COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 19. Januar 2009, 19.30 Uhr Pauken und trompeten Ganztagsschule als Herausforderung Von Stefanie Müller-Frank Atmo 1 Big Band O-Ton 1 (Luitgard von Brunn) Die Kinder entwickeln sich auch anders, wenn sie den ganzen Tag mit Gleichaltrigen zusammen sind. Und Sie bekommen auch andere Kinder, Sie bekommen andere Anmeldungen, andere Bevölkerungsschichten ins Haus, die Sie vorher vielleicht nicht so hatten. Es ändert sich eine ganze Menge. Sprecher vom Dienst Pauken und trompeten. Atmo 1 Big Band noch mal aufziehen Sprecher vom Dienst Ganztagsschule als Herausforderung. Von Stefanie Müller-Frank. Atmo 2a Kiosk aufschließen Autorin Fünf vor halb zwei in der IGS Stierstadt. Zwei Schüler der 10e kommen über den Pausenhof geschlendert und schließen die Tür zum Kiosk auf. Noch fünf Minuten, dann ist die sechste Stunde an der Integrierten Gesamtschule Stierstadt im Hochtaunuskreis um. Bis dahin müssen die Brötchen geschmiert und das Wasser heiß sein - denn heute gibt es zusätzlich Hot Dogs. Atmo 2b Kiosk verkauft Autorin Der Pausenkiosk "Mc Ess" wird reihum in Eigenregie der zehnten Klassen betrieben, vom Erlös finanzieren sie ihre Abschlussfahrt. Donnerstag- und Freitagmittag kommen besonders viele Schüler, um sich mit belegten Brötchen oder Schokoriegeln zu versorgen, denn dann ist die Kantine geschlossen. O-Ton 2 (Umfrage Schüler Judo-AG) Es gibt ja nur montags, dienstags und mittwochs. Aber heute gab's Hot Dogs und da habe ich erstmal drei gegessen. - Und ich habe einen gegessen. - Soll auch mal donnerstags geben. - Das wäre supergut. - Weil es gibt immer nur Brötchen und so. Also dann kann man auch donnerstags mal essen, so kaufe ich mir immer ein Brötchen und davon werde ich nicht satt. - Warmes schmeckt leckerer außerdem. Autorin Die Schüler, die auf die Judo-AG warten, sind sich einig: Sie würden lieber warm zu Mittag essen. Auch Schulleiter Walter Breinl würde die Kantine gerne jeden Mittag öffnen. Aber dafür reichen die Mittel nicht. Denn die IGS Stierstadt ist keine voll ausgebaute Ganztagsschule, sondern eine Schule mit so genannter "pädagogischer Mittagsbetreuung". O-Ton 3 (Walter Breinl) Das ist die erste und unterste Stufe, sozusagen der Einstieg in das Ganztagsprogramm - an drei Tagen lediglich mit geringer Personalausstattung, geringen Mitteln. Das ist ein kleines Programm, das Mittagessen plus Arbeitsgemeinschaften ermöglicht. Autorin Jede Schule in Hessen, die Ganztagsschule werden möchte, muss zunächst einmal mit "pädagogischer Mittagsbetreuung" starten. Das Gehalt für zwei zusätzliche Lehrerstellen, also 69.000 Euro, stellt das hessische Kultusministerium bereit. Davon muss Walter Breinl sein komplettes Nachmittagsangebot für die 800 Schüler stemmen: Das Personal für die Kantine, die Hausaufgabenbetreuung, sämtliche AGs. Also hat der Schulleiter bei Kooperationspartnern angefragt, ehrenamtliche Helfer und gemeinnützige Vereine dafür gewonnen, sich an der IGS Stierstadt zu engagieren. O-Ton 4 (Walter Breinl) Ansonsten würden wir es an fünf Tagen nicht schaffen. Wir haben beispielsweise eine ganze Stelle von einem ortsansässigen Verein, der sich um die Ausländerintegration bemüht und über diese Projektanbindung bei uns, die uns unmittelbar nichts kostet, die wir also nicht aus unseren Ganztagsmitteln bezahlen müssen, können wir einen erheblichen Teil des Hausaufgabenbetreuungsprogramms am Nachmittag mit abdecken. Atmo 3 Big Band Autorin Aber dieses Angebot reicht gerade mal für 40 Schüler. Deshalb würde die IGS Stierstadt gerne eine so genannte "offene" Ganztagsschule werden - mit Kantine und freiwilligem Nachmittagsangebot an allen fünf Tagen. Den Bedarf hat der Schulleiter Walter Breinl in einer Fragebogenaktion ermitteln lassen: Etwa ein Drittel der Eltern wünscht sich eine zuverlässige Betreuung bis fünf Uhr - und vor allem, dass die Kinder ihre Hausaufgaben unter Aufsicht machen können. Das Lehrerkollegium ist in der Mehrheit dafür - und auch die Schüler. O-Ton 5 (Sahela Bayato) Ich finde es besser, weil, ich kann mich hier in der Schule besser konzentrieren und wenn ich dann zu Hause bin, dann möchte ich da auch meine eigenen Sachen machen. Und das ist auch entspannter hier, man hat immer Ansprechpartner, man kann immer fragen, und deshalb finde ich das eigentlich gut mit den Ganztagsschulen. O-Ton 6 (Nick Stierwald) Also ich bin eigentlich auch dafür, weil man sieht auch sehr viele Kinder oft auf den Straßen, die nicht wissen, was sie zu tun haben und hier können sie einfach Hobbys nachgehen und alles und werden ja auch gefördert. Wie hier zum Beispiel in der Big Band können Leute, wenn sie Musik spielen, einfach hier mitmachen. Autorin Drei Anträge hat Schulleiter Walter Breinl bereits gestellt, um die IGS Stierstadt in eine offene Ganztagsschule umzuwandeln. 15 Prozent mehr Personal hat er dafür veranschlagt. Gerade mal die Hälfte dessen, was Experten für notwendig halten, sagt Stefan Appel, Vorsitzender des Ganztagsschulverbands: O-Ton 7 (Stefan Appel) Normalerweise braucht eine Ganztagsschule 30 Prozent mehr pädagogisches Personal. Bis in die siebziger Jahre war dieses Personal, waren das hauptsächlich Lehrkräfte. Heutzutage weiß man, dass die Lehrkräfte a) nicht alles können und b) auch zu teuer sind. Also versucht man, am Nachmittag auch andere Kräfte einzusetzen. Da, wo das gemischt wird, also sowohl Lehrkräfte mit Personal von freien Trägern oder Werkmeistern oder Personen, die etwas Besonderes können, ist das in Ordnung. Aber da, wo man den Unterricht am Vormittag so lässt, wie er war, also klassischer Halbtagsschulunterricht, und am Nachmittag ein paar Betreuungskräfte einstellt, die man eventuell auch noch kauft, so was kann man heute in Modulen regelrecht einkaufen, da ändert sich die Schule ja nicht. Und das hat nichts mit Ganztagsschule zu tun. Autorin Natürlich, sagt Walter Breinl, könne er verstehen, dass man möglichst vielen Schulen in Hessen den Einstieg in den Ganztagsbetrieb ermöglichen will - und deshalb erstmal mit einer Schmalspurversion startet. Aber die Behörden vertrösten ihn jetzt seit sieben Jahren. Trotz des umfassenden Förderprogramms, das die rot-grüne Bundesregierung 2003 für Ganztagsschulen aufgelegt hat. O-Ton 8 (Walter Breinl) Angeregt habe ich das gegenüber dem Schulträger, doch die IZBB-Mittel der Bundesregierung zu beantragen, doch beim Land Hessen vorstellig zu werden, damit die Mittel abgerufen werden. Das ist in Gesprächen gelaufen. Und da aber das Land Hessen kein Interesse hatte, uns personell besser auszustatten, hat es auch speziell für unsere Schule nicht die baulichen Mittel beantragt. Denn wenn es uns schon früher baulich zur Ganztagsschule weiterentwickelt hätte, weitergebaut hätte, hätte es ja auch das Personal aus eigenen Mitteln dazu beisteuern müssen. Autorin Denn die vier Milliarden Euro aus dem "Investitionsprogramm Zukunft Bildung Betreuung", kurz IZBB, dürfen nur für Ausstattung und Baumaßnahmen ausgegeben werden - für zusätzliche Pädagogen müssen die Kultusministerien der Länder aufkommen. So sind seit 2003 knapp 7.000 Schulen bundesweit mit Mensen, Bibliotheken und Freizeiträumen ausgestattet worden - aber so mancher neue Schulraum steht nachmittags leer, weil die Lehrer fehlen. Stefan Appel vom Ganztagsschulverband: O-Ton 9 (Stefan Appel) Damals wie heute möchte man sich natürlich in den Ländern wegen der Kulturhoheit offen lassen, wie man solche ganztägig arbeitenden Schulen einrichtet und wie weit man sie zeitlich und personell ausdehnt. Und auch, von wem das Personal gestellt wird. Autorin Die Förderrichtlinie des IZBB-Programms lässt da den Ländern jeden Spielraum. Denn die Definition, was eigentlich eine Ganztagsschule zur Ganztagsschule macht, also welche Schulen gefördert werden können, wurde von den 16 Bundesländern nach dem Einstimmigkeitsprinzip der Kultusministerkonferenz beschlossen. Und so darf man sich nicht wundern, dass dabei der kleinste gemeinsame Nenner zustande kam: Mindestens drei Tage à sieben Zeitstunden muss eine Ganztagsschule anbieten - eine reine Zeitvorgabe, die nichts über Inhalt oder Qualität des Angebots aussagt. Und die bewusst jeden landesspezifischen Ansatz akzeptiert - auch Schulen mit Horteinrichtungen oder reiner Betreuung am Nachmittag. Das erklärt auch, warum sich die Zahl der Ganztagsschulen nach der Neudefinition bundesweit schlagartig verdoppelt hat. O-Ton 10 (Stefan Appel) Das heißt, wenn Bundesländer angeben, sie hätten so und so viele Ganztagsschulen, muss man schon sehr genau gucken, was diese einzelnen Schulen anbieten. Das kann ich eigentlich auch nur allen Eltern raten: Wenn Sie sich umschauen und eine Ganztagsschule für ihr Kind suchen, müssen Sie nachfragen, was die Schule macht und wie sie ausgebaut ist. Und ob die Schule wirklich Ganztagsschule heißt, oder ob sie Schule mit Ganztagsangebot heißt. Das ist ein riesiger Unterschied. Autorin Laut einer Umfrage von Infratest-dimap aus dem Jahr 2004 wünschen sich 70 Prozent der Eltern in Deutschland zusätzliche Ganztagsschulen - unter den berufstätigen Frauen sind es sogar 75 Prozent. Dieses eindeutige Votum von Elternseite hat auch bei Politikern zu einem Umdenken geführt: Selbst in Bayern oder Baden-Württemberg werden ideologische Vorbehalte gegenüber Ganztagsschulen heute nicht mehr als Argumente angeführt. Und Fördermittel aus dem Bundeshaushalt kann jede Landesregierung gebrauchen. Atmo 4 Judo-AG Autorin Dass diese Investitionen auch ihren Zweck erfüllen, das hat der Bundesrechnungshof 2006 in einem unveröffentlichten Gutachten jedoch bezweifelt. Angezweifelt wurde nicht, dass Deutschland mehr Ganztagsschulen braucht. Sondern ob die vier Milliarden Euro von den Ländern auch tatsächlich dafür eingesetzt wurden, mehr Ganztagsschulplätze zu ermöglichen. "Ein Zusammenhang zwischen Bundeszuschuss und Anzahl der zusätzlichen Ganztagsschulplätze ist nicht erkennbar", heißt es in dem Gutachten. Darüber hat sich das Bundesbildungsministerium keinerlei Kontrollmöglichkeiten vorbehalten. Inzwischen wurde der Förderzeitraum um ein Jahr bis Ende 2009 verlängert, weil noch insgesamt 670 Millionen Euro ungenutzt sind. Hessen zum Beispiel hat ein Viertel der ihm zustehenden Mittel bislang nicht abgefragt. Atmo 4b Judo-AG Autorin Andere Bundesländer haben mit den IZBB-Mitteln fleißig bauen lassen, auch mal Schuldächer saniert oder Heizungen erneuert - am Unterrichtskonzept selbst aber oft nichts geändert. Vormittags wird wie gewohnt Schule gemacht und nachmittags einfach ein freiwilliges Betreuungsangebot angehängt, das nichts mit der Schule am Vormittag, mit Lernen oder Fördern, zu tun hat. Bikinimodell nennen das spöttisch die Fachleute. Und da Lehrer teuer sind, sollen Hausaufgabenaufsicht und Freizeitaktivitäten Eltern, Vereine oder Personal aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen übernehmen. O-Ton 11 (Stefan Appel) Das ist ja auch der Mangel, der oft beklagt wird: Dadurch, dass viele Leute hereinschneien, mit wenigen Stunden, sich schnell auswechseln, die Kinder keine Zuwend- oder Gesprächspartner haben und die Absprachen nicht funktionieren oder eben nur sehr formal sind. Schule ist ja dann eine Lebenswelt als Ganztagsschule. Und das darf nicht zugehen wie auf einem Bahnhof. Autorin Natürlich, konzediert Stefan Appel, darf man bei aller Kritik auch nicht außer acht lassen, welche Summen hier von den Ländern in die Hand genommen werden müssten: 5,7 Milliarden Euro, hat das Institut der deutschen Wirtschaft ausgerechnet, würde allein das zusätzliche Personal kosten, um flächendeckend auf einen verpflichtenden Ganztagsbetrieb umzusatteln - pro Jahr wohlgemerkt. Atmo 5a Mathestunde Autorin In Zeiten knapper Kassen leistet man sich den konsequenten Ganztagsbetrieb also erstmal nur dort, wo es brennt. Nur jede zehnte Ganztagsschule in Deutschland ist eine gebundene - also mit verpflichtendem Ganztag. Wie die Hunsrück-Grundschule in Berlin-Kreuzberg. Atmo 5b Mathestunde Autorin Rund zwanzig Kinder hocken hier in Strümpfen auf dem Teppichboden vor der Tafel. Einige im Schneidersitz, andere auf den Knien, die Ellbogen vor sich aufgestützt. Die 2b hat Mathe. Um kurz vor zwei. Dann, wenn an der IGS Stierstadt die Arbeitsgemeinschaften beginnen. Und andere Grundschulkinder längst zu Hause sind, zu Mittag essen oder auf der Straße Fußball spielen. Atmo 6 Heft holen Autorin Eine Frau öffnet leise die hintere Tür des Klassenzimmers und sucht nach dem Leseheft von Tunahan. Während die 2b lernt, wie man Zehner und Einer zusammenbindet, übt Monika Gülke im Freizeitraum nebenan mit einem der Schüler lesen. Atmo 7 vorlesen -etwas stehen lassen: Das ist Bert. Bert ist ein... Booxeer.) Autorin Tunahan fährt stockend mit dem Zeigefinger von Wort zu Wort - und man merkt ihm die Erleichterung an, wenn er zwischendurch kurz Pause macht, um auszumalen, was er gerade vorgelesen hat. Schulleiter Mario Dobe: O-Ton 12 (Mario Dobe) Wir haben eine Menge Entwicklungsdefizite bei den Kindern. Die Hunsrück- Grundschule liegt im sozialen Brennpunkt. Einigen, zu vielen Eltern fehlt die Erziehungskompetenz, sie sind als so genannte bildungsferne Eltern einzustufen, die sich für das, was die Kinder in der Schule machen, was an Bildung notwendig ist, nicht sehr interessieren. Und wenn man eine gebundene Ganztagsschule hat, und hat die Kinder von 8 bis 16 Uhr da, dann hat man einfach mehr Chancen, diese Benachteiligung, die die Kinder mitbringen, für die sie aber gar nichts können, ein kleines Stück weit auszugleichen. Atmo 8 ausmalen Autorin Um diese Kinder vernünftig fördern zu können, braucht man allerdings auch Sprachvorbilder auf Augenhöhe, meint Mario Dobe. Also andere Kinder. Kinder, die mit Deutsch als Muttersprache aufwachsen. Doch die sind rar in Berlin-Kreuzberg. Denn viele deutschsprachige Eltern ziehen um, sobald ihre Kinder schulreif sind oder schicken sie zu Privatschulen. Um dem entgegenzusteuern, hat Mario Dobe gemeinsam mit dem Lehrerkollegium vor fünf Jahren beschlossen, die Hunsrück- Grundschule in eine gebundene Ganztagsschule umzuwandeln, an der alle Kinder bis vier Uhr nachmittags dableiben müssen. Seitdem hat sich die Schülerstruktur stark verändert: Während vor sechs Jahren 81 Prozent der Kinder nichdeutscher Herkunft waren, sind es heute 61 Prozent. Denn das Ganztagsangebot ist attraktiv: O-Ton 13 (Nina Schrader) Für mich ist es sehr praktisch, weil ich selbst auch arbeite und insofern meine Tochter bis 16 Uhr betreut ist. Ich finde, bis 16 Uhr ist eine lange Zeit, und ich merke, meine Tochter ist auch wirklich fertig um 16 Uhr, aber da ich weiß, dass sie zwischendurch bis zu zwei Stunden Spielzeit hat, Freizeit und AGs hat, finde ich das hier in der Schule sehr gut aufgeteilt. Also ich finde es besser, bis 16 Uhr aufgeteilt zu haben, als alles so kompakt am Vormittag. Autorin Denn den ganzen Tag Schule zu haben, heißt ja nicht, den ganzen Tag zu pauken. Im Gegenteil: Wenn alle Kinder dableiben, kann der Unterricht über den ganzen Tag verteilt werden. Lernphasen können sich mit Spielphasen abwechseln, Unterricht mit Freizeit. "Rhythmisierung" nennt sich das in Fachkreisen. Und der Rhythmus, betont Schulleiter Mario Dobe, ist der der Kinder: O-Ton 14 (Mario Dobe) Wenn ich zwischen neun und halb zehn partout keinen Bock habe zu arbeiten, dann bringt es ja auch nichts, wenn ich als Pädagoge die Kinder dazu zwinge zu arbeiten. Da lernen sie eh nichts bei. Aber dann muss auch klar sein für diese Kinder: Wenn sie zwischen neun und halb zehn was anderes machen, als fürs Lernen zu arbeiten, dass sie das irgendwann am Tag dann doch machen müssen. Und die Einsicht haben Kinder viel mehr als wir Erwachsenen. Und dann eben auch die Möglichkeit dazu. Autorin Eine solche "Rhythmisierung" des Schulalltags lässt sich allerdings nur dann umsetzen, wenn das Angebot verpflichtend ist, also wenn alle Kinder von 8 bis 16 Uhr anwesend sind. Außerdem braucht die Schule zusätzliches Personal, zusätzliche Räume - und Spielsachen. Atmo 9 Freizeit in der 3b Autorin In der Hunsrück-Grundschule hat jede Klasse zwei Räume: Einen Unterrichts- und einen Freizeitraum. Und meistens werden beide mitgenutzt. So können sich die Kinder zum Beispiel für eine Gruppenarbeit aus dem Unterricht nach nebenan zurückziehen, ohne die anderen zu stören. Oder ein Schüler kann individuell gefördert werden, während die Klasse Freizeit hat. Das gilt auch für die besonders guten Schüler, die noch zusätzliche Aufgaben machen wollen, sagt Mario Dobe: O-Ton 15 (Mario Dobe) Weil, wenn ich in einer 1. Klasse Kinder habe, dann sind die erstmal ein Lebensjahr voneinander entfernt - die Jüngsten und die Ältesten. Sie sind aber, das sagen auch Untersuchungen, in ihrem Vorwissen, in ihrem Können, mindestens zweieinhalb Jahre voneinander entfernt. Und das nun auch noch unterschiedlich: Die einen in Bezug auf die Sprache, da gehören sie zu den Guten und in Bezug auf Mathematik zu den Schwachen vielleicht. Und die anderen umgekehrt. Und dem muss ich als Lehrerin oder Lehrer auch sehr gerecht werden. Atmo 10 Mädchen in Sitzecke Autorin Alle müssen bis vier in der Schule sein. Nur freitags darf, wer will, nach dem Mittagessen nach Hause gehen. Ist das für Sechs- oder Siebenjährige nicht zu anstrengend? Martin Ehlebracht zögert kurz, dann schüttelt er den Kopf: O-Ton 16 (Martin Ehlebracht) Es gibt auch schon, in jüngeren Jahrgangsstufen, gerade in den unteren Klassen, manchmal Eltern, die meinen, es wäre zu viel für die Kinder. Also da höre ich dann auf meine Kinder. Und es ist meine zweite Tochter jetzt, die hier zur Schule geht und normalerweise ist die meist sauer, wenn ich sie abhole. Von daher können sie um 16 Uhr noch nicht erschöpft sein. Autorin Özer Alkan hat zwei Söhne, die hier zur Schule gehen und auch er ist von dem Ganztagsangebot überzeugt: O-Ton 17 (Özer Alkan) Ja, ich finde das gut bis vier Uhr. Die Kinder können besser lernen. Wir wollen die Beste für die Kinder, deswegen noch mehr Zeit in Schule gehen lassen. Sonst die Kinder auf Straße gehen oder zu Hause fernsehgucken. Meine Meinung. Autorin Es gab aber Eltern, die gegen gebundene Ganztagsschulen geklagt haben: Gegen einen Eingriff in das Recht des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit oder einen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht. Die Gerichte haben ihnen meist Recht gegeben. In diesen Fällen muss die Schulbehörde dann den längeren Schulweg zahlen, sofern es keine alternative Schule vor Ort gibt. Die Forschung kann die Befürchtungen der Eltern jedoch nicht bestätigen, erklärt Heinz-Günter Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung: O-Ton 18 (Heinz-Günter Holtappels) Diese Sorge ist zwar berechtigt, aber wir haben in der StEG-Studie festgestellt, dass das Familienleben überhaupt nicht beeinträchtigt wird. Eltern, Familien können sich also auch darauf einstellen, mit Ganztagsbetrieb zu leben. Das heißt, das Familienleben findet dann nach 16 Uhr und vorwiegend am Wochenende statt. Autorin Und da es an Ganztagsschulen auch keine Hausaufgaben gibt, wirkt sich das sogar positiv aufs Familienklima aus, ergänzt Professor Holtappels. Die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen, kurz "StEG-Studie", hat sowohl Eltern als auch Lehrer und Schüler zu ihren Erfahrungen, zu Angebot und Nutzung von Ganztagsschulen befragt. So haben zum Beispiel Eltern, deren Kinder aufs Gymnasium gehen die meisten Vorbehalte. Trotzdem, meint Holtappels, sollte der Ganztagsbetrieb verpflichtend sein. Einfach, weil er die meisten Fördermöglichkeiten bietet. O-Ton 19 (Heinz-Günter Holtappels): Wir müssen Eltern überzeugen, denn es wird nicht ohne die Akzeptanz der Eltern gehen. Aber Eltern können ja auch nicht darüber abstimmen, ob das Mathecurriculum nun so oder so entwickelt wird, sondern das überlassen wir an der Stelle ja auch den Fachleuten. Autorin Vielerorts hängt die Ablehnung der Eltern auch noch mit Vorurteilen gegenüber den Gesamtschulen und deren Klientel zusammen. Aber das, erzählt Stefan Appel vom Ganztagsschulverband, hat sich mit der Verkürzung des Gymnasiums auf acht Schuljahre schlagartig geändert. Denn G8 schafft Fakten: O-Ton 20 (Stefan Appel): Ich habe Schulen erlebt, in denen Kinder acht, neun und zehn Stunden Unterricht an einem Stück hintereinander haben. Nicht einmal die Mittagspause war besonders groß. Die Lehrkräfte wechseln sich aus, und die Kinder sitzen das Ganze ab. Und jeder, der Ahnung von Pädagogik hat, weiß, dass man acht oder zehn Stunden hintereinander unmöglich lernen kann. Das sind de facto Ganztagsschulen. Nur müsste man sie anders konstruieren. Man müsste also sozusagen nicht nur zwei oder drei Nachmittage voll laden bis obenhin, sondern man müsste es auf die anderen Tage verteilen. Autorin Das hat auch Luitgard von Brunn zum Umdenken gebracht: Durch G8, erzählt die stellvertretende Schulleiterin am Luisen-Gymnasium in München, war das Pflichtstundenmaß so hoch, dass man einfach auf die Nachmittage ausweichen musste. Was bis dato in Bayern natürlich arg verpönt war. Und einige Eltern dazu veranlasste, ihre Kinder abzumelden - trotz des guten Rufs der Schule. Aber das wurde mehr als ausgeglichen durch die Neuanmeldungen. O-Ton 21 (Luitgard von Brunn) Es war ein starker Wunsch auf Elternseite da, weil speziell auf dem Gebiet des Gymnasiums war das Angebot nicht da. Und wir haben ja gerade auch in München sehr viele Mütter, Väter, wo beide Elternteile nicht nur arbeiten wollen, sondern sogar müssen, denn die Mieten sind sehr hoch und die Familien sind darauf angewiesen, dass beide verdienen. Und es war dann auch so: Als wir beschlossen haben, umzubauen, wurden wir völlig überrannt mit Anmeldungen. Autorin Denn bis zur Umstellung des Luisen-Gymnasiums vor vier Jahren gab es in München eigentlich nur private Gymnasien, die Ganztagsangebote hatten, erzählt von Brunn. Und die kosten natürlich Geld. Durch die frühzeitige Entscheidung konnte das Luisen-Gymnasium auch noch von den IZBB-Mitteln profitieren. Was die meisten Gymnasien verschlafen haben. Stefan Appel: O-Ton 22 (Stefan Appel) Ich glaube, viele der G8-Gymnasien - das sind ja oft große Schulen mit großen Klassen - haben sich das so nicht vorgestellt. Die haben gedacht, als es darum ging, diese Stunden des 13. Schuljahrs auf die anderen Jahre zu verteilen, haben die gedacht: Na ja, das gibt mal einen Nachmittag mehr mit ein, zwei Stunden, das sind wir ja gewöhnt, AGen gibt nachmittags auch. Aber dass das in der Größenordnung, also Schülerschaften von 150 oder 300 oder 450 plötzlich in den Gängen rumsitzen und wissen nicht wohin und wo sie das Essen kriegen und schwirren aus in die Stadt oder in die Nähe oder der Pizzadienst kommt. Das hat man sich so nicht vorgestellt. Insofern ist im Augenblick eine sehr heftige Bewegung in der Gymnasiallandschaft, weil man nachträglich jetzt noch an diese Bundesmittel heran will - und man kann es nicht. Autorin Dass die Umstellung auf den Ganztagsbetrieb für viele Gymnasien erst gar nicht in Frage kam, lag oft auch am Widerstand des Lehrerkollegiums, erzählt Stefan Appel vom Ganztagsschulverband. Das kann auch Luitgard von Brunn bestätigen. O-Ton 23 (Luitgard von Brunn) Das war schon umstritten, und das ist auch eine ganz große Umstellung. Das sollte man auch nicht gering schätzen. Die Kollegen sind ja auch unter anderen Bedingungen angetreten: Wir haben einen hohen Frauenanteil, wir haben auch sehr viele junge Frauen, die Familie haben. Ich kann das gut verstehen: Man geht in den Beruf rein mit der Vorstellung, ich gehe mittags nach Hause und richte mir mein Leben so ein. Atmo 12 Deutsch in der 1a (selbständiges Arbeiten) Autorin Kurz nach zwei an der Hunsrück-Grundschule in Berlin-Kreuzberg. Die Schüler der 1a sollen sich in Gruppen das kleine und das große P erarbeiten. O-Ton 24 (Lothar Blending) Sagen wir mal so: Die Verweildauer an der Schule ist länger. Also früher ging es um acht los und um 13.20 Uhr war Feierabend und dann konnten wir gehen. Allerdings mussten wir dann auch zu Hause weiterarbeiten. Und die Arbeiten, die ich früher zu Hause gemacht habe, die mache ich jetzt alle hier in der Schule. Und wenn ich dann um 16 Uhr Schluss habe, dann habe ich auch wirklich Feierabend und kann dann nach Hause gehen. Autorin Das Votum des Lehrerkollegiums für die Umstellung auf eine gebundene Ganztagsschule, erzählt Lothar Blending, war einstimmig. Aber nur, weil auch die Bedingungen stimmten. Denn an der Hunsrück-Grundschule haben alle Lehrerinnen und Lehrer einen richtigen Arbeitsplatz an der Schule, mit eigenem Schreibtisch, PC und Bücherregal. O-Ton 25 (Vanessa Kunert) Man kann seine Arbeit anders aufteilen. Man kommt eben nicht nach Hause, und fängt dann erst mit der ganzen Korrekturarbeit an oder mit den Bastelarbeiten, wenn man wieder Material vorbereiten muss, sondern man kann sich das anders einteilen, kann wie jetzt zum Beispiel, auch mal ein bisschen länger dableiben, um Beobachtungen anzustellen, während der andere Unterricht hat und man selbst nicht sofort wieder in die nächste Klasse rennen muss. Also es unterstützt einfach das eigene Arbeiten ungemein, finde ich. Autorin Diese Zusammenarbeit mit Kollegen, ob mit anderen Lehrern oder den Erzieherinnen, ist es, die Vanessa Kunert besonders schätzt. An der Hunsrück- Schule gibt es für jede Klasse ein Team von Lehrerinnen und Erzieherinnen. Deren Absprachezeiten sind fest im Stundenplan verankert - und auch bezahlt. Einmal die Woche trifft sich das Team und bespricht, wie sich Unterricht und Freizeit sinnvoll verzahnen lassen. Bezahlte Kooperationszeit - eigentlich eine Selbstverständlichkeit im Ganztag, findet Heinz-Günter Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung. O-Ton 26 (Heinz-Günter Holtappels) Es zwingt dazu, im Team auch enger zu kooperieren und zusammen zu arbeiten. Das heißt, eine Ganztagsschule kann auch nicht nur eine Ganztagsschule für Schülerinnen und Schüler sein, sie ist eigentlich auch eine Ganztagsschule für Lehrkräfte. Autorin Und doch zeigen die Ergebnisse der StEG-Studie, sagt Holtappels, dass die Kooperation zwischen den Lehrkräften und dem sonstigen pädagogischen Personal streckenweise mangelhaft ist - besonders an den offenen Ganztagsschulen. Wann sollen die Absprachen auch stattfinden, wenn die Lehrer mittags nach Hause gehen und die Sozialpädagogen erst nachmittags kommen? Ein weiteres Problem der offenen Ganztagsschulen ist, dass ein freiwilliges Nachmittagsangebot nur von einem Teil der Schüler tatsächlich auch genutzt wird. O-Ton 27 (Heinz-Günter Holtappels) So stellen wir beispielsweise eine Erhöhung fest bei der Förderung, aber trotzdem nehmen immer noch nur ein Drittel der Schülerinnen und Schüler an der Förderung teil. Das ist eigentlich erstaunlich angesichts der Lernprobleme, die wir aufgrund von PISA und IGLU in Deutschland festgestellt haben. Und das zweite ist, dass auch die Hausaufgabenbetreuung gar nicht von der Mehrheit der Schüler wahrgenommen wird. Autorin Fern bleiben also die Schüler, die etwas Besseres vorhaben. Und die Null-Bock- Kinder. Natürlich könnte man die zum Förderunterricht verpflichten, aber dann hätte man Zwei-Klassen-Kinder, meint die stellvertretende Schulleiterin Luitgard von Brunn: Die, die dableiben müssen und die, die nach Hause gehen dürfen. Das stärkt nicht gerade den Zusammenhalt. Und wenn alle den ganzen Tag zusammen in der Schule sind, meint sie, dann entwickeln sich die Kinder auch ganz anders. O-Ton 28 (Luitgard von Brunn) Wenn das so eine Selbstverständlichkeit hat, dass da alle Kinder hingehen, finde ich das gut. Ich finde das auch für die Kinder gut, weil viele Kinder heutzutage ja als Einzelkinder aufwachsen, mühsam von Müttern mit Mitte 30 in die Welt gesetzt, wo dann die ganze Familie um dieses Kind herumkreist. (lacht) Das tut den Kindern einfach nicht gut. Und wenn sie dann den ganzen Tag in der Schule sind, dann lernen sie eben auch, dass sie nicht der Prinz oder die Prinzessin sind, sondern sich mit anderen auseinandersetzen müssen. Das kommt mir viel, sage ich jetzt mal ganz flapsig, das kommt mir viel artgerechter vor. Atmo Big Band Sprecher vom Dienst Pauken und trompeten Ganztagsschule als Herausforderung Von Stefanie Müller-Frank Ton: Ralf Perz Regie: Beate Ziegs Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2009 1