COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Immer mit der Ruhe Mittenwald in Oberbayern Von Elmar Krämer Sendung: 18. Januar 2014, 11.05 Uhr Ton: Bernd Friebel Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2014 Musik 01: Grazioso aus: Quintett Nr.1 Interpret: Rampal, Jean-Pierre Komponist: Boccherini, Luigi Label: Sony Classical, LC-Nr. 06868 Sprecher Zitat Goethe (Italienische Reise): Es scheint, mein Schutzgeist sagt Amen zu meinem Kredo, und ich danke ihm, der mich an einem so schönen Tag hierher geführt hat. Ich nähre meinen stillen Aberglauben, dass es so fortgehen soll, doch müssen mir die Freunde verzeihen, wenn wieder von Luft und Wolken die Rede ist. Autor Das schreibt Johann Wolfgang von Goethe, als er am 7. September 1786 auf seiner italienischen Reise in einem oberbayrischen Bergdorf Station macht. 01 O-Ton Luitpold Wurmer: Der Goethe hat ja bei uns hier übernachtet und da hat er Sätze über Mittenwald geschrieben und da hat er geschrieben: Es dünkt mich wie ein Bilderbuch. Kennmelodie Sprecher vom Dienst Immer mit der Ruhe - Mittenwald in Oberbayern Eine Deutschlandrundfahrt von Elmar Krämer Kennmelodie 01 Atmo Pferde auf Weide, Kutsche 03 O-Ton Christian Hornsteiner: Wenn man bei uns in der Frühe aufsteht und die Sonne scheint vom Fenster rein, dann hat man schon das Bedürfnis, man muss in die Natur, weil es ist eigentlich jeder schöne Tag, den man nicht in der Natur genießt, ist verloren. 04 O-Ton Gabi Sailer: Wir haben die Natur vor der Haustür, wir haben die Ruhe vor der Haustür, wir haben die Tiere vor der Haustür, es ist eigentlich alles da, was man braucht um glücklich sein. 02 Atmo Autobahn Autor Die Natur ist schon gegenwärtig, wenn man auf der Autobahn in Richtung Mittenwald unterwegs ist. Irgendwann, ganz plötzlich, erscheinen die Berge am Horizont: Das Karwendelmassiv, das Wettersteingebirge, zu dem auch die Zugspitze gehört. Und ich fühle mich klein, als ich mich auf dem Asphalt diesen immer größer werdenden unverrückbaren Felsformationen nähere. Mittenwald, rund 150 Kilometer vom Münchener Großstadtstress entfernt, ist eingerahmt von den Bergen, liegt auf gut 900 Metern Höhe und ist damit der höchstgelegene Luftkurort Deutschlands. 10 O-Ton (Atmo) Luitpold Wurmer: Sie sind der Herr Wurmer! Jawohl - Herr Krämer. Guten Tag! Grüß Gott! Perfektes Wetter. Wie war es denn in München? Diesig. (Wurmer ruft zu Passanten): Grüß di! Tuarm foi net oanlügn! Das habe ich jetzt überhaupt nicht verstanden, was hat er gesagt? Ich soll sie nicht anlügen -Tuarm foi net oanlügn! Autor Luitpold Wurmer ist Mitte sechzig, pensionierter Kaufmann, Vollblut Mittenwalder und ein passionierter Stadtführer. Ein Bayer, wie er im Buche steht. Er hat graublaue Augen, Halbglatze, Schnurrbart, große Hände - erinnert mich an Meister Eder aus dem Kinderbuch Pumuckel. Aufgewachsen ist er im heutigen Kurviertel - damals war es dort noch ländlich und spärlich bebaut. 11 O-Ton Luitpold Wurmer: Wenn man in die Schule gegangen ist, über die ganzen Wiesen, da führte ein kleines Wegel, das man dann entlang gegangen ist. Heute ist das alles verbaut und zu, Gärten, mit Zaun drum rum. Wie es halt so ist. Früher war das alles offen. Ende der 50er in den 60er 70er Jahren ist dann der Ort gewachsen, da sind Gästehäuser und Pensionen dazu entstanden. Autor Doch auch schon zu dieser Zeit wurde darauf geachtet, den Ort typisch für die Region zu bebauen. Es scheint, als hätte man in Mittenwald schon immer ein stimmiges Konzept im Hinterkopf gehabt. Hotelhochhäuser gibt es hier nicht, keine betonierten Bausünden aus der Vergangenheit - darauf sind Mittenwalder wie Stadtführer Wurmer stolz. 13 O-Ton Luitpold Wurmer: Wir wollen ja unseren Ort nicht verschandeln, wir sehen da ja im direkten Nachbarland Tirol drüben. In Tirol können sie bauen und tun und lassen, was sie wollen. Das müssen sie sich anschauen, das ist ja zum Teil erschreckend, was da gemacht worden ist. Und wir haben halt gesagt Na, wir wollen das so erhalten, wie es immer war und unsere Gäste, die hierherkommen, die empfinden das dann auch als Schmuckkastel, die sagen, Mittenwald ist ein Schmuckkästchen. 03 Atmo Schritte Obermarkt Autor Ein bunt bemaltes Schmuckkästchen. Viele Gebäude des Ortes, nicht zuletzt am Obermarkt, der Flaniermeile, oder besser dem Flaniermeilchen Mittenwalds, sind bunt bemalt. Nicht besprüht, keine grellen Graffitis, keine wuchtigen Werbetafeln, sondern Lüftlmalereien. 14 O-Ton Luitpold Wurmer: Lüftlmalerei ist eigentlich die Fassadenmalerei und die ist so entstanden in der Mitte des 18 Jahrhunderts, also sagen wir mal: 1740 herum ist unsere Pfarrkirche gebaut worden, also ´36-´48 und 1740 ist die Kirchen innen ausgemalt worden und diese Kirchenmaler haben dann auch im Ort schon verschiedene Häuser bemalt. Wahrscheinlich gutsituierte Leute, die sich das leisten konnten, haben sich das malen lassen. Und früher hat man das ja auch als Schutz angesehen. Die Leute waren gläubig, und da hat man sich seinen Schutzpatron und Namenspatron draufmalen lassen. Autor Den Ursprung dieser Tradition findet man in der italienischen Renaissance und im Barock. Durch den Handel mit dem Mittelmeerraum fand auch diese Art der Fassadenmalerei ihren Weg nach Süddeutschland und nach Mittenwald. Traditionell wurden die Bilder mit Naturfarben, zum Beispiel aus Ochsenblut und Pottasche, in Freskotechnik auf den frischen Putz gemalt. So werden Farbe und Putz eins und können lange Zeit überdauern. Erst wenn der Putz bröckelt, bröckeln mit ihm die Bilder. Die ältesten Originale in Mittenwald sind aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Lüftlmalereien waren früher auch eine zur Schaustellung des beruflichen Erfolgs reicher Kaufmannsfamilien. Heute sind sie eine liebgewonnene Tradition und touristische Attraktion. 04 ATMO außen Neu Autor Die kunstvollen Lüftlmalereien erinnern mich an alte Oblaten in Poesie-Alben: knallige Farben, Menschen in aufwendigen Trachten, überspitzt gemalt. Man sieht sie überall in Mittenwald. An einem kleinen Platz, ein beige-farbenes Gebäude, mit imposantem hölzernem Giebel. Im Erdgeschoss ein Zigarren-Geschäft, davor ein Fahrradständer und eine Plastik. Eine friedliche Stimmung. Doch auf der Fassade ein Bild: Rote Zelte sind zu sehen. In dem zentralen Zelt steht eine Frau mit entschlossenem Blick in einem eleganten wallenden Kleid. In der rechten Hand hält sie ein Schwert, mit der linken packt sie den Schopf eines sitzenden Mannes. Auf einem Beistelltischchen stehen eine Karaffe und eine leuchtende Kerze - ein merkwürdiges Candle-Light-Dinner. 15 O-Ton Luitpold Wurmer: Da haben wir jetzt eine Geschichte aus dem Alten Testament. Das ist die tapfere Judith, die da dem Holofernes den Kopf abschlägt. Und sie war eine reiche jüdische Witwe und war zu Hause auf der Stadt, die heißt Betylia, und die ist belagert worden von Holofernes und seinen Soldaten. Das war wiederum ein Hauptmann vom König Nebukadnezar - haben's bestimmt auch schon mal gehört. Und der hat also die Stadt belagert und die Stadtältesten wollten da aufgeben und dann hat die Judith gesagt, lasst mich das noch mal versuchen. Und sie ist zu ihm gegangen, hat Wein mitgenommen, hat mit ihm gezecht, er hat sich eine Liebesnacht versprochen, hat seine Soldaten weggeschickt und dann hat ihm die Judith mit seinem eigenen Schwert den Kopf abgeschlagen und die Stadt war errettet - gell. Und wir sprechen von dem Bild von der verkehrten Welt, weil eben die Frau, da die dominante, die den Hauptmann erschlägt. Kann man sagen, das ist darum die verkehrte Welt, und das sieht man auch da mit dem Käfig, der da dargestellt ist und die Katze ist im Käfig und der Vogel her außen. 03 Atmo Schritte Obermarkt Autor Für das reizüberflutete Großstadtauge wirken die Lüftlmalereien auch in ihrer manchmal biblischen Grausamkeit entspannend, und vielleicht sind sie auch für die Nerven weniger grausam als die allgegenwärtige Werbung, die einem in der Stadt ständig entgegenschreit. So etwas gibt es im Stadtkern von Mittenwald nicht. Plakatwerbung ist hier reglementiert, sagt Bürgermeister Hornsteiner: 15.1 O-Ton Bürgermeister Hornsteiner: Wir haben eine Ortsgestaltungssatzung und da sind die Spielregeln festgelegt, und wenn sie mal überschritten werden, wir sind ja alle Menschen, des is ja auch menschlich, dann führt man halt ein Gespräch und dann lässt sich das sehr schnell wieder klären. Autor Rund 7500 Einwohner hat Mittenwald und ist damit eine Kleinstadt. Aber die, die hier leben, bezeichnen ihren Ort lieber als Dorf. Auf jeden Fall scheinen sich die meisten Mittenwalder untereinander zu kennen. 03 Atmo Schritte Obermarkt Autor Ich spaziere mit dem Stadtführer durch Mittenwald. Seine drei historischen Ortsteile sind der Obermarkt, der Untermarkt und der wohl älteste Stadtteil Gries. Dort steht auf einem Platz eine hölzerne Geige - ein Denkmal für das Instrument, das Mittenwald über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht hat. Seit über 300 Jahren werden in der Kleinstadt Geigen gebaut. Mittenwald gilt als das Zentrum des deutschen Streichinstrumentenbaus und ist auch durch seine staatliche Fachschule für den Geigenbau bekannt. Tradition eben allerorten. Musik 02 "Swinging Strings" Interpret: Christoph Guiot Komponist: Raymond Guiot Label: Tele Music, LC-Nr. TMCD 1025 03 Atmo Schritte Obermarkt Autor Die kleinen Gebäude mit den hölzernen Giebeln und den anheimelnden Lüftlmalereien schmeicheln dem Auge, und ich frage mich, wie es kommt, dass man nirgends Graffitis oder Schmierereien an den Fassaden sieht - Luitpold Wurmer und Bürgermeister Hornsteiner wundert das gar nicht. 16 O-Ton Luitpold Wurmer: Erstens einmal haben wir keine so gespinnerten Jugendlichen, die so etwas machen. Gab es natürlich auch schon, aber nicht in Vielzahl, sondern halt a mal a kleine Schmiererei - aber unwesentlich. Zwischenfrage: Wie erklären Sie sich denn das, das es so etwas hier nicht gibt? Ja, weil ich doch glaube, dass unsere Kinder und Jugendlichen so ein bisschen erzogen werden, wie man es halt auch bei uns gewohnt ist, das man schon auch mal einen Respekt hat und auch einen Respekt hat vor seiner Heimat. Bürgermeister: Man stellt auch fest, dass der Begriff Heimat tief verwurzelt ist. Heimat ist bei uns. Das hat einen sehr hohen Stellenwert, Heimat, des is was. Des ist unsere Mentalität und auch die Jungen sagen, die Traditionen, des ist was, was uns auch abhebt von anderen Regionen. Autor Und vielleicht liegt es auch daran, dass die, die nichts von der Tradition halten oder sich durch die von den Bergen begrenzte Ortsgröße eingeschränkt fühlen, die Stadt verlassen. Das tun auch viele, die ihre Heimat lieben. Denn nicht jeder findet Arbeit im Fremdenverkehr, in den wenigen Handwerksbetrieben, der Gemeinde oder bei der Bundeswehr, die in Mittenwald eine Kaserne hat, Arbeit. Für junge Leute wird das oft nach der Schule zum Problem. Die, die aber bleiben, scheinen recht zufrieden zu sein mit dem Leben in Mittenwald, ihrem romantischen "Dorf" in den Bergen. 17 O-Ton Luitpold Wurmer: Nicht zu vergessen die Natur - die Natur ist eigentlich unser wertvollstes Gut! 03 Musik "Hot Sun" Interpret: Eddie Vedder Komponist: Jack Johnson Label: Universal, LC-Nr. 01846 04 Atmo Schritte Autor Stefan Adam ist der Richtige, wenn man in die Natur will - Bergführer aus Überzeugung. Schulterlange weiße Haare, einen grau/weißen Vollbart, wache Augen und einen entspannten, aber entschlossenen Blick. Ich kann ihn mir gut als Führer einer Seilschaft bei einer Wanderung durch Eis und Schnee vorstellen oder bei einer Kletterpartie am Karwendel. 05 O-Ton (Atmo Autofahrt) Stefan Adam: Ich tät sagen, wir fahren ein kleines bisschen raus, oder? Wir fahren mal Richtung Kranzberg rauf, Richtung Buckelwiesen, weil man hier doch einen schönen Überblick über alles hat. Jetzt hat es noch den Nebel da unten, das ist auch ganz typisch, auch ein Vorteil von Mittenwald, dass wir eigentlich als ganzjährig nebelfrei gelten. Da sind sie schon vorsichtiger geworden, früher haben sie geworben, ganzjährig nebelfrei, heute geht das nimmer, da wird man gleich gefasst. Aber wir sind schon nahezu nebelfrei. Wir sind ein kleines bisschen höher. EK: Und dann sieht man ja sofort die Berge, was ist das für Sie für ein Gefühl? Ist das immer noch was Besonderes? Für mich aus der Stadt ist das natürlich phänomenal. Wie ist das für Sie, wenn sie es jeden Tag sehen? Adam: Ich mein, das gehört hin. Man würde es erst merken, wenn es nicht mehr da wäre. Wobei, es hat jedes Mal ein anderes Gesicht, gell. Und wenn man raufschaut, für uns auch ganz wichtig, mit der Bergschule auch, ist schon wichtig, wie der Winter, wie der Schnee sich aufbaut und was da oben passiert. Es ist eine ganz normale Beobachtung, man schaut grundsätzlich rauf, wie schaut es oben aus. Das ist aber nicht so, dass man des macht wie ein Gast, täglich als was Besonderes, sondern es gibt halt so bestimmte Zeichen, es muss einfach so sein, und wenn etwas anders ist, dann merkt man das. Wenn's Licht anders ist, wenn die Temperaturen anders sind, dann merkt man das - sollen wir da ein kleines Stück raufgehen? EK: Klar. Adam: Es ist zwar noch ein kleines bisschen nebelig, aber das wird sich gleich auflösen. Da ist eine nette Gegend hier. EK: Wo sind wir hier? Adam: Jetzt sind wir am Sainsbach. Atmo: Aussteigen... Schritte... 05 Atmo Schritte 06 Atmo Bergbach Autor Wenige Schritte vom Auto entfernt stehen wir mitten im Wald und am Sainsbach, einem kristallklaren türkisfarbenen Bergbach, dessen Wasser man ohne Bedenken trinken kann, sagt der Bergführer. Wir folgen dem Bachlauf, hinein in eine Klamm, eine an einigen Stellen recht enge Schlucht. Bemooste Felswände, Bäume, die in unglaublichen Verrenkungen dem Himmel entgegen wachsen. Alles naturbellassen, wir sind in einem Naturschutzgebiet. Es ist ein Ort, den Stefan Adam gern besucht. 06 O-Ton Stefan Adam: Hier kommt halt alles zusammen, a bissl Berg, a bissl Wasser, viel Natur. Und Wasser beruhigt ja immer, Gehen beruhigt, das ist ganz gut zum bisschen ausspannen, bisschen runterkommen. Autor Und genau das haben viele Touristen äußerst nötig, findet der Bergführer. Zwar kommen vor allem ältere Besucher und Familien mit Kindern nach Mittenwald, aber einige haben dann doch falsche Vorstellungen vom Urlaub in dieser oberbayrischen Kleinstadt. Wer im Beruf schnell und viel leisten muss, der will das oft auch im Urlaub. Klettern, Trail-Running, Mountainbiken, Bergsteigen oder Wandern, im Winter Skilanglauf und Abfahrt, Snowboard, Schneeschuhwandern - das alles will ausprobiert werden, und im Idealfall so, wie man es aus Filmen kennt: Klettern an überhängenden Wänden, Radfahren an steilen Hängen, Skifahren auf roten Pisten und durch den Tiefschnee. Actiontourismus - wie beispielsweise in den österreichischen Wintersport -Hochburgen Ischgl und Sölden oder auch dem nur rund 15 km entfernten Seefeld - das will man in Mittenwald nicht, sagt Adam. 07 O-Ton Stefan Adam: Man sagt ja nicht, ich will das jetzt mal probieren für mich, sondern man will ja gleich auf hohem Level dabei sein. Und dass derjenige, der in dem Film da zu sehen war, dass des ein absoluter Profi ist, der seine ganze Freizeit da reinsteckt und da wirklich investiert, das bringt man nicht runter auf seine Ebene. Autor Da ist pädagogisches Fingerspitzengefühl gefragt, um einen anderen Zugang zur Natur zu erreichen. Natürlich könnte man zum Beispiel auch Stahlseile installieren, an denen man dann viele Touristen in kurzer Zeit über die Schlucht seilen könnte. Adam spannt mit seinen Gruppen aber lieber selbst ein ganz normales Kletterseil. So werde ein anderes Vertrauen zu tragenden Bäumen, dem Fels und dem Material erreicht. 08 O-Ton Stefan Adam: Und das Gleiche ist beim Klettern, da soll er mal in den Fels langen, da soll er das Gefühl kriegen, aber er soll nicht gleich im höchsten Schwierigkeitsgrad ansetzen müssen. EK: Aber wie machen Sie denn das, wenn Leute ankommen, die so etwas erwarten und die kommen zu Ihnen und die sagen, ich will das und das und das? Wie entschleunigen Sie die denn? Adam: Ach, das bieten wir mal alles an, und sie kommen ja mit dem Anspruch. Aber sie sehen dann sehr, sehr schnell, dass weniger oft viel, viel mehr ist. In letzter Zeit geht es gottseidank wieder in die Richtung, dass man sagt, man hat eine Eigenverantwortung. Und diese Eigenverantwortung, die muss wieder ein bisschen mehr da sein, nicht immer alles abgenommen werden, da muss immer einer sein, der ist dafür verantwortlich, da muss irgendwo einer sein, der macht mir das, sondern dass man mal selber wieder den Hammer in die Hand nimmt und den Nagel in die Wand schlägt. Autor Für Stefan Adam ist es ein Zeichen der Zeit, dass der Mensch sein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Instinkte unterdrückt. Dafür dann lieber Verantwortung abgibt als selbst nachzudenken und Zusammenhänge im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. 08.1 O-Ton Stefan Adam: Der Mensch verhält sich, wenn ich ihn lasse, ganz anders. Oft sind dann die Eltern bei den Kindern, du darfst, du kannst, mach des, mach des nicht. Und das geht ja so weit, dass die Kinder bei jedem Handgriff fragen, darf ich das, kann ich das? Und dieses Gefühl: Du kannst, du darfst, bist aber für dich selbst verantwortlich, das wollen wir hier vermitteln und das gelingt zunehmend. 06 Atmo Bergbach Autor Natürlich kann und will sich nicht jeder Tourist langsam an die Berge und die Natur herantasten. Oft fehlen dazu die Zeit und auch das Interesse. Doch ein Ort, der vom Tourismus lebt, muss für alle Besucher Möglichkeiten bieten. Auch Mittenwald und die Umgebung können nicht auf touristische Angebote verzichten. So wie die Leutasch-Klamm, eine spektakuläre Schlucht, die Mittenwald mit Österreich verbindet. Hier wurden mit EU-Geldern in rund 40 Metern Höhe futuristische Brücken und Stege aus Stahl am Fels angebracht. Für traditionelle Bergsteiger eine Verschandelung der Natur, für viele Touristen eine willkommene Möglichkeit, ohne alpine Erfahrung die Natur aus einer ganz anderen Perspektive zu erleben. Die Gittertreppen und Brücken führen in luftiger Höhe direkt am Fels entlang, man blickt in die Tiefe, sieht im türkisfarbenen Bergbach große Forellen schwimmen, hört das Rauschen des Wassers. Ein Teil des Weges nennt sich Geisterklamm - hier wurde eine kindgerechte Geschichte rund um die Schlucht gestrickt, die auf Comic-artig illustrierten Schautafeln an den Geländern entlang des Weges erzählt wird. Die Geschichte vom Klammgeist und einer Fee: 07 Atmo Tropfsteinhöhle Sprecherin: Einst hatte der Klammgeist eine Fee, die ihn mit dem Erzählen von abenteuerlichen Geschichten aus den Bergen und der Urwelt unterhielt. Doch eines Tages wandte sich diese Fee von ihm ab und huschte zu den Kobolden in die Mittenwalder Wiesen. Als der Klammgeist dies bemerkte, groll sein Zorn so laut, dass die Felswände der Geisterklamm erbebten und Gesteinsbrocken ins Tal sausten. Die Fee beraubte er ihrer Sprache und ließ ihr nur die Fähigkeit, die letzten an sie gerichteten Wörter zu wiederholen. Aus diesem Grund war die Fee fortan nicht mehr in der Lage, weiterhin spannende Geschichten zu erzählen. All ihre Gedanken und Fabeln wurden zu Stein und in den Felsschluchten der Berge zurückgehalten. Autor Auf dem Weg durch die Geisterklamm gibt es immer wieder Mitmachstationen: Hörrohre, die das Rauschen des Bergbachs verstärken: 06 Atmo Rauschen verstärkt Echostationen, an denen Schallreflektion erklärt wird, Fernrohre, durch die man Besonderheiten am Fels ansehen kann, ein Spiegelkabinett, in dem der Besucher an Stahlseilen befestigte Spiegel steuern kann, um die dunklen Felsspalten der Geisterklamm auszuleuchten. Ein bisschen Abenteuerspielplatz, ein bisschen Physik, und entspannt begehbare Natur! 2006 wurde die Geisterklamm eingerichtet - Bergführer Stefan Adam war nicht begeistert davon: 08.2 O-Ton Stefan Adam: Ich war erst sehr skeptisch, weil ich gesagt hab, braucht es des oder muss man das haben? Mittlerweile muss ich sagen, ist es wirklich eine gute Attraktion eigentlich. Und wenn man sieht, man sieht da unten die Fische schwimmen, Riesengeräte, schönes Wasser, und hat so die Möglichkeit, an eine Stelle hinzukommen, wo man eigentlich nichts verloren hat, und hier hat man halt die Möglichkeit, was zu beobachten und was zu sehen, wo man sonst schwer hinkäme. Und dieser Ausblick, den hat man halt sonst nicht so leicht. Wobei ich meine, dass es so attraktiv ist, dass man die Geschichte gar nicht bräuchte. Autor Seit 2006 gibt es also die Geisterklamm - lange ist das nicht: Hat Mittenwald einen Trend verschlafen und viel zu spät damit angefangen, touristisch aufzurüsten? Der Bürgermeister findet das nicht: 08.1 O-Ton Bürgermeister: Man darf das nicht flächendeckend machen, sondern ganz strukturiert an bestimmten Punkten. Genauso im Osten das Karwendel, das Hochgebirge - auch hier gibt es ja die Karwendelbahn, die allen ermöglicht, das Hochgebirge zu besuchen, aber auch hier wieder ganz punktuell. Und wenn Sie sich eine Viertelstunde von den Bahnen wegbewegen, dann sind Sie in der Natur und das ist unser Kapital. Autor Vielleicht ist es der Mittelweg, die eine Klamm auszubauen, damit andere Schluchten naturbelassen und von den Touristenströmen verschont bleiben können. Bergführer Stefan Adam kennt natürlich die Stellen am Berg und im Wald, an denen man auch in der Hochsaison unberührte Natur und Abgeschiedenheit findet. 09 O-Ton Stefan Adam: Des is halt immer des, wo man eigentlich zwei Interessen hat, das eine ist der Kommerz und das andere ist halt auch das zu bewahren, was man hat. Was nutzt mir das, wenn wir jetzt viel hier abgreifen und in 5, 10 Jahren ist das alles hier kaputt, wie man es an vielen Orten ja schon sieht jetzt. Autor Stefan Adam hat sein Hobby zum Beruf gemacht und ist zufrieden. Natürlich sind gerade für ihn Berge, Wald und Schluchten das größte Kapital Mittenwalds und die Grundlage seiner beruflichen Existenz. So wird er alles dafür geben, sie zu erhalten. Im Deutschen Alpenverein kümmert er sich um die Instandhaltung der Wege, und so auch um den Schutz der Natur. Und wenn der Bergführer aus Überzeugung Feierabend hat, dann trifft er sich mit seinen Freunden zum Musizieren - bayrische Volksmusik spielen sie aber nicht. 04 Musik "Wir sind die Grieshoppers und spielen bayrischen Bluegrass" Interpret: Grieshoppers Komponist: Grieshoppers Eigenproduktion Atmo Natur Autor Buckelwiesen: Eine in der Eiszeit entstandene geologische Besonderheit und typisch für die Gegend rund um Mittenwald. Sie sehen aus, als würden sich besonders große Riesenschildkröten dicht an dicht unter dem Gras verstecken. Etliche, soweit das Auge reicht. Darauf immer wieder kleine Holzhütten - Heidi-Romantik wie aus einem Reisekatalog. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in Bayern noch über 60.000 Hektar Buckelwiesen, heute sind es nur noch rund 1.200 Hektar. Den Großteil findet man rund um Mittenwald. Weite Teile dieser Landschaft werden, von der EU unterstützt, traditionell landwirtschaftlich genutzt, andere Bereiche wurden eingeebnet. Die Buckelwiesen zeigen eine besondere Pflanzenwelt, von Arnica bis Enzian, und stehen heute unter Naturschutz. Schwere Traktoren und Mähmaschinen sind hier fehl am Platze - da ist Handarbeit erforderlich oder Ziegen wie die von der Goas-Alm von Gabi und Adi Sailer: 19 O-Ton Adi und Gabi Sailer: Adi: Ja, wie sind wir zu den Ziegen gekommen. Der Anfang war eigentlich der, wir wollten für unsere Hausgäste, weil wir haben ja auch Ferienwohnungen, wollten wir so ein paar Streicheltiere. Wir haben früher Milchvieh gehabt und die Kühe sind halt für die Kinder einfach zu groß und da haben wir gesagt, irgendwas Kleines - ja, a paar Ziegen. Und eines Tages bin ich mal nachts um halb zwölf nach Hause gekommen, mit zwei Ziegen. Hö Hö - des war der Anfang. Gabi: Ich kann mich gut daran erinnern. Ich war bei dem Ausflug nicht dabei, ich habe zu Hause die Stellung halten müssen, mit Stall und alles, und hab auch keinen Anruf und nichts gekriegt. Und dann stand er halt nachts um halb zwölf mit zwei Ziegen vor der Tür. Oje hab i mir gedenkt, was hat er jetzt wieder vor? Und wie mein Mann schon gesagt hat, für die Hausgäste hab ich mir gedacht, ist ja vielleicht ganz nett für die Kinder. Und dass die dann aber mal mehr werden und immer mehr und dann waren wir mal bei 20 Stück glaub ich und dann haben wir gesagt, irgendwas müssen wir jetzt ändern. Entweder wir geben die Ziegen wieder weg, oder wir fangen zu melken an. Und dann sind wir auf die Ziegen gekommen mit Melken und alles und haben dann vor zwölf Jahren komplett umgestellt auf Ziegen. Autor Ziegen und Schafe haben in Mittenwald zwar Tradition, aber es gibt nur noch wenige Landwirte, die hauptberuflich auf sie setzen. Gabi und Adi Sailer haben mittlerweile 60 bis 80 Ziegen und sie haben sie liebgewonnen, die neugierigen Vierbeiner. 20 O-Ton (Atmo Stall) Adi und Gabi Sailer: Adi: Schauen wir mal, wir gehen mal in den Stall rein. (Tür.) So, und da sind die Mädels drin (Mähh) und die werden jetzt gemolken. Das ist jetzt der Stall, umgebaut, da waren früher die Kühe drinnen. Und die Gruppe wird jetzt gerade gemolken, die kommen dann hier wieder heraus. Können da selbstständig auf den Melkstand gehen, wenn die Tür aufgeht. Jetzt geht die Tür auf, kommt wieder eine rein. Gabi: Das ist eigentlich dasselbe Prinzip, wie bei den Kühen, mit der Melkmaschine, nur das das halt eine Nummer kleiner ist, sag ich mal. Eine Ziege hat nur zwei Zitzen, Kühe haben vier. Da wird jetzt die Ziege gemolken, dann kommt die durch einen Filter durch in den Tank, wird gekühlt auf 4 °C und dann kann sie verarbeitet werden zu Käse. Autor Zu viel Käse. Jede Ziege gibt im Jahr zwischen 300 und 400 Liter Milch. Die Sailers verkaufen die Milch direkt. Den meisten Teil machen sie aber zu Ziegenkäse in unterschiedlichen Formen: Schnittkäse, Weichkäse, Käse mit Kräutern, Ziegen- Mozzarella und im Sommer gibt es auch Ziegenmilch-Eis auf der Goas-Alm. Über mangelnde Nachfrage an ihren Produkten können sich die Sailers nicht beschweren. Immer mehr Menschen setzen auf Ziegenmilch, sei es aus tatsächlicher oder eingebildeter Laktoseintoleranz, aus gesundheitlichen oder geschmacklichen Gründen. Die Sailers sind mit ihrer Goas-Alm der einzige Betrieb dieser Art, der seine Milch noch selbst verarbeitet. Das geht nur mit Herzblut und Überzeugung. Jeden Tag früh aufstehen und spät ins Bett - das muss man lieben. Die Seilers machen das seit über drei Jahrzehnten. Gabi Sailer ist eigentlich im Zentrum Mittenwalds großgeworden, hat nach der Schule Verkäuferin gelernt - mit Tieren hatte sie nicht viel am Hut. 21 O-Ton Gabi Sailer: Was ich mir damals nicht erträumt hätte ist, dass ich mal auf einen Hof einheirate. Das war eigentlich überhaupt nicht meins und meine Oma hat immer gesagt, und Du heiratest mal zu einem Bauern. Ich hab immer gesagt, Oma du spinnst - und: Recht hat sie gehabt und ich würde es auch immer wieder machen. Autor Für den 57jährigen Adi war das keine Frage, er ist auf dem Hof großgeworden, hat schon als Kind im Stall geholfen und auf den Buckelwiesen gespielt -und so war für ihn völlig klar, dass seine Frau eine Bäuerin sein muss. Kennengelernt haben sie sich beim traditionellen Fasching im Ort - wo die Liebe halt so hinfällt, sagen beide lächelnd. Aber Liebe allein reicht auf einem Bauernhof nicht. 22 O-Ton Gabi Sailer: Und dann hat mein Mann einmal gesagt, jetzt machen wir einmal ein Probearbeiten und wenn des passt, dann passt des und wenn net, dann kannst du dich gleich wieder schleichen. Und dann hat das gepasst und jetzt sind wir seit 36 Jahren da oben. EK: Also mussten Sie sozusagen einen Beziehungsarbeitstest machen? Ja, genau, weil ich hatte ja mit den Tieren eigentlich überhaupt nichts am Hut. Beim Spazierengehen vielleicht mal eine Kuh gesehen, aber sonst überhaupt keine Ahnung, und da musst ich halt da her. Da sind die Schwiegereltern in Urlaub gefahren. Jetzt gehst mit in Stall und das hat gepasst. EK: Und da hat ihre Oma sich dann gefreut? Die hat sich gefreut, die hat gesagt, ich hab's doch gleich gewusst. 07 Atmo Stall Melken... Autor Die beiden fühlen sich wohl auf ihrem Hochplateau vor den Toren Mittenwalds und in ihrem Ziegenstall. 07 Atmo Stall Melken... Autor Natürlich ist die Arbeit anstrengend und hart, und einfach mal die Füße hochlegen oder übers Wochenende wegfahren geht auch nicht ohne weiteres. Mit Mitte, Ende Fünfzig macht man sich natürlich auch Gedanken über die Zukunft. Ewig können Gabi und Adi nicht im Stall arbeiten, sagen sie. Viele Höfe stellen dann den Betrieb ein - ein Problem für Mittenwald, denn die Landwirtschaft und damit die Bearbeitung der Buckelwiesen sorgen auch für das typische und bei den Touristen beliebte Erscheinungsbild. Werden die Wiesen nicht mehr bestellt, wachsen sie zu. 18 O-Ton Bürgermeister Adolf Hornsteiner: Der Ursprung von Mittenwald ist ja die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Das war die Lebensgrundlage unserer Vorfahren über Jahrhunderte. Daraus entstanden ist unsere Landschaft, wie wir sie heute erleben dürfen, wie wir sie heute nach wie vor auch mit Herzblut hegen, pflegen. Und wir verstehen Tourismus so sehr nachhaltig: Unser Kapital ist die Natur, die Kulturlandschaft. Autor Betont der Bürgermeister. Und diese Natur wird in der Form nur weiter bestehen, wenn es junge Leute gibt, die die Höfe übernehmen. Die Sailers haben drei Kinder. Eine Tochter lebt und arbeitet in Österreich, der Sohn arbeitet in einer Lkwfirma in Garmisch - den Hof übernehmen wollen die beiden schon mal nicht. Gut, dass es noch die jüngste Tochter und deren Freund gibt. 24 O-Ton Gabi Sailer: Die sind letztes Jahr auf uns zugekommen, wie es ausschaut, sie würden gern bei uns mit einsteigen, was wir davon halten? Und wir waren natürlich hellauf begeistert, weil wir haben zwar nicht direkt abgeschlossen damit, aber das hat uns sehr gefreut. Die Hoffnung stirbt zuletzt und das hat uns wirklich unwahrscheinlich gefreut, als sie gesagt haben, sie wollen das weiter machen. Und ihr Freund, der ist ein Berliner, der ist von Berlin runtergezogen zu ihr, und der will auch da mit reingehen und in den Stall und die landwirtschaftlichen Arbeiten machen - also: warum nicht? Autor Was hat die jungen Leute zu diesem Schritt bewegt? Und wie kommt ein Berliner auf die Idee, das kulturelle Angebot der Hauptstadt, mit seinen Cafés, Kneipen, Konzerten, Restaurants an jeder Ecke, Parks, Discos und nicht zuletzt den Freunden und der eigenen Familie aufzugeben, um auf eine Alm in der absoluten Abgeschiedenheit von Mittenwald zu ziehen? 25 O-Ton Regina Sailer und Freund Michael Schaarschmidt: Ick bin Michael Schaarschmidt, ich bin der Lebensgefährte von Regina und werde wohl der zukünftige Schwiegersohn werden und ick bin Berliner, jenau! Wir haben immer wieder im Fernsehen so Berichte gesehen, wie denn so Familienunternehmen geführt werden und da dachten wir uns, eigentlich wäre es zu schade, wenn wir ditt hier flöten lassen, also haben wir gesagt, wir machen ditt jetze! Regina Seiler, ich bin die Tochter des Hofes. Ich hab gelernt Bäckerei-Fachverkäuferin und jetzt bin ich hier oben. Ich weiß nicht, ich kenne es ja nicht anders, von klein auf. Ich bin halt damit aufgewachsen. Jetzt sind es halt die Ziegen und nicht mehr die Kühe. Mei, es ist handlicher und macht doch ein bissel Spaß. Autor Kennengelernt haben sich die beiden über den Schwager von Regina Sailer. Der spielte mit dem Berliner ein Online-Computerspiel und irgendwann dachte er, sein Mitspieler könnte doch genau der Richtige für Regina sein. So wurde ein Verkupplungsbesuch organisiert und - der klappte, bis hin zum Umzug von Berlin nach Mittenwald. 25.1 O-Ton Michael Schaarschmidt/ Regina Sailer: Ich hatte ja keine Ahnung, wie die Eltern hier eigentlich leben, und wurde auch dementsprechend überrascht, als ich das erste Mal hier unten war. Da war das dann so: Da wollte sie mir eigentlich nur die Gegend zeigen und dann sagt sie: "Ja, und hier ist der Hof von meinen Eltern!" Das ist dann natürlich erst mal ein Schock für jemanden, der damit nicht gerechnet hat. EK: Und was hast du dann gedacht? Nichts, freundlich sein. Das ist ja für einen Berliner recht schwer. EK: Was hast du denn gedacht, als hier der Berliner ankam und du gedacht hast, der könnte es sein, aber wie kriege ich den denn dazu, hierher zu kommen? Sailer: Also ich muss sagen, wir haben ja ein halbes Jahr vorher über Internet über Skype immer gequatscht und da haben wir uns schon mehr kennengelernt und wo er dann da war, hab ich gedacht, der könnte es doch sein. Ja, und so ist es geworden - es hat halt einfach gefunkt dann. Autor Noch ist die Arbeit als Bauer für den Berliner eine Nebentätigkeit, hauptberuflich arbeitet er in einer Kompressorenfirma in Garmisch - aber in ein paar Jahren will er ganz auf die Goas-Alm wechseln, auch wenn er sich bewusst ist, dass beim Leben auf einem Bauernhof nicht immer, wie im Fernsehen, die Sonne scheint. 26 O-Ton Michael Schaarschmidt: Party hätt ich schon gerne, die Einsamkeit stört mich manchmal auch ein bisschen, aber es ist einfach: Man lebt gesünder, viel gesünder. Also das merke ich jetzt schon. Seitdem ich jetzt hier wohne, bin ich so gut wie gar nicht mehr so oft krank geworden, sonst im Jahr so 2, 3 bis 4 Mal in Berlin und hier vielleicht noch 1x im Jahr. Und schauen Sie raus, sie haben es ja heute selber gesehen, da will man nirgends wo anders hin. Autor Seine Familie in Berlin besucht Schaarschmidt natürlich regelmäßig und seinen Bruder sieht er noch viel regelmäßiger. 07 Atmo Stall Melken... Autor Im Stall treffe ich auch Schaarschmidts Bruder Alexander - er kam vor zwei Jahren zu Besuch, wollte sich angucken, wie sein Bruder jetzt lebt, und war begeistert. Nach einigem Überlegen hat er die Sailers gefragt, ob er nicht auch bleiben kann - er konnte, hat sich die Kellerwohnung auf der Alm ausgebaut und ist geblieben. Jetzt jobbt er als Bierkutscher und natürlich im Stall. 27 O-Ton Schaarschmidt: Ich hatte auf Berlin keine Lust mehr. Die Stadt war mir einfach mal zu laut, zu dreckig, ständig krank. Und hier gibt es halt Berge und Ziegen. Ich bin jetzt seit zwei Jahren hier und nicht einmal richtig krank gewesen. EK: Was hast du in Berlin gemacht? Äh, einen Bürojob gehabt, bei dem Energiekonzern dort. Hab da im Kundenservice gearbeitet. Und das ging mir dann irgendwann tierisch auf den Keks. Immer nur rumsitzen und bin dann deswegen hierhergekommen. 05 Musik "Stadtkind" Interpret: Ohrbooten Komponist: Pavlidis, Jechlitschka, Noodt, Lingner Label: JKP, LC-Nr. 03055 08 Atmo Musik Platzel Autor In meiner Unterkunft arbeitet Wolfgang Holstein, kurze dunkle Haare, stylischer Vollbart, zwei Piercings in der Unterlippe, Tätowierungen an den Armen. Was in der Stadt kein Hingucker mehr ist, fällt in dem sehr traditionellen Mittenwald auf - ist aber irgendwie erfrischend. Holstein ist Koch in dem gutbürgerlichen Gasthof. Er kommt aus Leipzig. 28 O-Ton kurz Wolfgang Holstein: Also ich bin halt erst mal mit dem Zug hierhergefahren - alleine, und das war schon mal gigantisch, die ganzen Berge zu sehen und die Buckelwiesen, was ja auch was Besonderes ist, und da hab ich mir schon gedacht, mei, ist schon schön hier. Und da war ich schon auch sehr nervös, zum ersten Mal alleine hier. EK: Und da warst du dann sechzehn? Ja, da war ich 16 noch! EK: Und wie ging es dann weiter, wie kam es, dass du dann hiergeblieben bist? Ich hab halt da meine Lehre gemacht, die ging halt drei Jahre, dann hab ich in Mittenwald in einem Lokal gearbeitet, dann kam der Bund mit der Musterung. Ich war in Mittenwald stationiert für zwei Jahre, und dann bin ich da geblieben. Ich wollte vorher eigentlich noch nach Leipzig zurück, hab dann aber meine Freundin kennengelernt und bin doch da geblieben. Also ich bin jetzt 25, bin neun Jahre da. Man ist schon angekommen, aber man wird als Außenstehender niemals so diese Beziehung haben zu den Leuten, wie jetzt ein Mittenwalder direkt, was auch verständlich irgendwo ist. Also nett sind sie alle, keine Frage, aber man kommt halt nie so an, wie in dem Moment, wo man hier geboren ist. 09 Atmo Kutsche Obermarkt Autor Beim Spaziergang durch den Obermarkt, einen der drei alten Stadtteile Mittenwalds, fährt zufällig eine Kutsche in der Fußgängerzone vor. Eine Touristengruppe steigt vor einem Haus mit einer besonders schönen Lüftlmalerei aus. Die Besucher blicken fasziniert auf die kunstvoll verzierte Fassade, mir fallen die jungen Leute auf dem Kutschbock auf: 29 O-Ton Anni Schreiber, Christian Hornsteiner: Ich bin die Anni Schreiber, komme ursprünglich aus Huglfing, wohne jetzt aber in Mittenwald. Ich bin 21 Jahre alt und arbeite im Büro. Ich bin der Christian Hornsteiner, bin immer schon in Mittenwald. Es gibt in Mittenwald sehr viele Hornsteiner und verwand mit dem Bürgermeister bin ich nicht. Ich bin Metzger, bin 26 Jahre alt - wie sagt man so schön: I bin der Christschian und doa bin i dahoam. Autor Die beiden sind Mitglieder der Oberländer Reitergruppe, die aus zwölf jungen Männern und Frauen besteht - und natürlich den Pferden. Riesigen Kaltblütern, auf deren Rücken reiten die Männer bei Dorffesten und internationalen Reitertreffen in traditionellen Trachten im Stehen. Und bei so einer Veranstaltung haben sich auch Anni und Christian kennengelernt. Die gemeinsame Leidenschaft hat sie zu einem eingeschweißten Team werden lassen. Die Tradition ihrer Heimat, die Tiere und die Natur sind den beiden wichtiger als die Trends der Stadt. 30 O-Ton Anni Schreiber, Christian Hornsteiner: Also man achtet die Natur da noch anders, als die da in der Stadt. (Pferd wiehert...) Es hält halt auch fit, weil man immer draußen ist, frische Luft man ist gesund oder gesünder. Wenn ich da anschaue, wie da manche Stadtkinder herumlaufen, die wissen nur noch, wie ein Computer funktioniert, des weiß jetzt ich nicht so gut. Ich weiß wie ein Computer funktioniert, aber lieber weiß ich, wie die Natur funktioniert. (Atmo Pferd) EK: Was macht denn das für Dich aus, wenn man mit einer Kutsche durch die Gegend fährt, sieht man da die Welt anders? Äh, gemütlicher, alles gemütlicher. Und wenn jemand sagt, das ist langweilig, dann ist das seine Sache, für mich ist das nicht langweilig, weil ein Pferd ist ein Lebewesen, und es kann jederzeit was passieren. Man sieht, was ein Lebewesen arbeiten kann. Man hat oft lustige Leute als Gäste dabei, dann wird es noch lustiger. Es ist jede Fahrt mit die Pferdl was Neues und auf was Neues haben wir immer Lust. Es pressiert ja mit die Pferdl nicht und so hat man viel Zeit zum Grüßen und zum Schauen, wer da wo kommt und so wird es einem nie langweilig. 06 Musik "Bauersbua" Interpret: LaBrassBanda Komponist: Stefan Dettl, Manuel Winbeck, Manuel da Coll Label: SMA/RCA, LC-Nr. 30393 Autor Es scheint, als hätte jeder in Mittenwald neben der Arbeit noch ein sehr wichtiges Hobby, das immer irgendwie mit der bayrischen Heimat zu tun hat. Sei es der Bergsport oder das Wandern, sei es die Beobachtung der Natur oder die Arbeit mit Tieren, die Musik oder die Traditionen, die in Mittenwald gehegt und gepflegt werden - wie das sogenannte Maschkerer-Gehen zum Beispiel Und wenn Luitpold Wurmer, der Stadtführer, davon erzählt, dann zeigt sich der Schalk in seinem Nacken und ein leichtes Lächeln in seinen Augen. 31 O-Ton Luitpold Wurmer: Mittenwald ist so eine Hochburg der Fasenacht sagen wir, wir sagen nicht Fasching oder Karneval schon pfei gar net, sondern bei uns sagt man Fasnacht, und da wird einfach noch der Winter ausgetrieben mit Getöse und lautem Geschell und mit historischen Gewändern, die man dazu anhat. Natürlich auch Fantasie-Gewänder, aber da haben wir dann unsere speziellen Holz-Masken dazu, und da gibt es eine eigene Verständigung. Das sogenannte Raunzen, da wird also nicht normal gesprochen, sondern da raunzt man sich dann gegenseitig, und unter dieser Holzmaske drinnen hat das dann einen ganz eigenartigen Klang. Und das sind wunderschöne Bräuche gerade in der Fasnacht und da gibt es historische Figuren. Und der schönste Tag ist immer der unsinnige Donnerstag. Das ist der Donnerstag vor dem Faschingssonntag. Und da sind bei uns hunderte Maschkerer unterwegs und da kommen ja mittlerweile auch tausende Zuschauer, die sich das Schauspiel anschauen, gell. EK: Und was würde man da beispielsweise Raunzen? Ja, die Maschkerer haben da eine eigene Sprache, die man dann anwendet. EK: Die Sie können? Die ich kann! EK: Machen Sie doch mal ein Beispiel! BEISPIEL (nicht transkribierbar...) EK: Das klang sehr interessant, aber ich habe kein Wort verstanden, was hieß das? Das war eine Unterhaltung unter Maschkerern: "Grüß Dich, wie geht es dir? Was machst Du?" EK: Aber wo haben Sie das gelernt? Was weiß i, das ist einem in die Wiege gelegt, wenn man hier aufwächst. Wir sind ja als Buben auch schon Maschkerer gegangen und als Kinder hat man da schon die Alten nachgemacht und das dauert nicht lang, dann kann man des. Autor Das mit dem "die Alten nachmachen" ging auch der elfjährigen Marlena und dem zwölfjährigen Thomas so. Die beiden sind Mitglieder im Gebirgstrachtenverein - Thomas erscheint zum Interview auch zünftig in schwarzen Lederschuhen, grauen Kniestrümpfen, einer grün bestickten Lederhose, einer dunkelgrünen Strickjacke, einem Hemd und natürlich seinem Hut mit Edelweiß. Seine Hobbies sind BMX- fahren, aber eben auch Fingerhakeln und Platteln: 10 Atmo Platteln 32 O-Ton Thomas und Marlena: Das ist schon ganz schön anstrengend, wie man die Teile dann auch immer ein paar Mal wiederholt. Marlena: Und das schaut auch anstrengend aus, weil man das immer wieder wiederholt. Autor In ihrer Klasse sind die beiden mit ihrem Hobby keineswegs traditionsbewusste Exoten. Viele ihrer Klassenkameraden spielen traditionelle bayrische Hausmusik und haben eine ähnliche Verbindung zur Heimat. 32.2 O-Ton Marlena: Des gehört a zu Mittawöid dazua! Und ich lebe ja in Bayern und da macht man halt so was und dann gehört man auch dazu. Thomas: Da wachsen die Kinder schon so auf, dass die Eltern traditionsverbunden sind, und da mögen halt die meisten Kinder das auch gleich machen. Drum glaub ich schon, dass das da anders ist als irgendwo in der Stadt. Autor "Deutlich anders als irgendwo in der Stadt" - das ist Mittenwald, diese oberbayrische Kleinstadt kurz vor der österreichischen Grenze, eingerahmt vom Karwendelmassiv und dem Wettersteingebirge. Ein Ort, in dem es scheint, als wäre Tradition nicht ausbremsend, sondern der Bestandteil einer festverwurzelten Identität. Alles in allem sind die Mittenwalder offenbar sehr zufrieden mit ihrem Leben - und wenn mal nicht, dann hat der Bürgermeister des Ortes einen Tipp: 33 O-Ton+Musik Bürgermeister Hornsteiner: Es soll ja auch so sein, dass man sich dienstlich oder privat mal ein bisschen ärgert, das gehört ja zum Leben dazu. Und wenn man dann ein bisschen Zither spielt, dann schaut die Welt gleich wieder ganz anders aus. Und das Stück heißt: "Ein Morgen im Karwendel" MUSIK (ggf. erst bei 1.20min) Musik unter Autor und Collage - verweben mit Schlussmelodie und Absage... Schlusscollage: Wurmer: Was würde ich mir wünschen? Dass der Ort so bleibt, wie er ist. Dass man das bewahrt, was wir haben: Die Heimat, unsere Tradition, unsere Sprache vor allen Dingen, unser Gewand unsere Feste, dass das erhalten bleibt. Thomas: Sonst tät ich mir wünschen, dass da nicht so viele Stadtleute herziehen und meinen, sie müssten da Hochhäuser oder was her bauen, ja das halt Mittenwald so bleibt, wie es jetzt ist. Adi Sailer: Es heißt ja, wer sich nicht verändert, der wird verändert. Aber diese Veränderungen, die sollen wachsen, sie sollen zum Ort passen. Stefan Adam: Ich würde mir wünsche, dass einfach insgesamt alles ein bisschen offener ist, vom Gedankengut her, sowohl von den Einheimischen, als auch von den Gästen. Michael Scharschmitt: Ansonsten: Watt soll man sich wünschen, wenn man wunschlos glücklich eigentlich hier ist? Kennmelodie Sprecher vom Dienst Immer mit der Ruhe Mittenwald in Oberbayern Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Elmar Krämer Ton: Bernd Friebel Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2015 Manuskript und das Audio zur Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de 1