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Auf dem Dampfer befanden sich 3700 U-Boot Männer und etwa 5000 Ostflüchtlinge. Nur etwa 1000 Personen wurden gerettet." Geräusch: Bewegte See, Wellenrauschen unterlegen Erzähler: Zu den Überlebenden gehört auch Tulla Pokriefke, die ihren Sohn zur Welt bringt, als Tausende mit dem untergehenden Schiff in die Tiefe gerissen werden: 2. O-Ton Grass "Krebsgang" "?Auf die Minute jenau als die Justloff absoff?, wie Mutter behauptet, oder wie ich sage. Als die Wilhelm Gustloff mit dem Bug voran und bei extremer Schlagseite nach backbord hin zugleich sank und kenterte, [ ... ], als alles ein Ende fand, soll ich ganz normal in der engen Koje des Maschinenoffiziers geboren worden sein aus Kopflage und ohne Komplikationen." (S. 145) Erzähler: Paul Pokriefke, der Erzähler in Günter Grass? Novelle "Im Krebsgang", will an den 30. Januar 1945 nicht erinnern werden. Er feiert seinen Geburtstag nicht, weil zu viele Tote an seiner Festtafel sitzen würden. Doch diese Anstandsgeste ist den Toten zu wenig, die wollen, dass man sich an sie erinnert. In Tulla Pokriefke finden sie eine Verbündete. Sie bedrängt ihren Sohn aufzuschreiben, was damals geschah. Bis er ihrem Wunsch nachkommt, vergeht viel Zeit. Musik: R. Strauss: "Rosenkavalier", Arie der Marschallin: Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding / Wenn man so hinlebt ist sie rein gar nichts. / Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, / im Spiegel da rieselt sie, / in meinen Schläfen fließt sie." Erzähler: Die Zeit hat auch Günter Grass keine Ruhe gelassen: Zitator: "Ich erinnere mich oder ich werde erinnert durch etwas, das mir quersteht, seinen Geruch hinterlassen hat oder in verjährten Briefen mit tückischen Stichworten darauf wartete, erinnert zu werden. [ ... ]Der Schriftsteller erinnert sich professionell. Als Erzähler ist er in dieser Disziplin trainiert. Er weiß, dass die Erinnerung eine oft zitierte Katze ist, die gestreichelt sein will, manchmal sogar gegen den Strich, bis es knistert: dann schnurrt sie. So beutet er seine Erinnerung aus und notfalls die Erinnerung frei erfundener Personen. Erinnerung ist ihm Fundgrube, Müllhalde, Archiv." Erzähler: Grass fordert seinen Figuren Erinnern ab. Damit sie aber nicht daherreden, sondern etwas zu sagen haben, stöbert er in Archiven, wertet Dokumente aus und befragt Zeitzeugen. Erst dann erteilt er ihnen das Wort. Grass, der herausfinden will, warum das Wrack der "Gustloff" auf dem Meeresgrund der Ostsee liegt, muss in die Geschichte eintauchen. Echolotgeräusch Erzähler: Erzählen wird zu einer Bergungsarbeit. Der Autor nähert sich der "Gustloff" von sehr verschiedenen Seiten und holt nach oben, was seit dem Untergang des einstigen KDF-Schiffes vergessen wurde. Er geht dem Ereignis auf den Grund, weil er die Mythen und Legenden entzaubern will, die sich um das von einem sowjetischen U-Bott torpedierte Schiff ranken. 3. O-Ton Grass: "Dieses Thema, das hatte ich zwar angeschlagen in der "Blechtrommel", der Untergang der "Gustloff" kommt in "Hundejahre" vor, wird in der "Rättin" noch mal erwähnt, aber ich hatte das noch nicht gestaltet, ich fand den literarischen Zugang nicht. [ ... ] Es ist immer wieder Thema gewesen. Bei mir ja auch, am Rande, aber die literarische Gestaltung war in unzureichendem Maße da." Erzähler: Schriftsteller gleichen Archäologen. An entlegenen Orten graben sie im Geschichtsgeröll und suchen nach Bruchstücken aus der Vergangenheit. Wenn sie bei ihren literarischen Expeditionen Spuren verfolgen, schwärmen sie in die unterschiedlichsten Regionen und Richtungen aus. Unbekanntes weckt ihre Neugier Verkanntes interessiert sie. Ihnen genügen dürftige Hinweise, um sich in eine Geschichte zu vertiefen. Ihre Aufmerksamkeit gehört dem Unscheinbaren, denn im Abseitigen könnte der Stoff für einen Roman verborgen liegen. Echolotgeräusch, Übergang zur Musik: Marilyn Mazur/Jan Gabarek "Elixir" Erzähler: In die Tiefe begibt sich auch Kurt Drawert in seinem Roman "Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte". Der "neunte Schuldbezirk", wo die Handlung des Romans spielt, liegt nicht auf dem Meeresgrund sondern im Erdinnern. Der Autor unternimmt eine Höllenfahrt, die ihn in halbdunkle Räume führt, wo es von Asseln und Würmern wimmelt. Diesen Nichtort ziert das bekannte Wappenlogo: Zitator: "aktiver Hammer, gespreizter Zirkel und große gebogene Ehrenähre." Erzähler: Das Land wo die Zitronen blühen ruft Drawert nicht in Erinnerung. Der "neunte Schuldbezirk" ist die letzte Ebene in einer Pyramide, die mit der Spitze nach unten ins Erdinnere getrieben wurde. In diesem Keller, in dem uneingelöste Hoffnungen lagern, fristet eine unglückliche Gestalt ihr Dasein. Von Vater und Mutter spricht sie nur im Konjunktiv: Zitator: "Hätte ich leibhaftig einen Vater gehabt, nicht nur in den Papieren, meine ich und ich wäre ein Ei, so hätte er mich länger kochen lassen sollen, wünschte ich immer, bis ich blau angelaufen wäre vor lauter Härte. Hätte ich eine Mutter gehabt, wünschte ich immer, sie wäre hinter mir gestanden und hätte mich mit einer Zange wieder herausgefischt aus diesem brodelnden Kessel der Zeugung" (15) Erzähler: Drawerts Figur erinnert an Kaspar Hauser, an jenen Verlorenen, der plötzlich da war, ohne dass jemand sagen konnte, wo er herkam. Zwei Personen, mit denen der historische Kaspar Hauser Kontakt hatte, sind die Ansprechpartner des Ich-Erzählers in Drawerts Roman. Den Schauplatz aber verlagert der Autor von Nürnberg, wo der historische Kaspar Hauser im Jahr 1828 erstmals gesehen wurde, in die DDR, in jene Region, die Drawert geprägt hat. 4. O-Ton Drawert: "Die eigentliche Erzählsituation ist, dass der Ich-Erzähler einen Beweis seiner Anwesenheit zu bringen hat. Also, das ist die Parallelgeschichte zu dem Kaspar Hauser, der ja zwischen der Simulantentheorie und der Erbprinztheorie hin- und hergeschickt wird und am Ende dann auch als Betrüger desavouiert wurde. [ ... ] Dies ist die Ausgangsfrage für die Geschichte, die ich erzähle. Hier habe ich zu erzählen: Gab es diese Gesellschaft, die sich aufgelöst hat in gar nichts, wirklich oder ist der Erzähler, wie der Kaspar Hauser auch, ein Simulant? Das ist die Kernfrage." Erzähler: Kaspar Hauser werden wie dem Verurteilten in Kafkas "Strafkolonie" die herrschenden Gesetze des "neunten Schuldbezirks" mit spitzen Nadeln ins Fleisch eingeschrieben. Dieser Verletzte, der Ähnlichkeiten mit dem Autor aufweist, kann sich nur schwer artikulieren. Sein Stottern klingt wie eine Klage über die sprachlichen Züchtigungen, die er erfahren hat. Als stummer Schrei wird in jenen Momenten, in denen die Sprache versagt, sein Sprachnotstand vernehmbar. Zitator: "An meine Stimme werden sie sich gewöhnen, an meine gebrochene, Ihren Ohren unvertraut bleibende Stimme, an ihre Risse, Narben, wo die Worte reißen, sich fügen, reißen, sich in Silben zerlegen, in Anlaute, von den Anlauten zurück zu den Silben, zurück zu den Wörtern, zurück zu den Sätzen, zurück zu den Selbstverständlichkeiten sich formender Sätze, zurück. Sie ist ein Ort, sie ist eine Geschichte. Sie erzählt, wo ich nichts mehr erzähle, wo ich nichts mehr erinnere." (16) Erzähler: Drawerts Roman ist eine Klageschrift. Auf der Existenz des sich Erinnernden liegt ein Schatten, der zurück in die Vergangenheit reicht. Die Zeit im "neunten Schuldbezirk" erinnert er als "Totseinzeit". Sie bildet den Hintergrund für das seltsame Verwirrspiel, das der Titel aufruft. Arthur Rimbauds viel zitierter Satz "Ich ist ein anderer", wird von Drawert aufgegriffen, um deutlich zu machen, dass der Erzähler eine gespaltene Persönlichkeit ist. Er grüßt seinen Schatten, als wäre es der Schatten eines Fremden. Zitator: "Ich wachte auf und war tot", Erzähler: heißt es im Roman. Von den Toten sagt man, sie würden als Schatten weiterexistieren. Drawerts Figur ist ein lebender Toter. In seiner "Totseinzeit" im "neunten Schuldbezirk" ist er ein verdächtiges Objekt, das vom Geheimdienst überwacht wird. Der Staat bespitzelt seine Bürger, aber die Künstler und Schriftsteller sollen die "Deutsche D. Republik" realistisch beschreiben. Die Realität der Überwachung darf allerdings in diesen Beschreibungen nicht vorkommen. Angesichts dieser verkehrten Verhältnisse erzählt Drawert in surrealistischen Bildern von unwirklichen Zuständen. Kaum Glaubhaftes ereignet sich in diesem an ein Absurditätenkabinett erinnernden Raum. 5. O-Ton Drawert: "Gesagt soll eigentlich werden: Hat es das Land gegeben und was hat es mit den Menschen gemacht? Denn die Insignien des Landes, die sind ja weg, aber was die Insignien im Innern angerichtet haben, das ist die Wahrheit und um diese Wahrheit ging es und die ist das Unsichtbare. Das Unsichtbare sichtbar werden zu lassen, das war das Anliegen, das ich hatte." Erzähler: Drawert überträgt die grotesken Spielarten der DDR-Wirklichkeit in eine Sprache, die auf realistische Beschreibungs- und Deutungsversuche verzichtet. Die Geschichte mutet phantastisch an, aber sie ist gerade in ihrem phantastischen Gehalt von beklemmender Realität. Realistisch wollte Drawert diese Realität nicht beschreiben. Er macht sie sichtbar, indem er sie verfremdet. Mit schwarzem Humor stellt er die Verhältnisse auf den Kopf und kehrt das Unterste nach oben, sodass sichtbar wird, was übersehen wurde. Das entbehrt nicht der Komik. Aber indem Drawert Vergangenes verlacht, reißen im Lachen alte Wunden wieder auf. Allerdings weist der Text über die Beschreibung von DDR- Verhältnissen hinaus. 6. O-Ton Drawert: "Die Figur ist eigentlich eine Abstraktionsfigur mit all ihren Verletzungen, die das ausgelöschte Subjekt der Moderne eigentlich auch ist. Mir wäre es zu klein gefasst, würde man das jetzt in die DDR geben und die DDR für alles das verantwortlich machen, was Gewalt ist. Und dann ist die DDR zu Ende und dann sind da noch paar Nachwehen, das wäre mir zu kurz gefasst. Also sie ist eine Abstraktionsfigur für unsere innere Obdachlosigkeit." Erzähler: Auf dem Weg von unten nach oben wird für sie die in der DDR in Giftschränken aufbewahrte verbotene Literatur zum entscheidenden Helfer. Bücher als subversive Verbündete unterweisen sie darin, sich den herrschenden Sprachverhältnissen zu entziehen. Der Gefangene in der Staatsfalle bricht aus einer verordneten Sprache aus und lässt eine fatale Ordnung hinter sich. 7. O-Ton Drawert: "Das Schwierige war ja, den Kaspar Hauser als den, der die Sprache erst noch zu finden hat, den Sprachlosen, mit der Figur zu verbinden, der die Sprache wieder loswerden will, weil sie voller Entleerung ihn aufgefressen hat. Und in dieser Spannung geht der Text ja auch in seinen Referenzpolen hin und her. Die Spannung auszutarieren war literarisch nicht so ganz leicht. Es hat auch eine Befreiungsqualität, sprechend aus dem Gefängnis zu entkommen." Musik: Oliver Messiaen: "Das Erwachen der Vögel" Erzähler: Anders als Günter Grass und Kurt Drawert, die sich in ihren Texten nach unten orientieren, wendet sich Marcel Beyer in seinem 2008 erschienenen Roman "Kaltenburg" zunächst nach oben. Ludwig Kaltenburg wartet kurz vor seinem Tod auf die Rückkehr der Kamindohlen. Er sitzt im Februar 1989 in einem am Fenster stehenden Sessel und schaut in den Himmel. 8. O-Ton Beyer: "Ich wusste am Anfang nicht, dass Kaltenburg so etwas wie die zentrale Figur des Romans sein wird.[ ... ] Irgendwann habe ich bemerkt, alle anderen Figuren tauchen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Kaltenburg auf und dann beginnt man das auch bewusst zu gestalten. Sodass mir auch bestimmte Begriffe, in denen sich etwas vom gesamten Roman kristallisiert, erst mit der Zeit eigentlich aufgefallen sind. Mir ist dann aufgefallen, wie häufig das Wort Angst auftaucht, [ ... ] wie häufig ich Figuren in dem Roman in Angstsituationen zeige, [ ... ] und dass eigentlich jede Figur eine Urszene in ihrem Leben hat, die erzählt wird, die eigentlich auch eine Angstsituation ist. Und so kam ich dann auf den Gedanken, da ja die Spur offenbar schon gelegt war, das Hauptwerk von Ludwig Kaltenburg "Urformen der Angst" zu nennen." Zitator: "[Man weiß], dass junge Singvögel - der Autor bezieht sich hier auf Tannenmeisen - nach dem schlüpfen trotz ausreichender Wärme- und Nahrungszufuhr rasch verenden können, sofern ihr Nest auf Dauer groben, unregelmäßig erfolgenden Erschütterungen ausgesetzt wird. Wie man beobachtet hat, zucken die blinden gefiederlosen Wesen bereits im Ei zusammen, wenn etwa ein herabfallender Zweig das Nest berührt. Eine längere Passage befaßt sich mit dem Phänomen der Schreckmauser, dem plötzlichen Abstoßen einzelner oder mehrerer Federn unter Schock. [ ... ] Kaltenburg zufolge stellt die Schreckmauser in gewisser Weise ein Fortleben der kindlichen Erschütterungsangst beim erwachsenen Vogel dar, mit dem entscheidenden Unterschied, dass lediglich einzelne Individuen dieses Verhalten zeigen. [ ... ] Das Gegenstück zur Schreckmauserdarstellung bildet der Abschnitt über die Hyänen. Diese Tiere zeigen dem Menschen gegenüber keinerlei Fluchtverhalten, Furcht kennen sie nicht, und die einzelne Hyäne wagt sich selbst in freier Wildbahn so nah an den Menschen heran, dass es kaum Mühe bereitet, sie mit einem Knüppel zu erschlagen. Der Rest des Jagdverbandes, sagt man, verfolgt derartige Vorfälle mit äußerster Gleichgültigkeit." (12f.) Erzähler: Der Ornithologe Hermann Funk erinnert sich an seinen Lehrer Ludwig Kaltenburg, den er noch als Kind vor dem 2. Weltkrieg in Posen kennenlernt. Bereits damals hat er sich darüber gewundert, dass sich ein Zoologe wie Kaltenburg in einer Nervenklinik um verwirrte Menschen kümmert. Auch später bleibt ihm vieles an dieser Berühmtheit rätselhaft. Erst während er sich erinnert, wird ihm bewusst, wie die Vergangenheit von einer "Todesatmosphäre" geprägt war. Musik: Gerhard Stäbler: Karas/Krähen 9. O-Ton Beyer: "Es gibt ein bestimmtes Moment der Todesnähe. Die Krähen und die Raben als Totenvögel auch als Verkünder des Todes kommen dann sozusagen nebenherfliegend mit ins Bild. [ ... ]Mit dieser Erfahrung von Todesnähe und dem Gefühl der Bedrohung von außen sind wir eigentlich im Zentrum des Romans nämlich bei den Ängsten oder der Angst. [..] Nun ist es für den Erzähler im Roman wichtig [ ... ] der eigenen Angst zu entkommen. Und da spielen dann die Vogelbälge und die Arbeit des Ornithologen, [ ... ] eine ganz, ganz große Rolle. Zu Beginn des Romans ist es ja so, dass die ausgestopften Vögel als tote Wesen um einen herumstehen, dass aber nach und nach doch eigentlich diese Bedrohung oder das Morbide nämlich aufgelöst werden soll, hin dazu, dass diese Vögel, je besser sie ausgestopft sind, einen ganz lebendigen Eindruck vermitteln. Und das ist genau der Sinn. Natürlich sind sie gestorben. Aber in diesen nicht mehr lebenden Wesen können wir doch die vorher lebendigen Wesen erblicken." Erzähler: Oft blicken Kaltenburg und Funk nach oben, um die Vögel zu beobachten. Der Blick des Autors richtet sich allerdings auch nach unten, wenn er die biographischen Daten der handelnden Personen aufruft und dabei von der NS-Zeit und den Gründungs- und Aufbaujahren der DDR erzählt. 10. O-Ton M. Beyer: "Es gibt natürlich dieses schöne Wechselspiel. Die Vögel fliegen in der Luft. An den präparierten, dann toten Vögeln, machen sich bestimmte Ereignisse fest für den Erzähler. Der beginnt heute, also 2006, sich seines eigenen Lebens und seiner eigenen Position in der Welt zu vergewissern. Zum einen also die Vögel, die aus dem Himmel auf den Tisch des Ornithologen kommen. Zum anderen sind wir natürlich gewohnt, Erinnern oder auch Vergangenheit als etwas zu verbildlichen, was in die Tiefe geht, ins Dunkel, wo man sich nach unten bewegt und diese Spannung eigentlich zwischen diesen beiden Bewegungen, die interessierte mich auch beim Arbeiten. Das sind ja auch zwei Bewegungen, die ein Spannungsverhältnis bilden, in dem sich der Erzähler auch befindet. Also, es zieht ihn nach oben, oder es zieht ihn in die Lüfte und es zieht ihn ins Bergwerk." Erzähler: Hermann Funk will begreifen, wer Ludwig Kaltenburg war, aber häufig greift sein Erinnern ins Leere. Es lässt sich nur schwer fassen, was damals passierte. Geschichte in den Griff bekommen zu wollen, nimmt Beyer wörtlich, wobei er auf das Motiv der Hand zurückgreift: Händen, Handschuhen und dem Händewaschen kommt im Roman besondere Bedeutung zu. Kaltenburg trägt mit Vorliebe Handschuhe. Und Hermann Funks Frau, Klara, erzählt gern Episoden aus Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", die vom Händewaschen handeln. Sie weiß allerdings nur zu gut, dass sich im gesamten Roman keine der von ihr erwähnten Stellen findet. Sie sagt nicht die Wahrheit und versteht diesen vermeintlichen Schwindel als Kommentar, wenn sich ihre Freunde und Bekannten an vergangene Zeiten erinnern. Dabei wird oft vergessen, was andere erinnern. Niemand kommt Klara auf die Schliche, weil sich keiner so genau erinnern kann. 11. O-Ton Beyer: "Wichtig an der Hand oder an der besonderen Aufmerksamkeit des Erzählers für Hände ist das taktile Moment. Es gibt ja [ ... ] das Bild von Ludwig Kaltenburg als Falkner, als jemand, der bestimmte Jagdvögel hätte. Und der Falkner hat auch einen festen Handschuh an. Und es gibt natürlich die Assoziation, die da immer mitspielt: Ob man sich - indem man Handschuhe überstreift - auch die Berührung mit etwas ersparen kann, ob man sich heraushalten kann [ ... ]. Ein Gegenbild wiederum dazu gibt es, wenn Hermann Funk die Dohlen von Ludwig Kaltenburg untersucht, [ ... ]und die Vogelbälge hervor nimmt und diese Dohlen in den Händen wendet über Wochen hinweg und sie untersucht, ohne richtig zu wissen, was er eigentlich an diesen Vögeln untersuchen will [ ... ]. Da ist er also in ganzer enger Berührung, aber mit was eigentlich? Natürlich mit der toten Dohle [ ... ], aber er greift, indem er die Dohle anfasst, natürlich auch in seine Geschichte hinein, in seine Geschichte mit Ludwig Kaltenburg. Durch das Riechen und Betasten der toten Dohlen wird ihm seine Geschichte mit Ludwig Kaltenburg wieder präsent." Musik: John Playford: Chirping of the nightingale 12. O-Ton Hensel: "Das Normale interessiert mich nicht in der Literatur", Erzähler: sagt Kerstin Hensel, die in ihrem Roman "Lärchenau" die Geschichte von Adele Möbius und Gunter Konarske erzählt. Adele stammt aus dem voigtländischen Dorf Katzgrün und Gunter erblickt das Licht der Welt in Lärchenau. Die Autorin verschränkt die Welt der Berge mit dem flachen Land. Doch der Boden, auf dem Adele und Gunter stehen, genügt ihnen nicht. Sie sind fasziniert von Höherem. Während sie sich einbildet, dass Adolf Hitler ihr Vater wäre, träumt er als Arzt davon, Nobelpreisträger zu werden. 13. O-Ton Hensel: "Speziell dieses [ ... ] Verrückte ist ja [ ... ] - meiner Erfahrung nach - in den Leuten drin, in allen Leuten drin, nur nicht immer in diesem hohen Level. Es ist alles vorhanden, fast jeder hat diese Träume, was anderes zu tun, was anderes sein zu wollen, sich mal zu verkleiden, sich mal austicken zu wollen und Konorske und Adele leben dies." Erzähler: Gute Voraussetzungen für eine Ehe. Adele bildet sich ein, berühmt zu sein, weil sie von "hoher Geburt" ist. Dass sie von einer höchst problematischen Herkunft träumt, stört sie nicht. Gunter wiederum will um jeden Preis berühmt werden, wobei ihm alle Wege zur Erreichung des Zieles recht sind, auch jene, die gegen den hippokratischen Eid verstoßen. 14. O-Ton Hensel: "Das ist fast ein wenig die Parodie eines Arztromanes - so fängt es an - mit den Vorstellungen vom guten, weißgekleideten Arzt, wird natürlich dann gebrochen, weil diese Machtausübung, die Gunter selbst leben will, also er will der Mächtige sein, richtet sich aber letztendlich bei ihm, obwohl auf der Humangenetik tätig, gegen den Menschen. Also, dieses Spiel mit der Macht, mit dem Höheren, in der Einbildung und in der Realität [ ... ], das spielt eine große Rolle." Erzähler: In Kerstin Hensels Roman wollen die Figuren hoch hinaus, aber solche Absonderungen aus dem Kollektiv, sind in der noch jungen DDR nicht gern gesehen. 15. O-Ton Hensel: "Die Herkunft, was ja immer ein Ausflug in die Geschichte ist, also Herkunft ist ja immer bedingt, durch äußere, durch geschichtliche, durch politische Gegebenheiten, ist für alle Figuren enorm wichtig." Erzähler: Kerstin Hensel erzählt eine groteske Geschichte von Menschen, deren Schicksal sie bis über das Ende der DDR hinaus verfolgt. Gunter wird zwar nicht Nobelpreisträger, aber er findet ein Mittel, dass die Menschen nicht mehr altern, sondern immer jünger werden lässt. Adele, die ihm als Versuchsobjekt dient, wird so zu einer Dorfberühmtheit und Lärchenau zu einnem Wallfahtsort. Immer jünger aber wird in diesem voller absurder Geschichten steckenden Roman nicht nur Adele, sondern auch ihre eingebildete Herkunftsgeschichte. 16. O-Ton Hensel: "Man kann sowieso nur grotesk schreiben, wenn man diese Weltsicht besitzt. Es wäre aber langweilig, bei einem guten grotesken Roman, von Anfang bis Ende nur mit den Mitteln der Groteske zu arbeiten. [ ... ]Viele Dinge wirken aus der Draufsicht für meine Begriffe monströs, grotesk, komisch. Man kann [ ... ] an der Symbolik und an der Überhöhung ablesen, dass dieses ganze System scheitern musste [ ... ] und das dies nicht wie Phönix aus der Asche kam, sondern ihre Gründe natürlich wieder in anderen Zeiten hatte. Also, es ist sozusagen wie eine große Hekelschleife, die Geschichte. Irgendwie muss man als Autor aber einen Anfang finden. Aber ich könnte immerfort zurück, zurück, zurück denken - was natürlich nicht geht - aber es ist alles miteinander verknüpft." Musik: R. Strauss: "Rosenkavalier", Arie: "Ohne mich" Erzähler: Zusätzlich unterlegt Kerstin Hensel dem seltsamen Geschehen die Musik von Richard Strauss? Oper "Der Rosenkavalier", wobei der Titel des Romans auf die im Rosenkavalier auftretende Figur des Baron Ochs auf Lerchenau anspielt. In der Oper wird wie im Roman die reale Welt mit einer imaginären verschränkt. Dabei weist die heraufbeschworene vergangene Welt bereits jene Schatten auf, die auf ihren Untergang hindeuten. 17. O-Ton Kerstin Hensel, Track 8 "Also der Rosenkavalier erschien mir als die Oper. Schon der Titel und die ganze Symbolik, die sozusagen der Inbegriff ist für den hohen Ton und für das hohe Gefühl - heute noch wie damals - das sucht sich Adele aus, als Kulisse. Sie versteht von der Oper gar nichts. Sie geht da hin und fühlt [ ... ], sie schwelgt. Und das Fühlen und auch das Schwelgen [ ... ] das ist ihre eigene Opernkulisse, die spielt sie in gewisser Weise nach. Darin scheitert sie auch in dieser Form der hohen Bühne." Musik: R. Strauss: "Rosenkavalier", "Die schöne Musi": 18. O-Ton Hensel: "Wenn man die Musik hört, [ ... ] der Walzer ist ja nicht mehr der Walzer des 18. Jahrhunderts. Der bricht ja immer ab, da fällt ja immer die Musik [ ... ] in sich zusammen, driftet aus. Es ist Rokoko, aber es ist schon der angefaulte. Und so ist es [ ... ] mit dem Dorf Lärchenau auch. Es will immer sein, es baut sich immer auf [ ... ] und eigentlich bricht das alles zusammen. Auch nicht umsonst hegt und pflegt Adele eine Pestrose, also eine Rose die stinkt." Erzähler: Daran, dass es in Lärchenau so unangenehm riecht, hat auch der Humanmediziner Gunter Konarske seinen Anteil, der in den Schweineställen des Dorfes sein experimentelles Unwesen treibt. Und Mitschuld am Leichengeruch, der über Lärchenau liegt, ist auch Adele, die nicht aufhören kann, einen Toten wiederzubeleben. Adele und Gunter interessiert nur, wie sie nach oben kommen, wofür die Bedingungen im Laufe der Zeit immer günstiger werden. Doch diese Selbsterhöhung kostet ihren Preis. Wie es um Lärchenau und seine Bewohner bestellt ist, erkennt als einziger Pfarrer Niklas. Er, der es von Amtswegen mit dem Oben zu tun hat, konfrontiert die Hochmütigen in einer Predigt mit ihrem realen Niedergang. Zitator: "Lärchenau ist ins Visier des Teufels geraten. Er hat sein Werk getan, wie er es tun musste, und ihr versteht es trotzdem nicht. So seid ihr. Unbelehrbar, abgeschliffen von Trott und Spott. Ich muss es hinnehmen. Halleluja! [ ... ] Gott, der euch vor nicht allzulanger Zeit, als alles am Boden lag, gesagt hat: Der Krieg seid ihr selbst gewesen. Ihr müßt selbst wieder aufbauen, was ihr zerstört habt. [ ... ] Doch wie schnell wart ihr wieder zu den Götzen unterwegs. Feigheit und Lügen haben Lärchenaus Straßen, Höfe und Häuser rissig gemacht. Im niederen Bann der Fehler habt ihr euer Jammern geschürt und von Schlössern geträumt, wo Gespenster der Einfalt schweben. Hat man euch Neues gegeben, habt ihr es in den Bankrott gewirtschaftet und gehofft, das sei der Fortschritt. Nichts wolltet ihr jemals über euch erfahren, doch was sollte über euer Dasein auch gesagt werden?" (S.431f.) Erzähler: Es würde zu dieser Predigt passen, dass sie der Pfarrer von der Kanzel - einem Ort zwischen oben und unten - spricht, während die Gemeinde zu ihm hinauf schaut. Musik: R. Strauss: "Rosenkavalier", Arie der Marschallin: Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding / Wenn man so hinlebt ist sie rein gar nichts. / Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, / im Spiegel da rieselt sie, / in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir, / da fließt sie wieder, lautlos, wie ein Sanduhr [ ... ] Manchmal hör ich sie fließen - unaufhaltsam. / Manchmal steh? ich auf mitten in der Nacht / und lass? die Uhren alle, alle stehn."