund, der in der Geschichte der Philosophie sehr bewandert ist, dem habe ich gesagt: Ich habe eine dolle Entdeckung gemacht: Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners! Sagt der: Nunja, ganz interessant, da hast Du endlich was gesagt, was schon jemand vor vierhundert Jahren gesagt hat. Welche Enttäuschung! Wer hat denn das gesagt? Nikolas von Kues! Der hat folgendes gesagt: Im Himmelreich, im Reich Gottes, ist alles wahr. Naja, aber wenn alles wahr ist, dann braucht man ja nicht sagen, dass alles wahr ist. Denn etwas, was zu allem gehört, braucht nicht genannt zu werden. Wo aber kommt dann die Wahrheit her? Wenn das, was so ist, beschrieben wird durch den Menschen, dann kann die Lüge auftauchen. Erst durch den Lügner entsteht die Idee der Wahrheit. Sag ich: okay, da habe ich doch wenigstens jemanden, auf den ich zurückfallen kann, ich bin nicht mehr allein. Regie: Musik hoch und Schluss.