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Regie: Musik Erzähler: Mit diesen Worten weihte am 21. April 1960 der brasilianische Staatspräsident Jucelino Kubitschek die neue Hauptstadt von Brasilien ein. Er löst damit ein Versprechen ein, zu dem er sich nur vier Jahre zuvor bei einer Wahlkampfveranstaltung in einem brasilianischen Provinzort hatte hinreißen lassen. So entstand in der Rekordzeit von 48 Monaten in der menschenleeren Hochsavanne von Brasilien, mehr als tausend Kilometer von der bevölkerungsreichen Küste entfernt: Brasilia. Eine gebaute Utopie, ein Masterplan für die funktionale Stadt. Friedrich Prot von Kunow war bis vor vier Monaten deutscher Botschafter in Brasilia. Der Mann, der in den 90er Jahren den Umzug des Außenministeriums von Bonn nach Berlin geleitet hat, ist bis heute fasziniert von der Kraft der Vision, eine Hauptstadt komplett neu zu erfinden. Die Verlegung der brasilianischen Hauptstadt von Rio de Janeiro nach Brasilia haftet bis heute etwas von einer utopischen Extravaganz der Weltgeschichte an. O-Ton von Kunow Man muss ja sehen: es führte ja nicht mal ein richtiger Weg dahin. In den fünfziger Jahren sind die ersten Betonsäcke dort mit dem Flugzeug hingeschafft worden, damit man möglichst schnell anfängt, denn: überlegen Sie mal wie lange wir gebraucht haben, um unsere Hauptstadt wieder nach Berlin zu verlegen, wobei fast alles in Berlin vorhanden war. Da war tausend Kilometer weg von allem eine Ecke in der Savanne- Urwald war es ja nicht - und man hat gesagt: da kommt die Hauptstadt hin! Und man musste erst mal einen Weg hin bauen, man musste das Zeug einfliegen, man hat eine Baracke für den Präsidenten gebaut - und hat das nach 4 Jahren eingeweiht! Erzähler Inmitten des "Brazil vazio", des leeren Brasilien, eine auf dem Reißbrett entworfene neue Hauptstadt zu erschaffen, entsprach ganz dem Geist, der Ende der fünfziger Jahre in Brasilien, im "ewigen Land der Zukunft", herrschte. Jucelino Kubitschek, dem man liebevoll auch das Prädikat "Bossa-Nova-Präsident" verlieh, hatte ein großes Ziel: Er wollte einen kühnen Gegenentwurf zum kolonialen Brasilien mit seiner pittoresken Hauptstadt Rio de Janeiro schaffen. Brasilia: die Idee war allerdings nicht neu. Schon 1761 schlug der damalige portugiesische Premierminister vor, den Sitz des portugiesischen Imperiums ins Innere der brasilianischen Kolonie zu verlegen. Und es war der Vater der brasilianischen Unabhängigkeit von 1822, José Bonifácio, der als erster den Namen Brasilia für eine neue Hauptstadt vorschlug. Die erste brasilianische Verfassung von 1891 sah dann erstmals eine Verlegung der Hauptstadt von Rio de Janeiro ins Landesinnere vor, in das sagenumwobene Quellgebiet der Flüsse Araguaia, Tocantins, Rio Sao Francisco und Paraná. Man beauftragte den belgischen Astronomen Luís Cruls mit der Zusammenstellung einer Expedition. Von Rio de Janeiro machte sich die Expedition mit dem Zug bis ins 600 Kilometer entfernte Uberaba auf. Von dort aus war die Kunst der Sternennavigation gefragt. Mehr als 4.000 Kilometer schlug sich die Expedition Cruls ins Landesinnere durch - durch wildes Dickicht, Sümpfe und Wälder, in denen indianische Ureinwohner fern der Zivilisation lebten. Schließlich erreichte die Expedition Cruls das in der Verfassung angedeutete Gebiet. Cruls markierte eine Fläche von 14.400 Quadratmetern (!). Zwei Jahre später, 1894, wurde das "Cruls-Rechteck" in brasilianische Kartenwerke eingetragen und erstmals als "Districo Federal" bezeichnet. Cruls und seine Expedition wurden mit der Auswertung aller gesammelten Daten beauftragt, um den genauen Standort für die zukünftige Hauptstadt zu finden. Aber erst 1922, zum hundertjährigen Jubiläum der brasilianischen Unabhängigkeit, wurde in der "Sierra der Unabhängigkeit " ein symbolischer Grundstein für Brasilia gelegt. Bis in die 50er Jahre blieb es bei dem symbolischen Akt - bis der ambitionierte Präsident Juscelino Kubitschek den Ausbau der Stadt zur neuen Hauptstadt von Brasilien anordnete. Das Land sollte industrialisiert werden und das bedeutete: Es sollte von der Küste in das Landesinnere hinein entwickelt werden. Damit sollte auch das koloniale Erbe überwunden und ein neues nationales Selbstverständnis entwickelt werden. Kubitscheks gewaltiger Anspruch: mit der Ausstrahlung Brasilías auf das Volk sollte dem Amazonas-Staat der Panthersprung vom Entwicklungsland zur Großmacht gelingen, vom Kaffee-Staat zur Industrienation. Sprecher - Zitator Alles ist monumental, menschlich, einfach, grandios, asketisch, in der Reinheit seiner Form, die auf das Nötigste reduziert wurde. Erzähler Dieses Credo stammt von Lucio Costa, dem Stadtplaner von Brasilia. Zusammen mit Oscar Niemeyer, dem Jahrhundert-Architekten, wurden die beiden zu abenteuerlustigen Weggefährten des Präsidenten Kubitschek. Ihre gemeinsamen Visionen prägen das Bild von Brasilia bis heute. Atmo Fahrstuhl, Fernsehturm Erzähler Brasilia 2010. Wer von oben auf die Anlage der Stadt schaut, erkennt als Grundform ein Kreuz, dessen Waagerechte wie ein Bumerang gebogen ist: die Anlage erinnert an einen Vogel oder ein Flugzeug. Atmo Forts. Fahrstuhl, Fernsehturm Erzähler Mit dem Fahrstuhl fahren wir auf die Aussichtsplattform des Fernsehturms von Brasilia, eine brasilianische Version des Eifelturms, entworfen von Lucio Costa. Wie Anna Tavares, Musiklehrerin aus dem 4.000 km entfernten Porto Alegre, zieht es immer mehr - besonders brasilianische - Touristen in die Hauptstadt, die seit 1987 zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört. O-Ton Tavares Sprecherin - Übersetzerin Von hier oben, vom Fernsehturm aus gesehen, sehen Sie den Rumpf eines Flugzeuges. Und da ganz vorne sehen Sie den Senat, den Kongress, die Esplanade der Ministerien, und ein wenig weiter links den Planalto Palast. Dort arbeitet der Präsident. Und hinter uns sehen wir den anderen Teil des Flugzeuges, denn der Plano Piloto, der Hauptstadtentwurf, ist einem Flugzeug nachempfunden. Dort der rechte Flügel, und dort der linke Flügel. Und in der Mitte der Rumpf. Erzähler Ob Brasilia die Form eines Flugzeuges oder eines Kreuzes hat, darüber gehen die Meinungen auseinander. Was aber hat solch ein intellektueller Entwurf mit einer lebendigen Stadt zu tun? Friedrich Prot von Kunow: O-Ton von Kunow Es ist ja nicht alles so gelungen, wie man sich erhofft hat. Was z.B. besonders auffällt, wenn man aus Europa kommt: es gibt kein eigentliches Zentrum der Stadt! Es gibt nichts, wo man mal flanieren möchte, ein Platz, wo dann Cafés rundum sind, wo man sitzt, gibt es nicht. Das Zentrum der Stadt, wo sich die beiden Achsen treffen, ist der wirklich völlig unattraktive Busbahnhof. Atmo Busbahnhof Erzähler Rush hour - "Haschi -Hour" auf brasilianisch. Wir sind am Busbahnhof, einem Inferno aus Beton, Autoblech und Heilsversprechen. Der eine preist Jesus und der andere das ultimative Reinigungsmittel an. In langen Schlangen stehen all die Bewohner Brasilias, die in den riesigen Sattellitenstädten um den "Plano Piloto" wohnen. Tania Maldonado ist eine von ihnen. O-Ton Tania Maldonado Sprecherin - Übersetzerin Ich wohne in Cerilandia. Ich fahre jeden morgen 2 Stunden hier rein und abends zwei Stunden wieder zurück. Ja, das ist ein Kampf, aber was soll ich machen. Wirklich anstrengend! Wie Sie sehen, der Bus hier ist am vollsten! Erzähler Joao Alves da Rocha ist seit 33 Jahren Busfahrer in Brasilia. Er erinnert sich gut an jene Epoche, als die autogerechte Stadt noch eine große Vision war. O-Ton da Rocha: Sprecher - Übersetzer Die Bevölkerung ist hier unverhältnismäßig gewachsen, ein Strom, der nie verebbt. Selbst wenn die Stadt für 2 Millionen geplant gewesen wäre, heute leben hier mehr als drei Millionen. Das Projekt hier ist 50 Jahre alt, aber die Migration war so groß, mit so vielen Invasionen, das hat nichts mehr mit dem Originalprojekt zu tun. Dieser Busbahnhof beispielsweise, der eigentlich nur ein Busbahnhof sein sollte, hat sich zu einer Riesenfußgängerzone entwickelt. Hier kommen mittlerweile so viele Busse an, die können gar nicht alle zur gleichen Zeit hier einlaufen, geschweige denn zurück in die Sattelitenstädte fahren, weil draußen alles im Stau steht! Erzähler Auch wenn die Vorstellungswelt der Erfinder von Brasilia schier grenzenlos zu sein schien, die Sogkraft ihrer Idee, eine Stadt im absoluten Nichts zu schaffen, hatten sie offensichtlich unterschätzt. Die Stadt Brasilia war ursprünglich für 380.000 Menschen geplant. Atmo Bus und Wohnviertel Erzähler Wir fahren mit dem Bus dahin, wo alles anfing. In den Südflügel der Stadt, in die erste so genannte Super-Quadra. Hier sollten sich Lucio Costas sozialutopische Vorstellungen eines hierarchiefreien Zusammenwohnens der Menschen realisieren. In einer solchen Wohneinheit lebt der 84-jährige Milton Soares de Freitas, der als Planer und Bauleiter nach Brasilia kam und ab 1958 persönlicher Berater und Sekretär von Präsidentengattin Sarah Kubitschek war. O-Ton Milton Soares de Freitas Sprecher - Übersetzer Hier war nichts. Keine Frauen, keine Blumen, keine Vögel, nicht mal Ameisen. Das hier ist einfach alles von Menschenhand entstanden. Erzähler Mit der Bauankündigung Brasilias setzt die größte Wanderungsbewegung in der brasilianischen Geschichte ein. Mit Aussicht auf ein festes Gehalt und der Perspektive bleiben zu können, machten sich Tagelöhner und verarmte Bauern aus den Bundesstaaten Goiás, Minas Gerais, Bahia und Ceará auf nach Brasilia. 64.314 so genannte "Candangos" arbeiteten 4 Jahre lang fast täglich in Doppelschichten. Die meisten von ihnen lebten in ärmlichen Siedlungen, so genannten "Cidades Livres", freien Städten, mehr als 25 Kilometer von der Baustelle auf dem Plano Piloto entfernt. Die "Novacap", kurz für Nova Capital, die neue Hauptstadt, sollte bis zum Ende der Amtszeit von Jucelino Kubitschek ein irreversibles Faktum sein. Koste es was es wolle. Der Präsident versprach seinen Beamten eine hundertprozentige Gehaltserhöhung, wenn sie ihren Hauptwohnsitz von Rio de Janeiro nach Brasilía verlegten. Die Bauarbeiter erhielten fern des Plano Piloto Baugrundstücke. Trotz aller Anstrengungen waren bei der Einweihung am 21. April 1960 lediglich die Monumentalachse mit den Ministerien und Parlamentsgebäuden und kleine Teile des Nord- und Südflügels fertig. Die Hotels waren zwar fertig, aber unmöbliert. O-Ton von Kunow Es gibt einen großen Stolz am Bau dieser Stadt, dieser ungeheuren Leistung, dabei gewesen zu sein, dabei mitgearbeitet zu haben. Und alle die das damals gemacht haben, sind heute noch - und zu Recht - stolz darauf, dass sie dabei waren. Für viele arme Leute aus dem Nordosten, die damals als Bauarbeiter dahin strömten, war es die Chance ihres Lebens, überhaupt einen ordentlich bezahlten Job zu bekommen. Und das haben sie genutzt! Erzähler Sagt der ehemalige deutsche Brasilien-Botschafter Friedrich Prot von Kunow. Für nicht wenige war der Preis für ein besseres Leben allerdings hoch. Darüber wird bis heute eher Stillschweigen bewahrt in Brasilia. O-Ton Milton Soares de Freitas Sprecher - Übersetzer Ja, darüber redet man nicht gerne! Wie viele Menschen sind bei den Bauarbeiten gestorben! Da redet nie wer darüber. Immer nur über die angenehmen Sachen, dabei handelt es sich um eine Dimension, eine Größenordnung..., da sind viele, sehr viel junge Leute gestorben. Die waren es ja gewöhnt auf dem flachen Land mit der Hacke zu arbeiten. Die mussten nun auf einmal auf Gerüste im zweiten, dritten, vierten Stock steigen. Die fielen einfach runter! Erzähler Die überlebten, hatten zumindest die Hoffnung, einmal in einem jener Wohnviertel zu leben, in denen die Planer ihre Utopie eines modernen Lebens verwirklichen wollten: in einer sogenannten Superquadra. Die Superquadras sind in sich geschlossene Wohnsiedlungen, von denen sich rund 50 auf dem nördlichen und südlichen "Wohnflügel" verteilen. Milton Soares de Freitas lebt nun schon seit 50 Jahren in einer solchen Siedlung. O-Ton Milton Soares de Freitas Sprecher - Übersetzer Unsere Superquadra besteht normaleweise aus 11 Blöcken. 5 Apartmenthäuser mit drei Zimmern, und 6 Apartmenthäuser mit zwei Zimmern. In jedem Wohnbloch gibt es etwas mehr als 400 Wohnungen. Hier leben etwa 2.000 Menschen. In jeder größeren Wohnung leben normalerweise 5 Personen, in den kleineren drei. Hier lebt man fast wie in einer Kleinstadt. Alles ist gut organisiert, wir haben hier einen Bürgermeister, den die Anwohner wählen. Ich zumindest habe dafür gesorgt, dass hier nichts verändert wird. In ihren Wohnungen können die Leute ändern, was sie wollen, aber nicht da draußen. Erzähler Zumindest in den Superquadras finden wir das Idealbild von Brasilia bestätigt: modernes Wohnen in der Gartenstadt. Geschäfte, Kindergärten, Schulen, selbst kleine Theater und Kinos in Laufweite - ein Konzept vergleichbar mit dem Berliner Hansaviertel, das Vorzeigeprojekt der Nachkriegsmoderne, das, wie Brasilia, in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gebaut wurde. Auch hier wurde verwirklicht, was damals als moderne Stadtplanung galt: die Neuaufteilung und Dezentralisierung der Stadt durch die Bildung autaker Wohneinheiten, die Siedlungen von Grün durchzogen und umgeben. Der größte Teil der Arbeiter, die Brasilia gebaut haben, und der ärmeren Menschen lebt allerdings nicht hier, sondern außerhalb in den Satellitenstädten. Atmo Bus einblenden Erzähler Wir fahren mit dem Bus in die erste Satellitenstadt von Brasilia, in den "Nucleo Bandeirante". Einmal heraus aus dem "Plano Piloto" wähnen wir uns plötzlich in der brasilianischen Hochebene, mit dem einzigen Unterschied, dass diese Hochebene von sechs- bis achtspurigen Asphaltbändern durchzogen ist. Schließlich nehmen wir eine Abfahrt und finden uns in einer Stadt wieder, die alles hat, was man aus dem brasilianischen Nordosten kennt. Straßenhändler an jeder Ecke, gelbe Plastikstühle mit den Aufdrucken der verschiedenen brasilianischen Bierhersteller, eine wilde Architektur des Unfertigen. Im Nucleo Bandeirante treffen wir auf Menschen, die durchaus selbstbewusst und stolz darauf sind, hier zu leben und die ihre eigene Interpretation von Brasilia haben - wie die Besitzerin des Schönheitssalons " Platz der Schönheit", Dona Sueli de Nascimento. Atmo Friseursalon O-Ton Dona Sueli Sprecherin - Übersetzerin Ja, hier kennt jeder jeden. Meine Schwester sagt immer zu mir, ich käme ihr wie eine Politikerin vor. Ich treffe überall Leute, rede mit allen. Das ist alles viel menschlicher hier als im Plano Piloto. Erstens leben die Leute da alle in diesen gleichen Wohnungen, ich könnte da nicht mal gut schlafen. Hier reden die Leute miteinander, treffen sich, ... aquela coisa toda ... Erzähler An die menschliche Dimension des alltäglichen Lebens haben die Stadtplaner von Brasilia in ihren kühnen Entwürfen offenbar nicht gedacht - zumindest nicht beim Entwurf des Herzstücks, des Plano Piloto. Der ist beherrscht von repräsentativen Bauten, die aus der Ebene aufragen. Der laut Verfassung einzig berechtigte Architekt für die Monumentalbauten von Brasilia ist Oscar Niemeyer. Fast wie ein Gemälde an einer leeren Wand erscheinen seine Gebäude auf der so genannten monumentalen Achse, zur Rechten und zur Linken die Ministerien, dann der Gebäudekomplex von Senat und Abgeordnetenkammer, schließlich der Platz der drei Gewalten. Ex-Botschafter von Kunow bemängelt: O-Ton von Kunow Der eigentlich schöne Platz der drei Gewalten ist ein reiner öffentlicher Platz: da gibt es kein Café in der Nähe. In diese Entwicklung und Planung der Stadt sind ja viele sehr unterschiedliche Komponenten eingeflossen. Da ist vieles an demokratischer Kultur eingeflossen, da ist aber auch der ganze Stalinismus von Niemeyer eingeflossen, der also zu diesen öden Betonplätzen, wo das dankbare Volk aufmarschieren sollte - was aber dann nie kam, es sind die Ideen der Architektur aus den 20er und 30er Jahren, die dort beispielhaft verwirklicht worden sind. Wie ein gewisse Trennung von Leben und Arbeit. Erzähler Oscar Niemeyer, 1907 in Rio de Janeiro geboren, begann seine Laufbahn als Brasiliens Jahrhundertarchitekt im Architekturbüro von Brasilias späterem Stadtplaner Lucio Costa, wo er das erste moderne Gebäude im dekadent-gemütlichen Rio de Janeiro baute. Seine erste Arbeit brachte Niemeyer mit dem Wegbereiter des modernen Bauens zusammen: Le Corbusier. Dessen Leitbilder prägten Niemeyer: sozial verpflichtetes Bauen, industrielle Fertigung von Bauteilen, Abkehr von der Tradition und der radikale Bruch mit der Vergangenheit. O-Ton Niemeyer Ich habe einen großen Teil meines Lebens hinter dem Zeichentisch verbracht. Architektur ist gar nicht so wichtig. Mir ging es immer darum, die Welt zu verändern, mehr Gerechtigkeit in die Welt zu bringen, Revolution machen. Ja, und so ist meine Architektur auch ein bisschen anders. Ein Gebäude muss in erster Linie nicht nur nützlich sein. Es muss schön sein, es muss anders sein, es muss überraschen, wie jedes Kunstwerk sollte es emotional etwas bewegen. Daran glaube ich. Erzähler Die ausgedehnten Grünflächen, die sich, immer frisch gemäht, kilometerweit vor dem Regierungspalast erstrecken, werden heute nicht für Volksaufmärsche, sondern von vielen Gruppen der brasilianischen Zivilgesellschaft genutzt, die ihren Forderungen Nachdruck verleihen wollen. Ganz im Gegensatz zu manch alter Demokratie werden hier keine Wasserwerfer, sondern Wassertanks aufgeboten, die einzig und allein der Versorgung der Demonstranten dienen - eine erfrischende Dusche mit eingeschlossen. Man gewinnt den Eindruck, dass sich hier eine architektonische Idee mit Leben füllt: das Zentrum der Hauptstadt als Ort der gelebten parlamentarischen und außerparlamentarischen Demokratie. Die Vertreter der indigenen Völker Amazoniens und ihre mitgereisten indianischen Großfamilien kommen jedes Jahr. O-Ton Indianer Sprecher - Übersetzer Wir jetzt schon 10 Tage hier auf der Esplanade der Ministerien, mitten im Herzen von Brasilia, vor dem Regierungspalast Planalto. Und wir werden hier so lange bleiben, bis wir eine Antwort vom Präsidenten bekommen. Das ist hier ein Platz, den sich der Planer von Brasilia schon als einen Ort öffentlicher Proteste ausgedacht hat. Und Vertreter aller indigenen Völker von Brasilien treffen sich einmal im Jahr hier, campen unter freiem Himmel, seit 5 Jahren schon, immer im April. Wir hatten hier nie Probleme, das ist auch unser Zuhause hier, und das werden wir nie aufgeben. Erzähler Brasilia in der Regierungszeit des linken Präsidenten Lula da Silva. Nicht immer war das Regierungsviertel so egalitär. Nur vier Jahre nach der Einweihung von Brasilia putschte sich das Militär an die Macht. Oscar Niemeyer, der überzeugte Kommunist, musste das Land verlassen. Der Mann, der zusammen mit Le Corbusier für das UNO-Gebäude in New York verantwortlich zeichnet, ging nach Paris und baute dort als erstes das Parteigebäude der Kommunistischen Partei Frankreichs - ein Signal an die Generäle in seiner Heimat. 21 Jahre lang, von 1964 bis 1985, herrschten die Militärs in Brasilien, und die Hauptstadt, als Manifestation einer Demokratie errichtet, war das Zentrum einer Diktatur. Heute erinnert nur wenig an dieses dunkle Kapitel Brasilias. Brasilien ist längst eine gefestigte Demokratie und das Interesse, einmal dort gewesen zu sein, wo die wichtigsten Entscheidungen des Landes getroffen werden, ist groß. Die Führungen durch die Regierungsgebäude sind ausgebucht. Und zum Abschluss gibt es für jeden, der will, eine Großpostkarte, die man in die Welt schicken kann. "Das Porto zahlt die Regierung", so Fremdenführerin Larissa Correia Calza. Atmo Parlamentsführung (schon oben unter dem Text aufblenden) O-Ton Larissa Sprecherin - Übersetzerin Wir sind hier im Palast des Nationalkongresses, der sich aus zwei Häusern zusammensetzt: dem Senat und der Abgeordnetenkammer. Hier sind wir im Annexo 2 des Senates, mit den Büros der Senatoren und ihren Stäben. Hier drunter gibt es einen Tunnel, der die zwei Häuser verbindet. Er ist unter dem Namen "Timetunnel" bekannt, durch den wir gleich gehen werden. .. Gut, wir sind hier im Timetunnel, der die ganze politische Geschichte Brasiliens erzählt: Auf der linken Seite die monarchische Phase in rot, auf der rechten Seite die Republikgeschichte, in blau. Sie können sich die Bilder selbst ansehen, wir treffen uns dann auf der anderen Seite wieder. Ich erkläre Ihnen gerne etwas bei besonderen Fragen. Erzähler Fast alle fragen nach dem beliebtesten Präsidenten einer westlichen Demokratie: dem ehemaligen Metallarbeiter und heutigen Präsidenten Ignacio Lula da Silva. In diesem Jahr geht seine zweite Präsidentschaftsperiode zu Ende - und damit auch eine Epoche. Am Eingang des Timetunnels stehen Jucelino Kubitscheck und der Bau von Brasilia. O-Ton von Kunow Also man muss ganz klar sagen: die Ära Kubitschek als, sagen wir, der große Start Brasiliens in die Moderne, es ist ja nicht nur der Bau Brasilias, es ist die Industrialisierung des ganzen Landes, es ist die Erschließung des Inneren, es sind die Bauten riesiger Verkehrswege, es ist ein ungeheurer Entwicklungssprung, der damals stattgefunden hat: das wird heute von allen brasilianischen politischen Richtungen akzeptiert als ein ganz wichtiger Zeitpunkt. Und dafür steht auch Brasilia! Und die Regierung Lula heute ist sicherlich oder repräsentiert vieles, was man sich damals erhofft hat, was dann über lange Irrwege nicht gekommen ist. Aber heute ist es eben doch so, dass Brasilien anfängt, auch in der großen Breite eine moderne Industriegesellschaft zu entwickeln. Erzähler Auch Oscar Niemeyer, dessen Autobiographie den Titel " Die Kurve der Zeit" trägt, sieht sein Land in einem epochalen Wandel. Endlich residiert ein Politiker im Präsidentenpalast, den sich Oscar Niemeyer immer ersehnt hat. O-Ton Niemeyer In diesem Moment wächst Brasilien enorm. Es wird ein wichtiges Land. Und Lula lenkt das Land in eine richtige Richtung, er reagiert auf die Amerikaner, er führt das Land endlich in die Unabhängigkeit. Er ist ein großer Präsident. Das war ein großes Glück für Brasilien, dass Lula aufgetaucht ist. Er versteht wirklich die Lebenssituation vieler hier im Land. O-Ton von Kunow Brasilia hat an Wert sicherlich geschaffen, sagen wir, dass es ein Monument des Fortschritts in Brasilien ist. In erster Linie muss man mal sagen: des Fortschrittsglaubens! Das sehen wir heute natürlich alles etwas anders, als man das in den 50er Jahren tat. Wir glauben eben nicht mehr an das unbegrenzte Wachstum. Aber damals war das so. Damals glaubte jeder an unbegrenztes Wachstum, an Dynamik, an technische Entwicklung. Und dafür steht Brasilia! Und das Schöne ist, dass durch die Architekten und Stadtplaner, aber auch durch die dort lebenden Brasilianer eine wirklich schöne und sympathische Stadt daraus geworden ist! Musik Erzähler Nicht nur das. Bis heute vermittelt Brasilia eine Stimmung, die Besucher auch nach der Abreise immer noch in Bann hält. Brasilia atmet das historische Versprechen auf eine bessere Zukunft, wenn man die richtigen Werkzeuge zur Hand hat. Das ist nicht zuletzt die Botschaft des Architekten Oscar Niemeyer. O-Ton Niemeyer Wenn du dich aber wie wir für die neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen interessierst - jeden Dienstag hält ein Professor hier in meinem Studio eine Vorlesung zur modernen Wissenschaft - wird dir schnell klar: der Fortschritt wird mehr Freiheit bringen, unsere Phantasie freisetzen, das ist alles so gewaltig, da werden wir Menschen auf einmal ganz klein, in dieser phantastischen Welt. Der Mensch muss modern und solidarisch sein. Jeder Mensch hat eine gute Seite. Musik 1