COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Länderreport / 25.06. 2010 Es geschah... in und mit der Kirche - vor 20 Jahren Autor: Martin Reischke Red.: C. Perez Atmo Ia Track 9 Atmo Kirchenmusik 110 Orgel-Musik mit Gesang überblenden zu Atmo Ib Track 9 Atmo Kirchenmusik Der Herr sei mit euch - Mit diesem alten gottesdienstlichen Gruß haben wir unseren Got- tesdienst am Sonntag Trinitatis eröffnet... Sprecher: Henry Lohse ist ein freundlicher, bedächtiger Mann. Er hat die Ruhe eines Menschen, der zufrieden ist mit seiner Arbeit. Lohse ist Pastor der Rostocker Innenstadtgemeinde, seit einem Vierteiljahrhundert schon. Heute lebt er in der Bundesrepublik. Früher war er DDR- Bürger. Er hat sich immer seinen Platz gesucht. 1. O-Ton Track 1 Henry Lohse Also ich habe es als das System angesehen, in das mich Gott hineingestellt hat, und dass ich hier meinen Platz habe, ich habe eigentlich auch nie ernsthaft damit gespielt, jetzt hier dieses Land zu verlassen, aber natürlich wollte ich schon, dass sich die Gesellschaft, in der wir hier lebten, verändert. Sprecher: Lohse ist es, der am 5. Oktober 1989 die erste Rostocker Fürbittandacht organisiert - Wo- chen bevor der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck zur charismatischen Führungsfigur des Umbruchs in Rostock wird. Mit der Fürbittandacht will Lohse an die Menschen erinnern, die bei den Leipziger Mon- tagsdemos verhaftet worden sind. 2. O-Ton Track 1 Henry Lohse Kurioserweise sind wir auf den Donnerstag verfallen, weil der Donnerstag der Tag war mit dem unattraktivsten Fernsehprogramm sowohl in Ost als auch in West, und wir haben gesagt: Dann nehmen wir den Donnerstag, da haben wir die größten Chancen, Leute zu mobilisieren. Und das war dann ja auch so. Es kamen bei dieser ersten Andacht so viele Leute, dass die Petrikirche nicht ausreichte. Sprecher: Bislang war es im Norden der Republik noch ruhig geblieben. Doch nun strömen auch die Rostocker in die Kirche. 3. O-Ton Track 1 Henry Lohse Dass dann so viele kamen, das hat mir eigentlich damals deutlich gemacht: Also jetzt geht es eigentlich nicht mehr so weiter wie bisher, jetzt ist die Sache auch nicht mehr zurückzudrehen, auch in Rostock nicht. Sprecher: Die evangelische Kirche öffnet ihre Türen - nicht nur für bekennende Christen, sondern für alle Menschen, die nicht weiter den offiziellen Meldungen der DDR-Medien vertrauen wollen. 4. O-Ton Track 1 Henry Lohse Das waren also Leute, die zum Teil mit der Kirche überhaupt nichts am Hut hatten, aber die einfach darauf vertrauten, dass sie in der Kirche eben verlässliche Informationen bekamen, auch zu dem, was also in Leipzig sich abgespielt hat, wir haben also versucht, auch mit Christian Führer von der Nikolaikirche telefonisch in Verbindung zu treten, um zu hören, wie viele Leute sind noch in Haft, wie viele sind schon wieder frei gelassen, um auch die Namen zu nennen, es war ja wichtig auch Namen zu nennen, also das Ganze auch irgendwo an Personen festzumachen. Also: Die Leute erwarteten einfach, dass sie da verlässliche Informationen beka- men und deshalb kamen sie in die Kirche. Sprecher: Schon eine Woche später muss Lohse für seine Fürbittandacht in die Marienkirche um- ziehen - doch auch dort reicht der Platz kaum aus: Dicht gedrängt sitzen und stehen die Menschen im größten Kirchenschiff der Hansestadt. Deshalb werden die Fürbittandachten schließlich in sieben Rostocker Kirchen gleichzeitig verlesen. Am 19. Oktober tragen die Menschen ihren Zorn auch auf die Straße: Nach der Andacht ziehen Tausende Rostocker durch die Innenstadt und fordern politische Reformen. Pastor Lohse ist überrascht. 5. O-Ton Track 1 Henry Lohse Das war ne rein spontane Geschichte, und wir, die wir in den Kirchen waren, wir haben das eigentlich gar nicht mitbekommen, weil wir noch mit Aufräumen und mit Nachgesprächen zu tun hatten, ich habe es erst am nächsten Tag erfahren, dass es da eine Demonstration gegeben hat. Sprecher: Auch Jürgen Staszak, damals Germanistik-Dozent an der Uni Rostock und überzeugter Marxist, sympathisiert mit den Demonstranten. Die Kirche ist für ihn schon lange kein Feindbild mehr. 6. O-Ton Track 18 Jürgen Staszak Also ich muss sagen, dass ich durch bestimmte persönliche Erlebnisse seit Mitte der 60er Jahre als konsequenter Marxist wie ich mich verstanden hatte doch in der Lage war zu denken, dass es auch andere Welterklärungsmodelle gibt. Und dass die Frage, welches vielleicht das richtige ist, gar nicht die entscheidende Frage ist, und dazu gehörte dann für mich auch die Akzeptanz der christlichen Religion als ein Welterklärungsmodell. Sprecher: Zum Fürbittgottesdienst in der Kirche mag er zwar nicht gehen, doch bei den anschlie- ßenden Demos ist Staszak mit dabei. 7. O-Ton Track 18 Jürgen Staszak Und mir war natürlich klar, dass das irgendwie mit der Kirche zusammenhängt, aber meine Teilnahme an der Demonstration habe ich überhaupt nicht mit der Institution Kirche in Verbindung gebracht. Ich habe dann später begriffen denke ich, dass die protestantische Kirche ja so etwas wie dieser zunächst ja spontanen Bewegung, die da 89 entstanden war, so etwas wie eine materielle und geistige Infrastruktur gegeben hat. Sprecher: Dabei rückt die evangelische Kirche nicht ihre eigenen religiösen Interessen in den Vor- dergrund, sondern gibt der gesamten Bürgerrechtsbewegung einen geistigen Rahmen, mit dem sich auch Nichtchristen identifizieren können. 8. O-Ton Track 18 Jürgen Staszak Da meine ich, dass ja auch bestimmte Kernforderungen sozusagen lanciert worden sind von der Kirche: Also "Keine Gewalt", eine sehr geschickte Forderung - weil sie sozusagen implizit an beide Seiten gerichtet war, und damit natürlich schon mal in der Tradition der Friedensbewegung der Kirche stand, aber im Grunde so eine bestimmte geistige Orientierung gab. Sprecher: Christoph Kleemann ist einer von denen, die die kirchliche Friedensarbeit in Rostock schon lange vor dem Wendeherbst entscheidend mitgeprägt haben. Als Pfarrer der Evangelischen Studentengemeinde organisiert er ab 1980 regelmäßige Friedensgottesdienste, die sich gegen die Militarisierung der DDR wenden. 9. O-Ton Track 4 Christoph Kleemann Da kamen also zu einem Friedensgottesdienst zwischen 400 und 800 Leute aus al- len Rostocker Gemeinden und natürlich saß die Staatsicherheit sehr repräsentativ in diesen Gottesdiensten, und dann wurden die Verantwortlichen entsprechend auch unter einen gewissen Druck gesetzt und so, aber es war nicht zu verhindern, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche war nun mal so, dass man der Kirche in der Hoffnung, sie diszipliniere ihre Reihen selber, einen relativ großen Spielraum gelassen hatte. Sprecher: Auch mit öffentlichen Veranstaltungen wie dem Rostocker Kirchentag 1983 gelingt es, die Anliegen der Kirche in die Gesellschaft zu transportieren, sagt der damalige Rostock Pastor Arvid Schnauer. 10. O-Ton Track 8 Arvid Schnauer Also die Kirchentage haben der Kirche in der Öffentlichkeit eine Stimme verliehen, und sie haben natürlich auf der Gegenseite bei der Stasi eine wahnsinnige Unruhe hervorgerufen... Sprecher: ... so dass es beim Kirchentag in Rostock mitunter zu seltsamen Szenen kommt. 11. O-Ton Track 8 Arvid Schnauer Auf dem Parkplatz zur Fischerbastion, da hatten wir ganz viele Tische aufgebaut zum Abendmahl draußen im Freien, und als es denn nun zum Abendmahl kam, liefen, wirklich liefen schlagartig ne ganze Menge Menschen vom Platz weg, das waren also all die geschickten Stasi-Leute, die auf einmal große Angst kriegten, weil ihnen das zu dicht auf den Leib rückte, an so einem Tisch nun das Abendmahl zu empfangen, und die dann im Laufschritt den Platz verließen und rüber liefen in das Hotel Warnow. Sprecher: So kann die Stasi auch nicht verhindern, dass Pfarrer Arvid Schnauer seine Gemeinderäume im Rostocker Stadtteil Groß-Klein einer Gruppe ausreisewilliger DDR-Bürger zur Verfügung stellt. Die staatlichen Stellen hatten ihnen jeglichen Kontakt verboten - doch nun treffen sie sich unter dem Namen "Umweltgruppe Grüne Brücke" regelmäßig in der Gemeinde. Auch wenn sich diese Menschen nicht für das Evangelium interessieren - unterstützen müsse man sie trotzdem, meint Schnauer. 12. O-Ton Track 8 Arvid Schnauer Wenn Menschen keine Chance haben ihre Meinung laut zu sagen, dann müssen sie in der Kirche ein Dach finden, wo sie das tun können - auch wenn wir mit ihren Meinungen und Ansichten nicht übereinstimmen. Und das war für mich Anlass zu sagen, ja, die können sich bei uns treffen. Ich bin daraufhin von einem meiner IM wie ich es hinterher erfahren habe, von dem Beauftragten für Kirchenfragen besucht worden, der mir gesagt hat, ich machte da etwas sehr Gefährliches, da habe ich gesagt: "Nee, die Menschen sind ganz friedlich, das ist nicht gefährlich." Sprecher: Deshalb ist es kaum überraschend, dass es auch im Herbst 1989 oftmals Christen sind, die sich in Rostock für demokratische Veränderungen einsetzen. Zum Beispiel Dietlind Glüer. Die damalige Rostocker Gemeindereferentin ist eine der ersten, die sich mit der Forderung nach mehr Demokratie an die Öffentlichkeit wenden - wie ein Tondokument des Zeitzeugen Wulfhardt Specht vom 4. November 1989 belegt. Atmo II Dietlind Glüer Bürgerinnen von Rostock (Klatschen). Mein Name ist Dietlind Glüer, und ich bin eine der Sprecherinnen vom Sprecherrat des Neuen Forum (Klatschen). Wir de- monstrieren weiter, und wir wissen, dass mit uns viele, heute insbesondere aus Berlin mit uns demonstrieren (Klatschen). Sprecher: Glüer ist Mitbegründerin des Neuen Forums in Rostock. 13. O-Ton Track 3 Dietlind Glüer Ich bin nach Schwerin gefahren, und da habe die Gründungsveranstaltung mitge- kriegt vom Neuen Forum, und dann bin ich nach Rostock gekommen und habe ge- sagt: Also es muss doch hier auch gehen, wieso machen wir hier nichts? Und da habe ich ein paar Leute gesucht und gefragt, und das war ja auch so, man hat sich dann schnell zusammengefunden, und da haben wir dann die Papiere von den Berlinern bekommen und diesen Forderungskatalog, und dann wurde ja diese größere Veranstaltung organisiert, und das wird dann immer als Gründungstag des Neuen Forums angesehen. Sprecher: Am 11. Oktober lädt das Neue Forum in Rostock zur ersten Informationsveranstaltung in die Methodistenkirche ein. Dietlind Glüer moderiert die Veranstaltung, bei der einige hun- dert Menschen den Forderungskatalog des Neuen Forums diskutieren wollen. 14. O-Ton Track 3 Dietlind Glüer Und ich hatte Mühe, die Leute immer vorzustellen und zu sagen: Sagen sie bitte ihren Namen und wo sie arbeiten, und wenn sie das nicht sagen wollten, dann wussten wir schon immer, woher sie kamen, aber wir wussten es auch inhaltlich - und mein Bestreben war, dass die Leute, die sich für die Forderungen des Neuen Forums aussprachen, dass die zu Wort kamen und nicht die offiziellen Vertreter, die das klein reden wollten. Sprecher: Aus ihrer kirchlichen Arbeit ist Glüer das Diskutieren gewohnt. Sie weiß deshalb, wie sie mit großen Menschenmengen umgehen muss. Glüer und ihre Weggefährten schaffen nur den Rahmen, denn zum Diskutieren muss hier niemand mehr gezwungen werden. 15. O-Ton Track 3 Dietlind Glüer Wir haben gesagt, wir lösen die große Veranstaltung hier auf, wir kommen jetzt nicht weiter, wir teilen uns in Gesprächsgruppen, und das war so ein Muster, das wir tausendmal aus der Kirche kannten, immer 10 oder 12 oder 15 Leute mit den Stühlen sich zusammensetzen, und dann diskutieren sie in diesen kleinen Gruppen, und das machten die sehr schnell, sofort wurde das so gemacht, und dann ging ich von Gruppe zu Gruppe und die diskutierten heiß, und wenn sie einen Staats- vertreter dabei hatten, der kam oft gar nicht zu Wort. Habe ich gedacht: Das ist gut, jetzt ist hier so was passiert, so eine Initialzündung, dass die Leute sprechen... Sprecher: Doch wie erlernt man einen kritischen und konstruktiven öffentlichen Diskurs? Wie entwi- ckelt man demokratische Strukturen? Aus eigener Erfahrung konnten nur wenige DDR- Bürger diese Frage beantworten. Auch hier waren die Protestanten anders sozialisiert, sagt der frühere Rostocker Studentenpfarrer Christoph Kleemann. 16. O-Ton Track 4 Christoph Kleemann Ein großer Vorteil, den dann viele hatten, die in der Kirche aufgewachsen waren und der ihnen dann zu Gute kam beziehungsweise der ganzen Aufbruchsbewegung, den Bürgerbewegungen zu gute kam, war, dass innerhalb der Kirche demokrati- sche Strukturen existierten. In der evangelischen Kirche gab es das synodale Element, und letztlich auch jeder Kirchgemeinderat funktionierte wie ein kleines Parlament. Sprecher: Dieses Demokratieverständnis und die rhetorische Schulung innerhalb der evangelischen Kirche sorgen dafür, dass Kirchenvertreter maßgeblich dazu beitragen, die Arbeit von Bürgerrechtsgruppen wie dem "Neuen Forum", "Demokratischen Aufbruch" oder "Demo- kratie Jetzt" zu gestalten. Doch bei aller Kritik an den herrschenden politischen Verhältnissen - die Machtfrage wollen die Oppositionsgruppen trotzdem nicht stellen. 17. O-Ton Track 4 Christoph Kleemann Für die meisten von uns war in dieser Umbruchphase der Begriff Macht noch ein ziemlich dubioser Begriff. Dass Politik nur gemacht werden kann, wenn auch ein gewisser Wille da ist, Macht zu übernehmen und auszuüben, das war uns gar nicht deutlich. Wir haben dann aber sehr schnell erkannt, dass also das was wir ausüben ja auch Macht ist. Sprecher: Die Macht der Straße zeigt sich zunächst in der Einrichtung eines Bürgerrates. Rostocke- rinnen und Rostocker sollen als ehrenamtliche Bürgerräte die Arbeit der SED-Stadtregierung kontrollieren. Auch Germanistik-Dozent Jürgen Staszak ist dabei. 18. O-Ton Track 18 Jürgen Staszak Und ich ging da hin, machte mit, weil ich damals noch dachte: Man muss jetzt dafür sorgen, also als SED-Mitglied, man muss jetzt dafür sorgen, dass diese Partei auch in der Lage ist, eine Politik im Interesse des Volkes und nicht nur im Interesse ihres eigenen Machterhaltes zu machen. Das war meine Motivation. Sprecher: So beginnt SED-Mitglied Staszak an der Seite von Kirchenvertretern den eigenen Partei- genossen auf die Finger zu schauen. 19. O-Ton Track 18 Jürgen Staszak Also da wurden dann so Fachbereiche gebildet, für jeden der Bereiche der Stadtverwaltung, der die kontrollieren sollte. Und der Witz war ja: Es funktionierte. Und die gingen zum Oberbürgermeister und sagten: Hören Sie zu, sie sind aus nicht rechtmäßigen Wahlen hervorgegangen, wir werden sie jetzt kontrollieren. Es passierte das Merkwürdige: Der Oberbürgermeister sagte "Ja". Sprecher: Staszak und seine Kollegen von der Arbeitsgruppe Bildungswesen nehmen ihre neue Auf- gabe ernst. Als sie erfahren, dass ehemalige Stasi-Mitarbeiter in den Schuldienst über- nommen wurden, schlagen sie öffentlich Alarm. Schließlich nimmt sich der Runde Tisch von Rostock der Sache an. An ihm treffen sich seit November 89 Vertreter der alten und neuen Parteien sowie der Massenorganisationen und neuen Bürgerinitiativen, um über die politische Entwicklung der Stadt zu diskutieren. Der SED-Oberbürgermeister Henning Schleiff verspricht die Entlassung seines Stadt- schulrates - doch nichts passiert. Also stellt der Runde Tisch ein Ultimatum, erinnert sich Christoph Kleemann, der dort das Neue Forum vertritt. 20. O-Ton Track 4 Christoph Kleemann Und der Runde Tisch drohte und sagte: Wenn du, Oberbürgermeister, nicht so und so reagierst, treten wir zurück als Runder Tisch. Die Machtverhältnisse waren rein strukturell in der DDR immer noch so, dass er hätte darauf pfeifen können und sagen können: Gut, dann tretet ihr eben zurück, dann mache ich eben weiter wie bisher. Aber moralisch war das Recht nicht mehr auf seiner Seite, und er trat zu- rück, und dann entschied der Runde Tisch, wer für diesen Oberbürgermeister jetzt interimsmäßig bis zur nächsten Kommunalwahl jetzt ins Rathaus geht. Sprecher: Es trifft - Christoph Kleemann selbst. 21. O-Ton Track 4 Christoph Kleemann Ich hätte einen Teufel getan, mich um so etwas zu bewerben - das bedurfte ei- gentlich erfahrener Kommunalpolitiker, wer wird in einer solchen Zeit freiwillig ins Rathaus gehen? Sprecher: Doch die Angst, selbst unglaubwürdig zu werden, ist stärker als der Respekt vor der Macht. 22. O-Ton Track 4 Christoph Kleemann Was wollten wir denn? Wir wollten eine Veränderung! Und wenn ich nun als einer von denen, die diese Veränderung wollten, schon bei dieser ersten Feuerprobe gesagt hätte: Nee, macht was ihr wollt, aber ohne mich, dann wäre alles unglaub- würdig gewesen, ich hatte gar keine Wahl, ich musste ins also kalte Wasser sprin- gen und musste Schwimmen lernen. Sprecher: Einmal im Amt, macht Kleemann eine unangenehme Entdeckung: Die Stasi-Mitarbeiter, die nun als Lehrer arbeiten, haben einen gültigen Arbeitsvertrag - und können deshalb nicht einfach entlassen werden. Jürgen Staszak mag das nicht verstehen, erinnert sich Klee- mann. 23. O-Ton Track 4 Christoph Kleemann Der hat mir das übel genommen und hat gesagt: Der Kleemann hat quasi die Re- volution verkauft, indem er an dieser Stelle nicht mehr revolutionär gehandelt hat, und ich musste ihm sagen: Die Rolle eines Oberbürgermeisters ist keine revolutio- näre Rolle, ich bin an Recht und Gesetz gebunden, ich kann nicht nach dieser kurzen anarchischen Zeit jetzt auch noch Anarchie ins Rathaus bringen und sagen: Arbeitsverträge hin oder her, ist mir völlig Wurscht, ich zerreiße die einfach und setze die Leute auf die Straße. Sprecher: Staszak hält dagegen. 24. O-Ton Track 18 Jürgen Staszak Da kann ich bloß mit Robespierre sagen: Habt ihr eine Revolution ohne Revolution gewollt? Ich kann doch keine Revolution im Rahmen der bestehenden Gesetze, die ich gerade verändern will, machen. Das geht doch nicht. Das ist keine Revolution unter Einhaltung der bestehenden Gesetze. Und die 89er Bewegung hat massenhaft bestehende Gesetze gebrochen und zu Recht gebrochen! Sprecher: Es sind seltsame Zeiten: Der frühere Studentenpfarrer Kleemann sucht Recht und Ordnung zu verteidigen, während Marxist Staszak die friedliche Revolution zu Ende führen will. 25. O-Ton Track 18 Jürgen Staszak Ich betone immer gern, dass das der einzige Fall in dieser Zeit in der DDR ist, wo tatsächlich die bestehende Herrschaft gestürzt wurde. Also sonst sind überall die alten Funktionsträger bis zu den Wahlen im Amt geblieben und nur demokratisch kontrolliert worden, nur hier in Rostock ist die Stadtregierung gestürzt worden und durch eine revolutionäre Regierung ersetzt worden. Es waren alles, alles Laien, ich habe mich jeden Morgen gewundert, dass die Straßenbahnen noch fuhren in dieser Stadt - aber es funktionierte. Sprecher: Zwei Monate lang - von Ende März bis Ende Mai 1990 - lenkt Kleemann die Geschicke der Stadt. Dann kommen die Kommunalwahlen. Die Bürgerrechtsgruppen erreichen in Rostock zusammen rund 10 Prozent der Stimmen. Kleemann muss sein Amt als Oberbürgermeister abgeben und wird stattdessen zum Präsidenten der Rostocker Bürgerschaft gewählt. Die etablierten Parteien wie SPD und CDU übernehmen nun die Macht, die Bürgerrechtsbewegung hingegen versinkt peu à peu in der Bedeutungslosigkeit. 26. O-Ton Track 18 Jürgen Staszak Also ich war schon enttäuscht darüber, dass sozusagen die basisdemokratische Illusion der Bürgerbewegung sich nicht würde erfüllen, aber wissen sie, es hat ja keinen Sinn, über den Gang der Geschichte traurig zu sein. Sprecher: Für Jürgen Staszak bedeutet der Umbruch von 89 zweierlei: Die Abkehr vom eigenen Glaubensbekenntnis zum Marxismus - und ein neues Verständnis von Kirche, ohne selbst gläubig sein zu müssen. 27. O-Ton Track 18 Jürgen Staszak Ich habe gesehen, dass es Vorstellungen über soziale und politische Gerechtigkeit auch außerhalb des Marxismus geben kann, ich will gar nicht sagen, dass das eine unmittelbare Vorbildfunktion für mich hatte, aber das hat mich irgendwie bestätigt, nicht als Marxist bestätigt, das habe ich dann ja sowieso über den Haufen geworfen, sondern sozusagen im Festhalten an dieser Sehnsucht nach Sozialverbänden, in denen wir wirklich Gerechtigkeit und vielleicht sogar Gleichheit herstellen können. Sprecher: Die Kirche selbst ist heute wieder dort angekommen, wo sie schon einmal war in Ost- deutschland: In der gesellschaftlichen Nische. Das liegt auch daran, dass der Umbruch 1989 eben mitnichten eine Erweckungsbewegung war, sagt Pfarrer Henry Lohse. 28. O-Ton Track 1 Henry Lohse Und dass dann die Kirchen genauso voll oder genauso leer waren wie vorher, damit habe ich eigentlich von Anfang an gerechnet. Denn ich habe immer gesagt: Wir sind als Kirche Geburtshelfer der Demokratie, aber wir sollten nicht Kindermädchen sein. Sprecher: Eines aber hat sich doch verändert: Während sich die Kirche in der DDR der staatlichen Aufmerksamkeit sicher sein konnte, muss sie heute darum kämpfen, im Konzert der vielen Stimmen überhaupt wahrgenommen zu werden, meint Dietlind Glüer. 29. O-Ton Track 3 Dietlind Glüer Zu DDR-Zeiten brauchten wir nur zu Husten, und dann wurden wir schon wahrgenommen, also jedenfalls von staatlichen Stellen, ganz genau, und die haben uns oft überschätzt denke ich, die haben oft die Kraft der Kirche total überschätzt, haben ja auch viel zu viel Angst davor gehabt. Aber die Aufmerksamkeit, die wir gehabt haben, die war natürlich enorm, und das ist jetzt nicht mehr, jetzt kann man alles machen, und da befinden wir uns mit vielen Organisationen auf gleicher Stufe, also man hat Mühe, sich bemerkbar zu machen in dem Konzert. 2