Manuskript Kultur und Gesellschaft Reihe : Forschung und Gesellschaft Titel : Vom Wut-Bürger zum Mut-Bürger. Diplomstudiengänge für bürgerliche Kompetenzen Autor : Matthias Eckoldt Redakteur : René Aguigah Sendung : 3. Mai 2012 / 19:30 Uhr Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Im O-Ton: * Bazon Brock, Ästhetik-Professor und Kunstvermittler * Peter Sloterdijk, Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe *Wolfgang Ullrich, Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der HfG Karlsruhe * Markus Gatzen, Vorsitzender der Medizinischen Klinik Marienhospital Aachen * Patrick Schneider, Organisator der Profi-Bürger-Ausbildung an der HfG Karlsruhe * werdende Profi-Bürger Regie: Musikakzent, dann unterlegen. Bei Absätzen kurz hoch. (1)O-Ton(Brock 1:30): Ein Politiker ist gezwungen zu lügen. Warum? Würde er ... die Wahrheit über die finanzielle Situation ... sagen, dann gäbe es eine Panik und innerhalb kürzester Zeit wären die Banken gestürmt und das System bankrott. So sagt jetzt jeder Politiker ...: Wir dürfen die Wahrheit nicht sagen, weil sie dann zu dem Resultat führt, das wir verhindern wollen, also besteht die ethische Pflicht zu lügen. Wenn sich das in der Bevölkerung einmal rumgesprochen hat, ... dann steht alles unter Verdacht ..., gelogen zu sein. ... Wo man hinguckt, ... die repräsentative Demokratie ist für den Hund, da ist nichts mehr zu retten, gar nichts mehr. (1,30') Regie: Musik hoch und wegblenden. Sprecher: Aus dieser zugespitzten Analyse der Gegenwart leitet der Ästhetik-Professor, Aktionskünstler und notorische Querdenker Bazon Brock die Notwendigkeit eines neuen Bürgerbewusstseins ab: Wenn die Institutionen der modernen Gesellschaft ihren von den Bürgern gewährten Vertrauensvorschuss ebenso fahrlässig wie nachhaltig verspielen, sei es an der Zeit, die Dinge wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Sprecherin: Und das heißt für Brock und seine Mitstreiter an der Hochschule für Gestaltung: Den Bürger zu professionalisieren. Aus dem Wut-Bürger von heute soll der Mut- Bürger von morgen werden. Der Weg vom Amateur zum Profi in eigener Sache wird in Karlsruhe derzeit im fünften und abschließenden Semester in den Kernbereichen zeitgenössischer bürgerlicher Kompetenzen gelehrt. Jeder Interessierte kann sich ohne Einstiegshürden in fünf verschiedenen Fakultäten ausbilden. Als: Zitator: Zum Diplom-Wähler, zum Diplom-Rezipienten, zum Diplom-Konsumenten, zum Diplom-Patienten und zum Diplom-Gläubigen. (2)O-Ton(Sloterdijk 3:40): Das ist auch am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht anders als in früheren Zeiten: Demokratie und Bürgertum sind in sich selber gespaltene Produkte, weil sie nie auf der Höhe dessen sind, was sie eigentlich zu sein vorgeben. Man kann dazu eine zynische und eine konstruktive Haltung einnehmen. Die zynische ist die der Mehrheit, dass man die Dinge einfach laufen lässt. Und die konstruktive Haltung, wie sie von Bazon Brock und einigen Mitstreitern des Diplom-Bürger-Unternehmens hier in Karlsruhe gewählt worden ist, besteht darin, dass wir versuchen, daran zu arbeiten, diesen großartigen belasteten, unterqualifizierten Bürger Mittel an die Hand zu geben, sich auf die Höhe seiner Aufgabe zu heben. (50''/3,30') Sprecherin: Peter Sloterdijk hat seine institutionelle Macht als Rektor genutzt, um die Ausbildung der Profi-Bürger im Rahmen des Studium Generale an der Hochschule für Gestaltung zu ermöglichen. Sprecher: Was den für die Diplom-Wähler zuständigen Philosophen inhaltlich interessiert ist das Dilemma des Bürgers. Wenn man die Notwendigkeit seiner Professionalisierung verstehen möchte, hilft es, sich das Erscheinen des Bürgers auf der historischen Bühne genauer anzusehen. (3)O-Ton(Sloterdijk 0:55): Der Bürger ist ein geschichtlich sehr unwahrscheinliches Geschöpf, der dann als Citoyen in der Französischen Revolution zu einem weltgeschichtlichen Subjekt mutiert, das von sich selber glaubt, es könne Geschichte machen, indem es die Geschichte der Könige beendet und die Geschichte der zivilen Mächte ... eröffnet. Und es stellt sich heraus, dass dieses grandiose Projekt in unermessliche Überforderungen geführt hat, denn dazu musste man ja eine Population heranziehen, die qualifiziert war, all diese großartigen Dinge zu unternehmen, die sie sich selber auf die Fahnen geschrieben haben. Und seit es das Bürgertum gibt, ist es immer unterhalb seines eigenen Begriffs, wenn man so sagen darf. Und bei diesem Befund setzen wir an. (1,30'/5,30') Sprecher: Die Geschichte des Bürgertums ist eng mit dem Projekt der Aufklärung verknüpft. Kants Forderung nach dem 'Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit' ist nur die vielzitierte Spitze dieses Eisbergs. Gegen die Deutungshoheit der Kirche und gegen die Anmaßungen der Schichtengesellschaft insistiert die Aufklärung zeitgleich mit der Französischen Revolution auf Vernunft und rationalem Handeln. Daraus jedoch einen Freibrief für Besserwisserei und Überheblichkeit der Wissenden gegenüber den Nicht- Wissenden abzuleiten, wäre ein glattes Missverständnis. Sprecherin: Erhellend für den Geist der Aufklärung sind Kants epochemachende Fragen, denen man seine drei großen Kritiken zuordnen kann: Zitator: Was kann ich wissen? Was kann ich tun? Was darf ich hoffen? Sprecherin: Diese Fragen verdeutlichen, dass es Kants Aufklärung gerade nicht um den prometheischen Menschen ging, der kraft seiner Vernunft alles zu schaffen vermochte, was er wollte. Vielmehr wurden die grundsätzlichen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis in den Blick genommen. Kant fasst das im Begriff der Transzendentalität. (4)O-Ton(Brock 20:00): Unser Ansatz ist folgender: Die Aufklärung bestand nicht darin zu sagen, wir bestehen auf Rationalität, Faktizität und Kalkül, ... sondern was heißt ... rational begründet? Die Grenzen der Aussagekraft seines eigenen Anspruchs zu kennen, also Kants Transzendentalprinzip: Bis hier wissen wir etwas, darüber hinaus nicht. ... Rational verhält man sich, wenn man die Grenzen seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit kennt. ... Dann erzeugt man mit der Grenze die notwendige Orientierung auf das Jenseits der Grenze. Das ist das Irrationale. Also hat die Aufklärung gesagt, aufgeklärt ist, wer weiß, dass man mit der Rationalitätsforderung das Irrationale erst zum Thema macht. ... Dasselbe gilt bei Fakten. ... Wer auf Fakten besteht, erzeugt die Orientierung auf das Nichtfaktische, nennen wir es Kontrafaktisches. ... Kontrafaktisch bedeutet in diesem Sinne etwas, was die Gemeinschaft, die eine Kultur bildet, sich angeeignet hat, um sich von anderen zu unterscheiden. ... Das hat ja mit der Realität nichts zu tun. ... Genauso beim Kalkül. Wer sagt, alles im Westen muss einem Kalkül entsprechen, dann muss es auch ein Verhalten geben, dass sich dem Kalkül entzieht. Das nennen wir Absurdität oder Liebe. ... (26:25) Also müssen wir den Profi-Bürgern beibringen, mit der Irrationalität vernünftig umgehen zu können, mit dem Kontrafaktischen tatsächlich rechnen zu können und zu wissen, dass Glaubensüberzeugungen ... nicht mit ... Hinblick auf das Kalkül widerlegbar sind. (1,30'/8,15') Sprecher: Wendet man diese Perspektive von Bazon Brock auf den Konsum in der westlichen Welt an, springt einen das Kontrafaktische, das Irrationale und das Jenseits des Kalküls förmlich an. Sprecherin: Irrational ist sicherlich die Fülle der Angebote von Produkten mit demselben Gebrauchswert. Es wird in der Tat nicht leicht sein, eine rationale Begründung dafür zu finden, warum so viele verschiedene Arten von Duschgels und Papiertaschentüchern und Bohrmaschinen und Wassersorten um unsere Aufmerksamkeit buhlen, wo doch jedes einzelne Produkt seinen Zweck hinreichend erfüllt. Sprecher: Als kontrafaktisch kann man den Glaubenssatz der Konsumgesellschaft sehen, dass die Käufer sich mit Dingen ausstaffieren, die im Grunde niemand wirklich braucht. Bei einem Gang durch das nahe gelegene Kaufhaus wird man sich rasch auch von diesem Aspekt der Warenwelt überzeugen können, wenn man sich einmal zwingt, jene Abteilungen zu besuchen, die man ansonsten aus Desinteresse meidet. Sprecherin: Ebenso steht es mit dem Kalkül. Auch wenn bestimmte Elektronikfachmärkte oder Ein-Euro-Läden suggerieren, extrem hart zu kalkulieren, so ist doch im Phänomen des Kaufrauschs das Jenseits des Kalküls offen sichtbar. Sprecher: Wie also stellt sich der Karlsruher Studiengang in diesem Kraftfeld den Diplom- Konsumenten vor? (5)O-Ton(Ullrich 0:50): Das ist ein Konsument, der sehr bewusst und reflektiert seine Konsumentscheidungen trifft. Sprecherin: Wolfgang Ullrich hat als Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der HfG Karlsruhe die Ausbildung der Diplom-Konsumenten übernommen. (6)O-Ton(Ullrich dito): Man könnte auch sagen, ein diplomierter Konsument ist jemand, der die Kulturtechnik beherrscht, mit der Unübersichtlichkeit der Kosumwelt lässig umzugehen, dem die hundert Produktvarianten in einem Laden keinen Stress bedeuten und auch nicht nur als Zeichen einer perversen Überflussgesellschaft wahrgenommen werden, sondern als etwas, was, wenn man die richtigen Kriterien anwendet auch beherrscht werden kann, auch einen großen Vorteil darstellt, weil man tatsächlich etwas findet, was einem entspricht. (1,15'/10,45') Sprecher: Dieser Ansatz ist ein semiotischer, was erst einmal nicht mehr bedeutet, als dass die Produkte nicht nur für ihren Gebrauchswert, sondern zugleich auch - zeichenhaft - für etwas anderes stehen. Jedes Produkt birgt - so verstanden - ein Inszenierungsangebot in sich und stellt an den Käufer verschiedene Image- Fragen: Regie: Musikakzent unterlegen. Sprecherin: Sehe ich mich als sportlich? Sehe ich mich als eher cool? Sehe ich mich als jemanden, der auf der Hightech-Welle surft? Bin ich naturverbunden? Oder will ich Ruhe, Entspannung und Harmonie? Sprecher: All diese Fragen stellen sich allein bei der Wahl eines einzigen Produkts aus dem Joghurtregal. (7)O-Ton(Ullrich 07:10): Mich interessiert, welche Mittel dazu beitragen, dass ein Produkt eine bestimmte Anmutung bekommt, dass es einen bestimmten Charakter hat, dass man ihm bestimmte Eigenschaften zuspricht. Das geht natürlich bei der Farbgebung los, bei der Materialwahl einer Verpackung. Aber das endet dann eben mit der Beschriftung oder mit der Art und Weise, wie das Produkt noch beworben wird im Kino oder in einer Printanzeige oder wo auch immer. Tatsächlich interessieren mich all diese Strategien der Aufladung eines Produktes mit all der Bedeutung, die über den Gebrauchswert hinausgeht. ... Wir können es Fiktionswert nennen, wir können es Emotionswert nennen, wir können es Identifikationswert nennen. Diese zusätzlichen Formen von Wertigkeit, ... dafür möchte ich die angehenden Diplom-Konsumenten sensibilisieren, dass sie sich da einfach auch bewusster sind, was da passiert. (50''/12,15') Sprecher: Wolfgang Ullrich setzt sich für die Ausbildung der Profi-Konsumenten ein ehrgeiziges Ziel. Denn der bewusste Konsument wandelt immer auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite droht der Abgrund der Konsumkritik, auf der anderen jener der rückhaltlosen Konsumbejahung. Sprecherin: Die Gratwanderung kann gelingen, wenn sich die werdenden Diplom- Konsumenten nicht vordergründig mit einem Kauf-, sondern mit einem Erkenntnisinteresse auf die Warenwelt einlassen. Dazu laden Angebote wie die Entschlüsselung der großen Erzählung ein, auf die jede Marketingkampagne zurückgreift. (8)O-Ton(Ullrich 09:45): Ich finde diese Denkfigur, die hier zur Anwendung kommt, sehr ähnlich wie die Denkfigur der Kulturkritik. ... Wo man erstmal davon ausgeht: Der Mensch ist entfremdet, nicht mehr bei sich. Er hat irgendetwas verloren. Und das muss wieder zurückgewonnen werden. Diese Art ... zu denken ist die herrschende in der heutigen Konsumkultur. Insofern werden wir eigentlich immer zu kleinen Antimodernisten erzogen, ... indem man uns erstmal immer klarmacht, ..., was uns fehlt, woran wir leiden, was unbedingt kompensiert werden muss. Diese Dramatisierung eines Defizits ist die erste und die primäre Aufgabe des Marketings. Und die zweite Aufgabe ist, in Aussicht zu stellen, was dieses drastisch in Szene gesetzte Defizit auch wieder beheben kann. ... Wenn ein Produkt Entspannung verspricht, muss das Marketing ja erst einmal darauf hinweisen, dass ich eigentlich im Stress bin, sonst habe ich ja keinen Anreiz, dieses Produkt zu kaufen. (1,10'/14') Sprecher: Sollte es tatsächlich gelingen, einen derart reflektierten Diplom-Konsumenten auszubilden, hätte das möglicherweise Folgen für die Warenproduktion. Denn die Konsum-Profis würden dann zu einer neuen Macht, die letztlich bestimmt, welche Produkte sich halten und welche nicht. Sprecherin: Wenn man sich nun weiterhin vorstellt, dass die Idee des Ausbildungsgangs in Karlsruhe Eingang in den Schulunterricht findet, und der bewusste Konsument zum Standard wird, wäre sogar so etwas wie eine flächendeckende Produktevolution möglich. Sprecher: Wolfgang Ullrich schreibt dazu in dem von Bazon Brock und Peter Sloterdijk herausgegebenen Sammelband "Der Profi-Bürger": Zitator: Ausgehend von der kritischen Arbeit, die Konsumbürger leisten, erscheint eine Zukunft denkbar, in der zwar einfache Massenartikel weiterhin ausschließlich profitorientiert hergestellt werden, sich zugleich jedoch eine Konsumhochkultur etabliert hat, mit deren Produkten anspruchsvollere Inhalte und gezielt ausgewählte Werte transportiert werden sollen. Für diese Produkte werden, ähnlich wie für qualitativ höherrangige Medien, engagierte Redakteure und Autoren zuständig sein, die auf konsumbürgerliche Initiativen eingehen, aber zugleich selbständig definieren, welche Themen, Motive und Ideen sie mit einer Marke stärken wollen. (DER PROFI-BÜRGER 2011) Regie: Musikakzent (9)O-Ton(Studierende 05:15): Wobei ich immer schon die Standpunkte vertreten habe. Aber ich bin hier bestärkt worden. ... Und dann kommen natürlich neue Aspekte, was den Konsumenten anbelangt. Und da passieren eben diese beiden Dinge. Man hat eine Drehung zu noch stärkeren Argumenten und fühlt sich auch bestätigt, in die Richtung weiterzugehen. Sprecher: Die angehenden Profi-Bürger nehmen den Studienbetrieb sehr ernst. Wohl mancher im universitären Regelstudium tätige Dozent hätte Grund zum Neid auf die eifrig mitschreibenden, lebhaft diskutierenden und freiwillig anwesenden Studenten. Das Alterspektrum reicht von Ende zwanzig bis Anfang achtzig. (10)O-Ton(Studierende 06:40): Ein sehr wichtiges Thema war hier immer der Konsum, die Konsumhaltung, die Verführbarkeit durch Produkte des industriellen Zeitalters und die umfangreichen und verführerischen Maßnahmen von den auch am Kapital interessierten Leuten, die uns zu einem Leben verführen, das wir vielleicht eigentlich gar nicht wollen. Dass wir lernen, etwas zu durchschauen und versuchen, auch wir selbst zu bleiben, ohne allen diesen Verführungen zu unterliegen. (11)O-Ton(Studierende 06:05): Wir haben unsere Sicht auf die Dinge verändert durch die Philosophie zum Beispiel. Und das ist eigentlich eine ganz wichtige Sache, dass man auch mal über seinen Suppentellerrand schaut. Und dafür ist das, was hier ins Leben gerufen worden ist, eine phantastische Sache, um sich noch mal ein anderes Bild machen zu können. Vom eigenen Leben und dem Leben, was um uns herum ist. (1,30'/17,15') (12)O-Ton(Isabelle 02:35): Also die Vorlesungen der verschiedenen Professoren und Künstlerpersönlichkeiten fand ich sehr sehr schön. Ich habe gesehen, dass viel .. Interesse da ist. Also es ist wirklich immer voll. Es ist spannend, es ist interessant., ... eigentlich müsste es so was überall geben. (20'') Sprecher: Noch einmal Peter Sloterdijk: (13)O-Ton(Sloterdijk 06:20): Man hätte ja das Publikum beleidigt, wenn man ihm auf den Kopf zu gesagt hätte, ihr seid bis heute ja nur triviale Bürger, ab morgen wollen wir euch als Diplom-Bürger sehen. Witzigerweise haben sich sehr viele diese Jacke anziehen, wollen, die keine Narrenjacke ist, sondern ein bürgerliches Ehrenkleid. Die vergangen zwei Jahre beweisen, dass das Angebot auf eine wirklich bewegende Weise von dem Publikum angenommen worden ist. Und nicht wenige wollten sich gleich in allen fünf Studiengängen, die wir angeboten haben, qualifizieren. Das ist übrigens auch eine der Grundideen von Bazon Brock, der sagte, wir müssen das System der Fakultäten, der verfestigten Universität vom Leben her neu durchdenken und auflockern. (24:30) Ich finde es sehr gut und sehr wichtig, wenn die Hochschulen etwas weniger hermetisch würden. Es muss nicht alles in Richtung Seniorenbetreuung laufen, aber dass es auch so etwas wie freiwillige Bildungsangebote der Hohen Schulen an die allgemein Interessierten geben soll, das scheint mir doch sehr plausibel zu sein. (1,30'/19') Regie: Musikakzent Sprecher: Das Programm der Profi-Bürger-Ausbildung in Karlsruhe ist auf fünf Semester angelegt. Auch im nun angelaufenen abschließenden Sommersemester ist der Zuspruch ungebrochen. Jeden Donnerstag versammeln sich um die dreihundert Leute im eigens für die Veranstaltungen hergerichteten Auditorium in der Kunsthochschule, die ansonsten aus konzeptionellen Gründen auf Hörsäle verzichtet. Sprecher: Die einzelnen Sitzungen haben den Charakter eines Vortrags mit Diskussion. Zumeist tritt der jeweils inhaltlich für einen Diplomstudiengang Verantwortliche selbst als Dozent auf, hin und wieder lädt er auch Gäste ein, in Ausnahmefällen stehen Exkursionen auf dem Programm. Sprecher: Nach Beendigung des letzten Semesters gibt es dann die Abschluss-Diplome für die Profi-Bürger. (14)O-Ton(Schneider 04:34): Es gibt eine Urkunde. Die stellt die Hochschule aus. Sprecher: Patrick Schneider ist Koordinator des Projekts an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. (15)(dito): Die Legitimation dieser Urkunde, die muss man sich als Profi-Bürger selbst ausstellen können. (03:40) Das Projekt des professionalisierten Bürgers hat ja selbst den professionalisierten Bürger im Blick. Und der ist ja kein Schüler, den man herbeizitiert oder herbeizwingt zu einer Veranstaltung, dem man dann auch ein Zeugnis ausstellt. .... Der Profi-Bürger ist natürlich auch frei zu kommen oder eben nicht zu kommen. (3:00) Man wird nicht nur allein dadurch, dass man zu den Veranstaltungen erscheint und sich hinsetzt und durch Zuhören partizipiert, sondern Profi-Bürger wird man letztlich, indem man sich im Alltag als solchen legitimiert. (45''/20,30') Regie: Musikakzent Sprecher: Markus Gatzen leitet den Studiengang des Diplom-Patienten. Er ist Klinik-Chef des Marienhospitals in Aachen. Diese Einrichtung ist eine der rühmlichen Ausnahmen im bundesdeutschen Gesundheitswesen, weil sie eine hohe Patientenzufriedenheit erreicht und trotzdem schwarze Zahlen schreibt. (16)O-Ton(Gatzen 21:38) Bei mir hat selbst autobiografische eine schwere Krankheit, ... zum ersten Mal in meinem Leben lebensbedrohlich krank gewesen zu sein ... an einer schweren Lungenentzündung - das Ganze mal aus der Patientensicht betrachtet zu haben. Aus der Patientenperspektive sieht dann der Medizinbetrieb doch wieder ganz anders aus. Und ich mich da bestätigt fühle, in den Einwirkungen, die ich bei meinen Patienten, aber auch bei meinem nachgeordneten Personal in einer großen Klinik immer wieder versuche darzustellen: Dass wir für das Interesse als Anwalt, als Kurator für den Patienten da sind. Kurare - die lateinische Vokabel - sich kümmern um, sich bemühen um. Mehr ist das nicht. Aber das müssen wir mit aller Präzision, mit allem Einsatz, mit allem Engagement tun. (45''/21,30') Sprecher: Im Karlsruher Profi-Bürger-Studiengang wird an einem neuen Selbstverständnis der Patienten gearbeitet. Der soll sich nicht länger als Objekt wissenschaftlichen Interesses und als Opfer medizinischer Routinen begreifen, sondern selbstbewusst auf ein neues Arzt-Patient-Verhältnis drängen. Sprecherin: Der Mediziner wird vom Diplom-Patienten nicht mehr als Gott in Weiß angesehen, sondern als eine Art Berater, der über Risiken und Nebenwirkungen verschiedener Handlungsmöglichkeiten aufklärt, den Heilungsprozess selbst jedoch als die Sache des Patienten ansieht und auf diesem Weg begleitend Hilfe zur Selbsthilfe anbietet. Sprecher: Dieser Perspektivwechsel ist grundlegend. Denn die geforderte Selbstbestimmung zieht Eigenverantwortung nach sich. Die Patienten können die Hoheit über ihren Krankheitsprozess nicht mehr delegieren, sondern haben die Pflicht auf Teilhabe, die zu allererst eine Informationspflicht ist. (17)O-Ton(Gatzen 36:00): Es ist ja auch oft gesagt worden, dass der stören würde der informierte Patient, dass der schwieriger zu handeln ist als Arzt, dass der gebildet oder verbildet ist durch Internet, durch Google. ... Nein, für einen Arzt ist der beste Patient der gebildete Patient, mit dem man auch diese Gespräche führen kann, dass eine Therapie auch riskant oder gefährlich sein könnte. Im Grunde ein reflektierendes Gespräch führen zu können, das ist für mich als Arzt der ideale Patient. (02:10) Das setzt voraus, dass der Patient sich mit seiner Krankheit beschäftigt. ... Wir müssen den Bürger informieren, unterrichten und ihm die individuell besten Vorschläge machen. Individualisierte Medizin ist ja ein Schlagwort, was hier eine Rolle spielt. Aber den besten Weg dem Bürger aufzuzeigen nach bestem Wissen und Gewissen, aber die Entscheidungshoheit behält der Bürger bei sich. ... Nicht ich habe die Syphilis, er hat die Syphilis und muss sich auch leider Gottes in diesem Fall mit der Syphilis beschäftigen. (1'/23,30') Sprecher: Die Ausbildung zum Profi-Patienten darf jedoch nicht verstanden werden als ein Schnelldurchgang durch das Physikum für Medizinstudenten. Frei nach dem Motto, "Wissen heißt wissen, wo es steht", bekommen die Interessierten Hinweise zu seriösen Quellen, bei denen man sich im Internet und Printbereich über bestimmte Krankheitsbilder informieren kann. Sprecherin: Auch ein Lektürekurs in Sachen Beipackzettel ist im Angebot, sowie die Arbeit am Selbstbewusstsein der werdenden Diplom-Patienten, die ermuntert werden, sich in der Arztpraxis weder von unverständlichen Krankheitsbildern noch von lateinischen Vokabeln einschüchtern zu lassen. Sprecher: Markus Gatzen liefert dazu noch Zahlen und Statistiken, die deutlich vor Augen führen, wie wichtig die Idee des selbstverantwortlichen Profi-Patienten ist: Zitator: 12,1 Millionen Notrufe werden pro Jahr in Deutschland registriert, das heißt, jeder siebente Deutsche kommt pro Jahr ein Mal in die Situation eines medizinischen Notfalls. (DER PROFI-BÜRGER 2011) (18)O-Ton(Gatzen 06:15): In Deutschland ist das so, dass nach in etwa acht Minuten, nachdem ich 112 gewählt habe, ein Notarzt an meiner Seite steht. Egal wo das ist, ob im Stadtzentrum von Aachen, oder ... auf der schwäbischen Alp oder in der hintersten Eifel der Fall ist. Nach acht Minuten ist ein Arzt an meiner Seite. Das ist einmalig in der ganzen Welt. Aber die ersten acht Minuten, die muss ich schon selber irgendwie überlebt haben. Und fragen Sie mal, wie viele Menschen tatsächlich einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben... Diese Erste-Hilfe-Kurse werden kostenlos angeboten, und es wird empfohlen, dass man das alle zwei Jahre routinemäßig wiederholt. Das machen aber nur 10-12 Prozent der Bevölkerung, und 88 Prozent machen das nicht. Der Normalfall ist, dass man zu seinem 18. Geburtstag einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht hat und danach nie wieder in seinem Leben. Das ist auch ein Punkt, wo man pfleglich mit sich selbst umgeht und sich aktiv als Bürger - in diesem Fall als professionalisierter Bürger - dafür sensibel wird und mit sich selbst in seinem ureigensten Interesse auseinander setzt. (1'/26') Regie: Musikakzent Sprecher: Bazon Brock ist in Karlsruhe neben der Gesamtkonzeption zur Professionalisierung des Bürgers für die Diplom-Rezipienten zuständig. Seine Bemühungen um eine Bildung des Publikums gehen bis ins Jahr 1968 zurück. Damals praktizierte er erstmals bei der Kasseler "documenta" eine Besucherschule. In seinen Kursen in Karlsruhe nun bekommen die Profi- Rezipienten Anregungen, wie sie auch der gern abqualifizierten zeitgenössischen Kunst auf Augenhöhe begegnen können. Sprecherin: Da die Künstler jahrelang an Staatlichen Hochschulen ausgebildet werden, erwartet Brock auch vom Ausstellungsbesucher eine Vorleistung. Im Idealfall sollte er einen Überblick über die Arbeiten zum Thema einer Ausstellung haben, so dass er vor Ort die Differenz von Gezeigtem und nicht Gezeigtem erfahren kann. Nur wenn man weiß, was alles von den Kuratoren nicht berücksichtigt wurde, so die These, kann man die Idee einer Ausstellung überhaupt erfassen. Sprecher: Ähnlich kühn sind Brocks Forderungen für die Rezeption von Texten. Brock fragt provokant: Zitator: Warum schreiben, wenn keiner mehr liest? (DER PROFI-BÜRGER 2011) (19)O-Ton(Brock 43:55): Im 17. Jahrhundert gab es wenig Leute, die Lesen und Schreiben konnten. Also mussten die Leute, die Lesen und Schreiben konnten, sich zusammenschließen. Der Zusammenschluss hieß Akademie. ... Heute haben wir dieselbe Situation. Rundrum lauter Analphabeten auf hohem Niveau, elektronisch erzeugte Analphabeten. Keiner liest mehr, auch die Wissenschaftler ja nicht mehr. Warum hat es dann noch Sinn, überhaupt zu schreiben? Also muss man wieder genau dasselbe machen. Bürgervereine, Akademien neu zu bilden, in denen alle, die drin sind, sagen: Ich verpflichte mich, das was meine Kollegen schreiben zu lesen, so wie die sich verpflichten, das, was ich schreibe, zu lesen. Das Verhältnis soll eins zu zehn sein. Ich soll also zehn Stunden Lesepflicht bei anderen auf mich nehmen, bis ich eine Stunde selber schreiben darf. ... Dann muss ich ausweisen durch die Fußnoten, dass ich tatsächlich gelesen habe. Was andere schreiben und nicht nur, wie das jetzt üblich ist, von Googelei einfach ne Latte runter hole und sage: Das hänge ich hinten an. 500 Titel und 3000 Anmerkungen. Aber alles Quatsch. Da steht dann: siehe auch - und dann kommt ein Werk von 700 Seiten. Was soll das? (1'/28') Regie: Musik Sprecher: Wenn im Sommersemester der Ausbildungsgang der Diplom-Bürger an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung zu Ende geht, ist die Idee der Professionalisierung des Bürgers allerdings nicht am Ende. Dem hat Bazon Brock bereits mit der von ihm gegründeten "Denkerei" vorgebaut. Zitator: Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen. Sprecherin: ... lautet die Selbstbeschreibung der Einrichtung im Berliner Bezirk Kreuzberg, das man auch "Amt zur Ausbildung von Profibürgern Teil 2" nennen könnte. Hier gibt es nicht mehr das straffe Curriculum wie in Karlsruhe, aber die Aktivitäten der Denkerei sind ebenso von der Grundidee getragen, dass es für uns Bürger an der Zeit ist, die Sachen in die eigenen Hände zu nehmen. Sprecher: So treibt der nimmermüde Aktionist des Denkens, Bazon Brock, seine Art der Bürger-Aufklärung weiter, um jeder Form des etablierten Denkens die Sicherheit zu entreißen, dass auf Probleme zwangsläufig auch Problemlösungen folgen. (20)O-Ton(Brock 33:20): Es ist sehr einfach sich klarzumachen, dass man Probleme bisher auf Erden immer nur gelöst hat, indem man neue Probleme schafft. Also man löst das Problem der Energieknappheit, indem man Atomkraftwerke einrichtet, die Atomkraftwerke erzeugen strahlenden Abfall. Und mit dem strahlenden Abfall wohin? Hat man letztendlich ein größeres Problem. Die Asse kostet jetzt Milliarden, und das ist ein wissenschaftliches Lager gewesen. ... So wie die Asozialen die Blechdosen auf die Straße feuern, haben die hochrangigen Wissenschaftler - finanziert von der Öffentlichkeit - die Fässer einfach in den Dreck geschmissen. ..... (34:45) Also soll man aufhören von Problemlösung zu reden, sondern von einem intelligenten Umgang mit prinzipiell unlösbaren Problemen. ... Solange der eine sagt: Ich löse es, her mit den Milliarden, der andere sagt: Ich löse es, her mit den Milliarden, solange ist kein Halten. ... Das hat ja auch weitgehend verheerende Folgen gehabt - die westliche Entwicklung. Wir befürchten, dass China das sogar nachmacht. Wir sehen, was wir gemacht haben, dessen Nachahmung in China führt zur Katastrophe. Wir sind aber nicht bereit, zu sagen, was wir hier machen, ist die Katastrophe. Weil wir die grundsätzlich falsche Haltung hatten: Wir glaubten, die Probleme lösen zu können. Und haben jedem zugejubelt, der gesagt hat: Ab morgen: Krebs gelöst. Ab übermorgen Energieproblem gelöst. ... Alles völliger Irrsinn! (1,15'/30') Regie: Musik hoch und aus. Literatur Bazon Brock, Peter Sloterdijk (Hrsg.) "Der Profi-Bürger", München 2011 18