DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Abschied von Julia - Protokoll eines frühen Todes Von Burkhard Reinartz Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 14. Januar 2011, 20.10 - 21.00 Uhr Abschied von Julia - Protokoll eines frühen Todes ____________________________________ Atmo 1: Stimmen, Schritte, Geräusche im Kölner Dom tr 2 MD A O-Ton/Szene 1 tr 6 evtl tr 4 Autor Hallo Ulla! Ulla Ja, Hallo Burkhard! Autor Ich hab dich sofort erkannt. Wie war's bei dir? Ulla Ja klar, sofort Autor Was ich verrückt finde: die Stimme am Telefon, die Stimme, verändert sich ja überhaupt nicht Ulla Ja, Ja. atmo aus Autor: Eigentlich treffen wir uns immer in Kirchen. Heute Mittag im Kölner Dom, vor fast vierzig Jahren in der St. Johannes-Kirche in Bentheim. Wir waren beide in der Zwölf, das Abitur nahte und der Kirchgang am Sonntagmorgen nervte. Wir, die widerständigen Langhaarigen, standen in einem kleinen Trakt kurz vor dem Hinterausgang. Nah genug, um die elterlichen Kontrollfragen nach dem Inhalt der Predigt beantworten zu können, weit genug weg vom Geschehen, um leise zu lästern und nach den Mädels der Gemeinde zu schielen. Ich schielte nach Ulla. 1970 im Emsland. Meine erste große Liebe. Wir gingen nach Bochum, studierten und versuchten erwachsen zu werden. Sechs Jahre später kam es zur Trennung. Wir verloren uns aus den Augen. Ulla zog mit Bernd aufs Land, ins Zonengrenzgebiet. Und sie bekam Kinder. Rafael und Julia. Silvester 2004 ein Anruf von Angela, einer alten Freundin aus Bochumer Wohngemeinschaftszeiten: "Hast du schon von Ulla gehört?" O-Ton/Szene 2 Kölner Dom tr 9 Autor Was hältst du davon, wenn wir ne Kerze anzünden Ulla Mach ich eigentlich immer, in jeder Stadt, wo ich bin Autor: Seltsam, einen nahen Menschen nach Jahrzehnten wiederzusehen. O-Ton/Szene 3 tr 11 Schritte, Stimmen und: Ulla. Sind viele, die hier Kerzen anzünden. Autor Ja Ulla Jetzt der kleine Obulus. Atmo 2 tr 11 und/oder tr 13 Die Münze tanzt klingelnd in den Opferstock Musik 1: Fred Frith: Opening gezerrter Klang einer akustischen Gitarrenseite - darüber Hausprecher: Abschied von Julia - Protokoll eines frühen Todes ein Feature von Burkhard Reinartz Musik aus O-Ton 4 Bernd H. MD I 2 Am 26. Dezember am zweiten Weihnachtstag, haben wir morgens nen Anruf bekommen, von ner Freundin von Julia, dass Julia ohnmächtig hier in diesem Raum aufgefunden worden ist und dass sie nicht in der Lage wären, sie aufzuwecken. Ich hab mich damals ins Auto gesetzt. Nicht wirklich beunruhigt, weil Julia schon mal öfter in Ohnmacht gefallen ist, Ich bin dann die zwei Kilometer ins Nachbardorf gefahren. Eher mit der Gewissheit, dass wenn ich ins Haus komme, sie mich anlacht und sagt: "Warum regt ihr euch eigentlich so auf?" Autor: Ein Wintertag im nordhessischen Bergland. Schnee liegt auf den Feldern und türmt sich am Rand der Dorfstraße. Zu ungemütlich für einen Spaziergang. Wir steigen in Bernds Kombi. Fünf Minuten später betreten wir am Rand des Nachbardorfes das Haus von Ullas Freundin. Es ist kalt und sehr still im Haus. Niemand da. Noch nie waren Bernd und Ulla gemeinsam hier. O-Ton 5 Bernd - Ulla 2 1.05 Bernd: zögernd mit teils gebrochener Stimme Ich bin hier reingekommen und ... sie lag reglos am Boden. Ich hab versucht, sie anzusprechen. Ich hab ihr in die Augen geschaut und hab riesige aufgerissene Pupillen gesehen und keine Reaktion feststellen können. Da war klar, dass was richtig schlimmes passiert ist. 3 Ihre Freundinnen und Freunde, die hier übernachtet haben, waren auch hier mit im Raum. Ich weiß gar nicht wer, irgendwer hat den Notarzt angerufen. Ich glaube Ulrike hat dich auch angerufen. Ulla: Ja. Und da bin ich dann auch gekommen. Ich bog um die Ecke, da war der Notarzt schon da. Und als ich hier reinkam, haben die Sanitäter sie schon rausgetragen. Ich bin hier gar nicht mehr bei ihr gewesen. O-Ton 6 Bernd /Ulla 6 Bernd: Für uns war's ein schönes Weihnachtsfest: Julia kam aus Nancy, wo sie zu der Zeit studierte. 7 Rafael war sowieso noch zuhause. Meine Mutter war da und es ist ne Tradition, dass die Kinder sich hier von auswärts treffen und am zweiten Weihnachtstag in der Disko ne große Party steigt. Und zu der Party ist sie abends aufgebrochen und hat hier übernachtet und ist morgens nicht mehr aufgewacht. Ulla: 9 Diese Nacht in der Disko hat für Julia immer ne große Bedeutung gehabt. Weil sie da alle ihre Freunde und ehemaligen Klassenkameraden wieder sieht. Sie hat es in der Zeit bis Weihnachten geschafft, alle Menschen, die ihr wichtig waren, wiederzusehen. Sie hat ihre Oma gesehen, ihre Freundinnen ,die woanders studieren. Sie war in ner unglaublich euphorischen Stimmung. Atmo 3: laptop-Klappern: kurz und aus - darüber: Autor: September 2004: e-mail aus Nancy an ihre Freundinnen Clara und Franzi: Sprecherin Julia: Hallo meine Liebsten! Wundert euch nicht über die erste mail. Ich bin ein bisschen durch den Wind und mach nur Mist.. Und außerdem - kaum zu glauben aber wahr - Ich hab Heimweh, buhuu! Ich weiß auch nicht warum. Es ist nix besonderes passiert und niemand hat mir was Böses getan - und auf einmal war es da. So ein Mist. Und deshalb teile ich euch hiermit mit,, dass ich euch verdammt vermisse und mir grad nichts tolleres vorstellen könnte als mit euch einen Topf Nudeln zu verspeisen und hinterher noch Eis mit heißen Kirschen. Naja, das hab ich nun von meinem Heute Hier und Morgen Dort-Dasein. Hoffe, morgen bin ich wieder geheilt und am besten hör ich jetzt auf mit dem Mist, sonst steiger ich mich da noch rein und breche hier im vollen Computerraum in Tränen aus und das wär doch etwas unangenehm. Ich habe euch lieb. Seid umarmt. Julia. O-Ton 7: Bernd H. 13 Ich hab mir immer vorstellen müssen, wie das gewesen wäre: wir hätten nen Anruf aus Nancy gekriegt, sie wäre da zusammengebrochen. Das ist fast unvorstellbar, dann hätte ich viele Dingen nicht erlebt und könnte auch an den Platz nicht zurück kommen, wie das jetzt möglich ist. Hier gewesen zu sein, bevor der ganze Notarztzirkus losging, das ist für mich ziemlich kostbar. In dieser ganzen Abschiedsgeschichte, sind das für mich unglaublich wichtige Minuten - schluchzt kurz Es war einfach nur Ruhe. Als dann der Notarzt und der Sanitäter kamen, war erstmal nur Hektik. Der Notarzt war ein Kotzbrocken. der war einfach ein fürchterlicher Mensch. Das macht einen ganz großen Unterscheid, ob jemand, der diese ganz schmerzlichen Sachen sagen muss, wie der das sagt. 14 Jedenfalls ist Julia auf Umwegen nach Kassel ins Krankenhaus gekommen. Atmo 4 -Verlassen des Zimmers, Schritte, Türe schlagen in O-8 O-Ton 8 Ulla H. entspannte Stimmung 18 Ulla: Die Kinder sind immer hergefahren in dieses Haus, bevor sie in die Disko gefahren sind zum "Vorglühen", nennt man das hier. Weil der Alkohol in der Disko so teuer ist, trifft man sich hier schon mal vorher, um ein Bierchen oder irgendwas zu sich zu nehmen - lacht- um in entsprechender Stimmung zu sein. Autor: cool Ulla: Vorher musste man das immer im Auto machen, vor der Disko .Aber da war's nen bisschen kalt und da waren sie froh, dass sie hier die Küche hatten. Autor: Ja, super - Lachen - verwebt sich mit Atmo 5: Wohnzimmer: Kaffee eingießen tr 19 MD II O-Ton 9 Bernd H.: 34 Vier Stunden nach dem Anruf, dass Julia ohnmächtig war, fanden wir uns dann wieder in Kassel im Krankenhaus. Sie auf der Intensivstation. Und wir mit unserem Sohn Rafael draußen vor der Tür. Alles war durcheinander und stand auf dem Kopf. Ulla und ich wurde nach einer Zeit informiert über den Stand der Dinge. Und in dem Gespräch ist mir endgültig klar geworden, dass wir uns von Julia würden verabschieden müssen. Autor: Aneurysma. Eine Ader ist in Julias Kopf geplatzt und hat ihr Gehirn mit Blut überschwemmt. O-Ton 10 Ulla: 35 Ich hab sehr viel länger gebraucht als der Bernd, überhaupt zu begreifen, was da passiert. 36 Unser Leben hängt an einem seidenen Faden und es ist völlig egal wie jung oder wie alt wir sind. Es kann eigentlich jederzeit jeden von uns erwischen. Und das war mir überhaupt nicht klar. 37 Insofern bin ich im Nachhinein froh, dass Julia reanimiert wurde und für mich war diese Zeit im Krankenhaus, diese zwei Tage unglaublich wichtig, um von ihr Abschied nehmen zu können, um überhaupt zu begreifen, dass sie stirbt. Ich hab immer Hoffnung gehabt. Eigentlich bis zum Schluss. Im Nachhinein find ich's noch immer wahnsinnig, wie ich nach zweieinhalb Tagen in der Lage gewesen bin, den Ärzten zu sagen: so, sie können jetzt die Maschinen abstellen. Dass ich bestimmen kann: ok. ich lasse jetzt meine Tochter sterben. O-Ton 11: Bernd H. 40 Man hat uns nen kleinen Raum gegeben, in dem wir gegessen haben, uns gegenseitig getröstet haben. Wir haben zusammengesessen am Bett und ne ganze Nacht lang Geschichten erzählt mit Freundinnen von Julia. Wir haben auch gelacht. Wir haben ihre Hände gehalten, haben Geschichten aufgerufen und haben uns auch köstlich amüsiert über irgendwelche Situationen, die wir uns da erzählten Ich möchte keine Minute missen schluchzt leise- von den Stunden, die wir da verbracht haben. O-Ton 12 Ulla H. 42 Julia hat da ja kaum noch gelebt, aber trotzdem sind diese zwei Tage ihres Lebens für mich mit die intensivste Zeit, die wir mit ihr hatten. O-Ton 13 Bernd H. 43 Ich weiß dass es nicht nur für mich und für Ulla wichtig war. Ich seh das auch für Rafael, ihren Bruder, der sich von seiner Schwester hat verabschieden können. O-Ton 14 Rafael MD A 41 Während dieser zwei Tage waren wir Tag und Nacht an ihrem Bett und haben ihre Hände gehalten und haben alle eigentlich bis zu letzt nicht die Hoffnung aufgeben können, dass sie vielleicht doch wieder die Augen öffnet. Dann sind auch ihre beiden besten Freundinnen gekommen und andere Freunde und wir haben das gemeinsam erlebt und gehofft und gebangt und dann auch irgendwann die Hoffnung begraben. O-Ton 15 Bernd H. 44 Am Morgen des zweiten Tages im Krankenhaus haben uns die Ärzte mitgeteilt, dass bei Julia keine Hirnströme mehr messbar waren. Und damit stand innerhalb der nächsten Stunden die Frage im Raum, wann die lebenserhaltenden Maschinen abgeschaltet werden. Und diese Entscheidung hat man uns überlassen. 45 Und ... es hört sich komisch an, aber ich hätte mir nie vorstellen können nicht nur bei der Geburt meiner Tochter, sondern auch bei ihrem Tod dabei zu sein. Aber ich war's. Und es war auch gut. Mit Ulla zusammen an ihrem Bett zu stehen und ihre letzten Atemzüge zu erleben, das war atmet tief durch - das war wichtig. Atmo 6 6 48 drei Sekunden O-Ton/Musik/Szene 16 48 Ulla legt eine CD ein. Autor: Hatte sie ein spezielles Lieblingsstück oder war das die ganze CD? Ulla: Wie heißt denn das? You love, you learn? You learn? ne Autor: Leg mal drauf. CD Schublade fährt auf. Diplay-Geräusche - start aus der Anlage mit "Hi" Ulla: Das is es. Bernd: Doch kurz Musik Bernd summt mit 49 Dann wieder Ulla: Schöner Text. Ich les es euch vor. Hab ich richtig Lust zu liest unter Musik: "You live, you learn, you love, you learn, you cry, you learn, you , you learn, you bleed, you learn, you scream, you learn" Kurz vor Ende Schnitt auf Original CD. Dann Musik synchron weiter und aus Ulla: Schöner Text Autor: Schönes Ende Ulla: Schöne Stimme. O-Ton 17 Ulla: 51 Alanis Morisette. Das ist so die Musik ihrer Jugend ihrer Schulzeit. Ich weiß, die sind teilweise 1995 erschienen. Da muss sie ja dreizehn gewesen sein. In der Zeit als sie noch zur Schule ging, hat sie hat das unheimlich oft gehört auf ihrem Zimmer und mitgesungen. lacht Autor: Freitag Abend 20.00 Uhr. Draußen ist es dunkel und kalt Der gusseiserne Kaminofen muss die Heizung unterstützen. Wir sitzen im Wohnzimmer. Vor uns: einige CDs, Fotoalben und Tagebuchnotizen von Julia. O-Ton 18 Ulla unter Rascheln 60 Wir haben nach Julias Tod in ihrer Tasche Sachen gefunden, Texte gefunden, die irgendwie was mit dem Tod zu tun hatten. Wir haben ihre Freundinnen gefragt: Ist das bei euch in der letzten Zeit Thema gewesen, der Tod. Und die haben übereinstimmend gesagt, nee, dass die Lebensperspektive, was macht man jetzt, die Themen waren. Sodass wir uns schon sehr gewundert haben. Wir haben hier einen Zettel gefunden. Da ist mit nem Goldstift geschrieben: "Der Tod ist eine Bruchstelle, kein Ende". 61 Und wir wissen auch nicht, wer das geschrieben hat, das ist nicht Julias Handschrift. Irgendjemand hat ihr diesen Zettel geschenkt. 63 Wir haben dann auch in ihrem aktuellen Kalender noch ein anderes Gedicht über den Tod gefunden und hatten schon das Gefühl, dass sie sich kurz vorher damit beschäftigt hat. PapierKnistern 64 10 S Julia hat im Mai Abitur gemacht. Es war schon seit Jahren klar, dass sie nach dem Abitur nach Australien gehen will. für ein Jahr. Dass sie das Work- und Travelvisum beantragt und da arbeiten und rumreisen will. Sie ist dann am 13. September geflogen, was ne sehr schwierige Situation war, aber vor allem für uns. Wir hatten natürlich schon Angst in der Situation. Autor: Tagebuch 12. September 2001: Sprecherin Julia: Morgen um 14 Uhr geht es los nach Frankfurt zum Flughafen. Um 20.45 unser Flug SQ 325 nach Singapur - wenn alles klappt. Die Welt liegt im Chaos - Attentate in den USA bringen alles durcheinander und auch mein Inneres liegt in absolutem Chaos. Alles wird anders und ich muss - und will! - alles Gewohnte verlassen und mich von meinen allerliebsten Menschen verabschieden. Wie konnte ich - als ich das hier gefunden habe, schon ahnen, dass es wirklich so wird? Es zerreißt mich, der Abschied. Und die Euphorie reißt an mir - genauso wie die Wehmut. Die Euphorie wird bald siegen und in ein paar Monaten wird der Kampf dieser beiden Mächte wahrscheinlich wieder stattfinden - bloß auf der anderen Seite der Erde! Ich freue mich, so traurig sein zu können, denn um so traurig sein zu können, muss man verdammt glücklich sein und was verdammt Gutes verlassen. Und das kann mir niemand nehmen und es wird immer was davon übrig bleiben! O-Ton 19 Ulla H. 65 Dann war sie neun Monate in Australien und hat dann im Herbst 2002 angefangen zu studieren. Erziehungswissenschaften in Marburg und hat sich da gleich ne Wohngemeinschaft gesucht und ist gleich in dem Studentenleben aufgegangen, weil das für sie ganz toll war, ne anderes Bandbreite von Menschen kennen zu lernen. Wir wohnen ja hier schon sehr ländlich. Man trifft hier immer die gleichen Leute. Und für sie war das ganz spannend, mal ganz andere Gleichaltrige zu treffen. Atmo 7 Handyvideo: Party in Marburg kurz frei darüber: O-Ton 20 Rafael H: 33 8 S Sie hatte sehr viel Freunde und ganz viele unterschiedliche Freundeskreise. 31 Ich glaube, ihr haben Menschen gut gefallen, die mit genau viel Lebensfreude wie sie ans Leben herangehen und das Beste versuchen aus ihrem Leben zu machen und Situationen mit Humor zu nehmen und nicht so griesgrämig herumzulaufen, mit viel Lachen und Lächeln ans Leben heranzugehen. atmo aus Autor: Raffael ist vier Jahre jünger als seine Schwester. Als sie starb, war er neunzehn. O-Ton 21 Rafael H: 29 Wenn ich an sie denke, fallen mir zuerst ihre Haare ein. Sie hatte etwas länger als schulterlang kastanienbraune, ganz lockige Haare. Sie ist immer von allen Menschen um sie herum bewundert worden. Wir haben als Kinder immer gesagt, dass sie eine Löwenmähne hatte. Und ich habe es nicht oft gemacht, aber ich habe es sehr gemocht, meine Hände durch ihre Haare fahren zu lassen und ihre Locken zu spüren. Und als sie gestorben ist, haben wir auch drei oder vier von diesen wunderschönen Locken abgeschnitten und sie als Erinnerung aufbewahrt. O-Ton 22 Ulla H. unter Umblättergeräuschen Fotoalbum u.a. 68 Das war Julias Lieblingsstelle in Marburg. Durch Marburg fließt ja die Lahn. Und da sind son paar Staustufen und da rauscht das Wasser mit Getöse herunter. Und hier ist son Grüngürtel, wo sie immer gesagt hat: das ist in Marburg mein Garten. Und ich fahre öfter nach Marburg. Ich brauch das ab und zu mal, durch Julias Stadt zu gehen. Julia war dort sehr glücklich. schluchzt kurz. Und das ist ein Ort, der mir auch sehr wichtig geworden ist. Blättern Autor: E-mail aus Nancy an ihre besten Freundinnen: Sprecherin Julia: Ich hab das vergangene Wochenende in Lille verbracht, um dort die Clara zu besuchen und außerdem das große Abschiedsfest der Kulturhauptstadt Lille 2004 mit zu erleben. Das war ein Fest, sag ich Euch! Samstag Abend war die Stadt vollgestopft mit Menschen und es gab einen großen Umzug mit Musik und verrückten Trommlern und Stelzengirafffen und Lichteffekten, Zum Schluss noch ein großes Feuerwerk. Wir haben mit den anderen tausend Menschen durchgetanzt und die Minusgrade ignoriert. Jetzt muss ich mich erstmal vom Wochenende erholen. Mach es mir in meinem Schuhkarton gemütlich und versuche, den Unistoff nachzuholen. Ich hoffe, es geht euch allen gut. Bis bald, Julia. O-Ton/Atmo 23: Treppenknarren auf dem Weg ins Obergeschoss Autor: Das ist Julias Zimmer? Ulla: Ja, ihr Kinderzimmer sozusagen. Türe öffnen - Stühle-Rücken O-Ton 24 Bernd H. 76 Wir haben uns im Krankenhaus entschieden, Julia nach Hause zu holen und in ihrem Zimmer aufzubahren. Bernd schaltet Julias Ghettoblaster ein: ruhige Klaviermusik. Das ist die Musik, die wir oft gehört haben, wenn wir bei ihr gesessen haben. Wir haben das Zimmer mit Blumen geschmückt und die Zeit, die wir hier noch mit Julia verbringen konnten, die war schön und wichtig. Wir haben hier alleine gesessen, zu zweit, mit meiner Mutter, mit Rafael. Freunde, Freundinnen sind gekommen und haben Julia noch mal besucht und Abschied nehmen können. Und wir haben nochmal so richtig drei Tage mit ihr zusammen gelebt. Musik stoppt O-Ton 25 Ulla H. 78 Ja für mich war das auch ganz wichtig, jeden Morgen, jeden Tag zu ihr gehen zu können und ich denke ihre Seele war auch noch hier. Und dann war es für mich eine Aufgabe mit vor allem den jungen Menschen und sie mit ihrer toten Freundin zu konfrontieren. Und es war so schön wie sich all die jungen Menschen dem gestellt haben. Und das ist was, was mich heute noch sehr mit denen verbindet. O-Ton 26 Bernd H. 80 Die meisten Menschen haben keine Scheu gehabt, sie nochmal zu berühren, ihre Hand zu nehmen, ihr übers Gesicht zu streichen. Tränen sind geflossen, aber die Leute kamen runter, waren traurig, haben aber trotzdem lachen können. Und diese Starre, was oft vom Tod ausgeht, diese Panikstarre und dieses Einfrieren von Gefühlen, das war einfach nicht nötig. Und das verbinde ich ich auch mit dem Nachhaus holen und in diesem Raum nochmal den Abschied gehabt zu haben. Das wäre an keiner andern Stelle der Welt möglich gewesen. Es musste hier sein. O-Ton 27 Ulla H. 83 Dann standen wir ja auch vor der Aufgabe, Julia anzukleiden - normalerweise macht das ja das Beerdigungsinstitut, aber wir haben uns überlegt, dass wir das selber machen wollen und dann hab ich mit meinen Freundinnen Sachen ausgesucht, die wir ihr anziehen wollten. Und das war für mich selber schön O-Ton 28 Bernd und Ulla H. 84 Bernd: Den letzten wichtigen Abschiedsschritt haben wir auch selber gemacht. Wir sind am Morgen des 31., wo Julias Beerdigung sein sollte, in Julias Zimmer gegangen und haben den Sarg zu gemacht. 85 Ulla: Dieses Gefühl, wir waren die letzten, die sie tatsächlich gesehen haben. Weil, wenn der Deckel drauf ist, ist der Körper nicht mehr sichtbar. Und mir war das wichtig, dass das nicht ein wildfremder Mensch ist, der das sieht. Da war dann dieses Herabsenken ins Grab, was dann auf dem Friedhof passiert, überhaupt nicht mehr schlimm. Atmo 8 . Stille, Atmen, Hunde bellen tr 85? O-Ton 29 Bernd H / Ulla H. 22 Bernd Im Jahr 2008 haben wir ein Seminar des Verbandes verwaister Eltern in Hamburg besucht. 23 24 Und haben da mit Trauerbegleitern und verschiedenen Eltern ein ganzes Wochenende verbracht. Da haben wir gemerkt, wie wichtig es ist, die Geschichten von anderen Kindern und Eltern ins uns aufzunehmen. Und unsere Geschichte mit anderen teilen zu können. Ulla: 24 45 S Ich fand es sehr tröstlich, mich nicht nur mit meinem eigenen toten Kind zu verbinden, sondern auch mit diesen anderen gestorbenen Kindern. 27 Ich erinnere mich noch sehr gut an das Abschlussritual am Sonntag Mittag, wo wir dann im Kreis um die Fotos und Kerzen der Kinder herumgegangen sind und uns dann dabei vorgestellt haben, ja - dass unsere Kinder jetzt im Jenseits sind. 28 Ich kann das jetzt nur Jenseits nennen, weil das Wort Himmel kann ich nicht benutzen. Das ist aus meiner Kindheit negativ besetzt. Seit Julias Tod glaube ich, dass es eine Existenz nach dem Tod gibt. Ich hab keine Ahnung, wie die aussieht, aber ich hab sie einfach gespürt. Das fing an am Tag der Beerdigung als die Beerdigung vorbei war und alle den Friedhof wieder verlassen hatten. Ich hatte den Eindruck, sie ist über uns. Im Abstand von zwanzig Metern über uns. Ich kann auch heute noch sagen, in welche Richtung sie gegangen ist. Als Kind hat man sich das als Engel mit Flügeln vorgestellt, weggeflattert. Aber dieses Gefühl, wo sie hingegangen ist, in welche Richtung, das hab ich noch heute. Und in diese Richtung spreche ich auch heute mir. Ja ...da ist sie. O-Ton 30 Bernd H. 29 Für mich ist sie einfach da, spürbar, präsent, an ganz unterschiedlichen Orten und anders als ich mir das jemals vorgestellt habe. Es ist son bisschen, wo man durch eine Membrane hindurch tritt und plötzlich in ner anderen Welt ist. O-Ton 31 Raffael H. 55 40 S. Es ist so, (gedreht) dass ich oft mir ihr spreche. Das sind oft einfach so Gespräche wie wir sie wahrscheinlich führen würden, wenn wir uns wiedersehen würden. Ich erzähl ihr, was ich gemacht hab, was in meinen Leben passiert. Ich will einfach mit ihr teilen, wie mein Leben weitergeht. O-Ton 32 Ulla H. /Bernd H. /Autor Plauderei beim Essen unter Geschirr-und Abendessen-Geräuschen 57 Autor: Also wie war das hier? Zwanzig Häuser, neunzig Einwohner oder wie rechnet ihr hier? Bernd: Ich zähle mal durch.- zählt. "MIt zwanzig kommen wir genau hin. Ulla. Na siehste, das war auch meine Schätzung. Mit den Kindern und Großeltern. 57 1.10 Bernd: Sechsundachtzig Einwohner sind's. Rafael, der hat an seinem Studienort in Schweden seinen Kumpels erzählt, dass er aus einem kleinen Dorf kommt, in dem er jeden kennt. Das haben sie ihm nicht abgenommen. Dann haben sie Meckelsdorf gegooglet. Und dann musste er sagen, wer in jedem Haus wohnt. Autor: Und die Geschichte, dass hier in der Gegend die Kirchentüren einfach zu genagelt werden und auf Kompostierung gehofft wird? Bernd: Also die stimmt wirklich Gelächter atmo aus O- Ton 33 Bernd H. 3 30 Klar findet man sich auch in Situationen wieder, wo man nicht glauben kann, dass einem so eine Ungerechtigkeit widerfährt. 4 Für mich gab es immer auch Zorn, den ich auch gespürt habe. 5 Man ist nicht nur geschockt, man ist ist nicht nur traurig, man ist in so einer Situation auch wütend und man ist zurecht wütend. Manchmal auch nur Müdigkeit und ein "Lass mich doch mit allem in Ruhe". Und in jeder Phase sich aufgehoben fühlen bei Menschen, die das verstehen und diesen Weg mitgehen. Die einfach nur da sind und nicht erwarten, dass ich mich in ner bestimmten Weise traurig verhalte. 20 Dieses Zitat von John Lennon, dass das Leben das ist, was passiert, wenn man gerade dabei ist, Pläne für was ganz anderes zu machen: Das drückt aus, dass Leben einfach kommt und spätestens beim Tod wird man mit der Tatsache konfrontiert, dass viele Dinge nicht beeinflussbar sind, dass sie Schicksal sind. Und ein Schicksal zu haben heißt auch, zu leben, damit man sich mit meinem Schicksal versöhnen kann. Für mich ist es auch wichtig, versöhnlich mit dem Tod unserer Tochter umzugehen und nicht nur rückwärts gewandt zu leben nach dem Motto "Das hätte nicht passieren dürfen". O-Ton 34 Ulla H. 49 Ich kann mich erinnern, dass ich diesen Zorn auch wirklich gespürt habe in den ersten Wochen. 47 Wenn ein Kind stirbt, ist man erst mal bei Gott - oder beim Schutzengel. Warum hat der Schutzengel nicht aufgepasst? Wie konnte das passieren? Und mit dem Schutzengel steh ich noch immer auf Kriegsfuß, dem hab ich noch immer nicht verziehen. O-Ton/Atmo/Musik 35 tr 54 MD I Ulla legt CD ein start Musik Autor: Das kenn ich doch. Counting Crows: "Mr. Jones! Ulla: Ja. Das ist ein Lied, das haben sie in der Disko immer gehört mit ihren Freundinnen. Un daraufhin, weil es das Lieblingslied von Franzi und ihr war, hat Franzi das auf der Beerdigung für sie gesungen. Gitarre gespielt und dann für sie gesungen. weiter Musik, Schnitt auf Original CD und aus O-Ton 36 Bernd H. II 9 Mein Erleben nach Julias Tod war ein ganz anders als das, was ich nach dem Tod meines Bruders empfunden habe, wo ich im Nachhinein sagen würde, da ist der ganze Schmerz eingekapselt worden. 10 Mein Bruder ist mit meinem Vater in Urlaub gefahren. Er ist bei einem Bergausflug gestürzt, auf den Kopf gefallen, hat auch im Koma gelegen mehrere Tage im Krankenhaus. Im Grunde ist er für mich als Kiste gekommen und versenkt worden. 9 20 S Es ging alles fürchterlich schnell. Ich hab von meinem Bruder nicht wirklich Abschied genommen. Ich hab den auch als toten Menschen nicht erlebt und hab auch viel zu wenig erlebt, dass ich mit meinen Eltern darüber hätte sprechen können. Das ist einfach wie'n weißer Fleck auf der Landkarte meiner Gefühle geblieben. 11 Mein Bruder war damals sechzehn Jahre und ich war in demselben Alter wie mein Sohn Raffael, als Julia gestorben ist. Und ich bin sicher, dass unsere andere Art damit umzugehen, meinem Sohn genutzt hat, mir genutzt hat, uns genutzt hat. O- Ton 37 Ulla H. 28 30 S. Wir achten viel mehr aufeinander als wir das vorher gemacht haben, wie es uns geht. Wir sind viel stärker im Gespräch und im Dialog über irgendwelche Sachen. Es gibt kaum noch Streit oder Auseinandersetzungen über irgendwelche Alltagsdinge, weil uns das alles so lächerlich erscheint. Und das ist nicht nur in dem Jahr nach dem Tod von Julia gewesen. Das hat sich eigentlich durchgezogen. Wir wissen wie kostbar jeder Moment und jeder Tag ist, den wir zusammen haben, den wir zwei zusammen haben in der Beziehung, aber auch mit unserem Sohn Rafael. Autor: Samstag Morgen ist Rafael mit seiner Freundin Annika vorbei gekommen. Die beiden sind für zwei Wochen nach Deutschland geflogen um die Eltern und Freunde zu besuchen. Es hat Zeit gebraucht, bis der 25jährige sich vorstellen konnte, mit mir über den Tod seiner Schwester zu reden Atmo 9 : In den Raum kommen/Kaffe eingießen O-Ton/Atmo/Szene 38 71 Annika: Wir wohnen eigentlich auf einer Insel. Wir haben auch viel Natur. Und wenn man in die Stadt fährt ,sieht man das Meer Autor: Also richtig Kontrastprogramm zu dem Ort, wo du aufgewachsen bist. Raffael: Das stimmt. 73. 5 S Ich könnte mir sowieso nicht vorstellen, in meinem Heimatort zu leben. Völlig unabhängig von Julias Tod. Dass es jetzt so weit weg geworden ist, das ist einfach nur der Liebe wegen. Autor echot: "Nur der Liebe wegen". Rafael: "Nur" in Anführungsstrichen natürlich alle freuen sich und lachen O-Ton 39 Raffael/Annika 67 16 S Was für mich ne wichtige Erfahrung war, zu lernen darüber zu sprechen, um zu lernen, mit diesem Schmerz umzugehen, sich guten Freunden anzuvertrauen, aber sich auch andere Hilfe zu holen. 68 Ich hab eine Therapie gemacht. Die war sehr, sehr kurz eigentlich. Wo jemand von außen, jemand unbeteiligtes, gekommen ist und Fragen gestellt hat, die kein Freund sich zu stellen getraut hätte. Und da hab ich im Nachhinein gemerkt, dass mir das unglaublich geholfen hat, das auch in Sprache zu fassen. Ich hab mich eigentlich sehr unwohl gefühlt, wenn Menschen, die mir sehr nahe standen, von Julias Tod nichts wussten. 69 Oder wenn ich gefragt wurde, ob ich Geschwister hab, und eigentlich aus Angst gesagt habe, ich habe keine Geschwister. Aus Angst, dass die Sprache darauf kommt. Nach solchen Situationen hab ich mich immer sehr schlecht gefühlt, weil ich verleugne eigentlich meine Schwester, weil sie nicht mehr existiert. Aber sie ist noch immer so präsent. 51 Annika: Ich find es schön, dass Raffael das alles mir mir teilt, dass mein Bild von Julia sehr lebendig ist. O-Ton 40 Raffael: check MD: track Die Frage, ob nach dem Tod etwas auf den Menschen wartet, beschäftigt, glaub ich jeden, der eine geliebte Person verloren hat. Kann man sich vielleicht irgendwann wiedersehen? Das ist ne Sache, die man sich stark erhofft. Dieser Gedanke, dass da vielleicht irgendwas ist, hilft einem auch ein bisschen über den Schmerz hinweg. Gleichzeitig ist es natürlich etwas, was sehr unwahrscheinlich ist, womit man nicht rechen kann. Dann muss man eben damit leben, dass dieser Moment des Wiedersehens wahrscheinlich nie kommen wird. 45 Die Warum-Frage. Auf die Warum-Frage gibt's, glaub ich, einfach keine Antwort. Es hat ungefähr so dreiviertel bis ein Jahr gedauert, bis ich gemerkt hab, dass es keinen Sinn macht, sich diese Frage zu stellen. Weil man endlos nach einer Antwort suchen würde. Und dass man, so schwer es auch ist, irgendwann aufgeben muss, Dinge zu verstehen, die man nicht verstehen kann und die auch nicht erklärbar sind. 46 Wenn jemand so jung stirbt, jemand mit so viel Lebensfreude einfach aus dem Leben gerissen wird, das kann nicht für etwas gut sein, da kann es keine passende Antwort drauf geben. Aber das ist ein langer Prozess gewesen und ich denke auch für meine Eltern. 49 Was gleich geblieben ist, ist eigentlich der Schmerz. Der kommt nicht mehr so oft, aber wenn er kommt, dann ist er so stark wie am ersten Tag. Und da denk ich, dass das immer so bleiben wird, Stimme bricht leicht dass dieser Schmerz immer so stechend bleibt, wie er war und wie er ist, ja Atmo 10: Kaffe-und Tassengeklapper- kurz tr 70 Anfang O-Ton 41 Autor 60 Als ich Ulla im Kölner Dom getroffen habe: mein Impuls war sofort: Komm, wollen wir ne Kerze anzünden? Haben wir auch gemacht und jetzt ist grad hier die Kerze ausgegangen. Schweigen Ich find noch immer, so abgegriffen es ist: Dieses Bild, du zündest ne Kerze an und das ist Leben. Ne Kerze erlöscht. Und Leben erlöscht, Rafael: Hmm das bleibt ein passendes Bild. O-Ton 42 Ulla H. 30 Die meisten Menschen haben ne diffuse Angst vor dem Tod. Der Tod ist weit weg, den plant man noch nicht in sein Leben ein. Man beschäftigt sich nur intellektuell damit. Und das ist jetzt natürlich ganz anders. Das kann ich wirklich sagen, zögert , dass ich die Angst vorm Tod verloren hab. 31 Mir ist es so gegangen wie vielen Müttern auch: Man stirbt ein Stück mit. Man hat sein Kind sein ganzes Leben lang begleitet. Und als sie gestorben war; ich hatte sehr stark Bedürfnis ihr nachzufolgen und sie nicht alleine zu lassen. atmet stark aus 34 Dieser Impuls, Julia nachzufolgen, der hat nen paar Tage gedauert und ich weiß, dass Bernd und Raffael, die haben sich wahnsinnig Sorgen um mich gemacht. Die haben immer nach mir geguckt und betont, wie sehr sie mich brauchen. Bernd hat mich immer daran erinnert, dass ich für Raffael da sein muss, ja und hat mich ermutigt, dass Julia das auch alleine schafft, dass sie auch andere Reisen geschafft hat, dass sie mich nicht wirklich baucht. 37 Ich glaub, wenn unsere Beziehung in der schwierigen Phase gewesen wäre -und es gab natürlich Zeiten, lacht wo es schwierig war, dann wär die Beziehung daran zerbrochen, da bin ziemlich sicher. 38 25 S. Wir hatten zwei tolle Jahre hinter uns und ich kann mich erinnern wie ich in Korsika zum Bernd gesagt hab: Mensch, was geht's uns gut. Wir sind finanziell gut abgesichert, wir haben Spaß in unserem Beruf. Ich glaube, dadurch waren wir von Anfang an in der Lage zusammenzustehen. Ich hab sehr viel mehr geweint, Bernd hat sich für mein Gefühl mehr in seine Arbeit gestürzt, während ich ganz viel Aufarbeitungsarbeit gemacht habe: die Fotos sortiert, alles was an Julia erinnerte. 42 Ich bin ganz oft weinend im Auto gesessen, bin weinend zur Schule gefahren, hab's Weinen abgestellt, sobald ich die Kinder gesehen habe. Und sobald ich im Auto saß, Richtung Friedhof und Julias verlassenes Zimmer, hab ich wieder geweint. Aber diese paar Stunden in der Schule haben mir wahnsinnig gut getan. Ich konnte mit den Kindern über meine Gefühle und was passiert ist, so gut reden. O-Ton-Atmo-szene 43 tr 52 II Ulla spielt Joy Denelany an. Ulla: Ja, das ist ne CD von Joy Denelany, die Julia sich von Rafael zu Weihnachten gewünscht hat. Das war eigentlich die Musik, die sie am Tag vor ihrem Tod gehört hat. Und die haben wir ihr, als sie oben in ihrem Zimmer aufgebahrt war, natürlich weiter vorgespielt. Kurz weiter Musik: afrikanischer Sprechgesang- verzahnt sich mit O-Ton/Atmo 44: Gang durch Schnee zur Dorfkirche tr 54 Autor: Das sind andere Schneehöhen als in Köln! Bernd: Da ist schon viel von weggeschmolzen. Wir haben sone feste Schneedecke gehabt mit allem Drum und Dran. Das war sehr winterlich weiter Gehgeräusche plus Bachrauschen: O-Ton 45 Bernd unter Gehen im Schnee und anderem Sound 55 5 S. Das ist hier üblich, dass Nachbarn und Freunde Sargträger stellen. Und in dem Fall war es so, dass die Nachbarn und Freunde gekommen sind, sie abgeholt haben und wir sie dann auf so nem Wagen, den es hier gibt, diesen Weg nochmal durch das Dorf geschoben haben zur Kirche. Und ein großes Bild von Julia war dort auch da, so dass sie auch bildlich präsent sein konnte. 56 Es war so ne leise vertraute Atmosphäre. Gehgeräuschwechsel. Bernd schließt Tür auf. lautes Knarren / Innenatmo Dorfkirche O-Ton 46 Ulla H. MD II 59 Hier in dieser Kirche hat die Trauerfeier stattgefunden. Ich geh ja selten in die Kirche, aber weil die Kinder aus dem Dorf hier ein Krippenspiel machen und weil Julia und ihr Bruder, als die Kinder klein waren, haben die auch mitgespielt, Und deshalb ist das auch für die großen erwachsenen Kinder ein Muss, hier in die Kirche zu gehen. Und deshalb haben wir Heilig Abend auch in der Kirche gesessen und sie saß vor mir in der Bank. Ich hab die ganze Zeit während des Gottesdienstes fasziniert auf ihre Haare geguckt. Da hatte sie ihre Haare offen und sie hatte so wunderschöne Locken. Und das seh ich immer, wenn ich Heilig Abend in der Kirche sitze so vor mir. Das letzte Heilig Abend mit Julia. Sie war gerade hier angekommen und wir hätten nicht im Traum daran gedacht, dass sie zwei Tage später tot ist weiter Atmo O-Ton 47 Bernd Ulla H. 59 2.25 Bernd: Vom ersten Moment an hab ich mich wohl gefühlt in der Kirche. Es war warm, ich hab in vertraute Gesichter geblickt 60 Und es war sone Atmosphäre von - ja nicht gebanntem Schweigen und verhaltener Trauer, sondern jeder war so präsent. Und als der Felix dann dieses Märchen vom Bunten Vogel vorgelesen hat, da weiß ich noch, da haben wir alle hier in dieser Kirche gesessen und haben bei der Trauerfeier gelacht. Das war für mich ein glücklicher Moment. 61 Bevor die Trauerfeier in der Kirche losging, bin ich mit Ulla vor die Kirche gegangen, um zu gucken, ob von den Verwandten noch irgendwelche vor der Kirche standen, denn die Sitzplätze in der kleinen Kirche waren schon voll. Und wir sind durch die Tür getreten und da kamen gute Freunde auf uns zu und wir haben sie umarmt und sie haben uns umarmt und dann standen wir plötzlich da und von allen Seiten kamen Leute auf uns zu und fielen uns in die Arme. Leute, die ich noch nie angefasst habe, wo ich nie auf die Idee gekommen wäre. Und das war so innig. 62 Ulla: Irgendwann schwappte das um Ich hatte das Gefühl, wir sind jetzt diejenigen, die die andern Menschen hier, die Trauergäste, in den Arm nehmen um ihnen Kraft zu geben. Wir hatten uns ja schon seit ein paar Tagen damit beschäftigt und wenn man auf sone Art von Trauerfeier kommt als Besucher, dann steht man irgendwie unter Schock. Und das hab ich irgendwie gespürt. Und ich hatte eher das Gefühl: Nicht die geben uns was, sondern wir geben eher denen Halt. Atmosprung nach draußen Vogelgezwitscher- leise Autogeräusche O-Ton 48 Bernd U. Ulla H. 64 Bernd: Wir gehen jetzt den Weg des Trauerzugs und son Trauerzug ist ja meist ne bedrückende Angelegenheit. Aber ich kann mich gut erinnern, hinter dem Sarg hergegangen zu sein. Und ungefähr an der Stelle, wo wir jetzt stehen, kamen von hinten die drei Mädchen, Kinder von unseren Freunden, die ich auch jetzt noch immer mit zur Schule nehme, einfach nach vorne gehüpft und sind so vor uns her getanzt. So wie auf kleinen Wolken um den Sarg herum Ulla: immer um den Sarg herum, ja. Bernd: Und die haben den Sarg angefasst und irgendwas haben sie auch geplappert - nicht im Sinn von Unsinn, sondern da war sone Fröhlichkeit und auch hinter mir hatte ich das Gefühl, es ist nicht dieses eisige Schweigen. Atmo 11: Gehen durch tiefen Schnee zum Friedhof tr 66 darüber Autor: Wir überqueren die kleine Umgehungsstraße, die den Verkehr an Meckelsdorf vorbeiführt und nähern uns dem Friedhof. atmo kurz hoch Kurz nach vier. Bald wird die Sonne hinter dem Horizont verschwinden. Wir betreten den Friedhof und gehen auf Julias Grab zu. Merkwürdiges Gefühl: Drei Tage habe ich zugehört, wie Bernd, Ulla und Raffael über Julia gesprochen haben, habe mich gefragt, was für ein Mensch sie war. Jetzt steh ich an ihrem Grab. Dort unten liegt sie - oder wie es heißt: ihre "sterblichen Überreste." Atmo 12 Friedhof 67 kurz Stille 67 18 S O-Ton 49 Autor/Bernd Autor: Schöner Grabstein, find ich. Ist das Schiefer oder was ist das? Bernd: Ein Stein aus den Alpen, den Namen hab ich vergessen. Wir haben was gesucht, was den Charakter von ner Kletterwand hat, weil Julia auch geklettert hat und so behandelter Stein wär für uns nicht in Frage gekommen. Den haben wir gesehen und sofort gewusst: das ist es. Wir haben ihren Schriftzug als Vornamen auf den Stein meißeln lassen. atmo kurz hoch O-Ton 50 Ulla 72 Ulla: Das Schöne an Julias Grab ist, dass es irgendwie nen bisschen lebendig ist. Und das hab ich bei vielen Kindergräbern gesehen. die sind nicht so starr wie Erwachsenengräber. Da wird immer mal wieder was hingebracht von anderen Kindern oder der Familie. Und hier ist das so, dass Julias Patenkind Simone nen kleinen Weihnachtsbaum aufstellt, den sie schmückt oder zu Ostern macht sie einen Frühlingsstrauß mit bemalten Ostereiern. Und wenn wir in Urlaub waren, bringen wir ihr einen Stein mit, von Orten, wo sie selber früher gewesen ist oder (geholt) aus Schweden, wo Rafael wohnt. Die Steine, die hier liegen, haben alle ne Bedeutung. Autor: Ich mach jetzt aus. 72 30 S kurz weiter Atmo 67 Stille / dann gleichmäßiger Verkehrssound und aus O-Ton 51 Bernd/Ulla H. II 74 Bernd: Von unserm Garten aus kann ich zum Friedhof rübersehen und sehe auch das Licht auf Julias Grab. Das hilft mir, mit ihr in Kontakt zu bleiben. 75 Ulla: Neben Julias Grab ist da so ein Doppelgrab mit zwei sehr großen Grabplatten und im Sommer, wenn's schön warm ist, sitz ich ganz oft da auf diesen warmen Steinen. Und uns ist eigentlich klar, dass das unser Grab werden soll. Das ist schon irgendwie verrückt, dass man jetzt schon da sitzt an der Stelle, wo man später beerdigt sein will. Eigentlich ganz beruhigend: es ist in der Nähe von Julia, es ist an einem Platz, den ich mir selber ausgesucht hab. Ja, und so wird es sein. Atmo 13: Zugatmo aussen Autor: Sonntag Abend. Heimreise. Bernd und Ulla fahren mich zum Bahnhof nach Bebra. Sie begleiten mich auf den Bahnsteig. Der Zug hält. Wir umarmen uns. Die beiden winken. atmo 14 Sprung auf Zugatmo innen - Ich schaue durchs Abteilfenster ins Dunkel. Höre die Stimmen der Beiden. Bilder aus den letzten drei Tagen. ... Bernd und Ulla haben mir ein Foto von Julia mitgegeben, einen Ausdruck mit einigen ihrer e-mails und einen Zettel mit Zeilen von Hazrat Inyat Khan: Die Sonne sinkt, der Mond schwindet, der Frühling vergeht, das Jahr geht zu Ende. Ich frage das Leben: „Sag mir, wie lange willst du noch währen?“ „Ich?“ antwortet das Leben, „Ich werde ewig leben!“ Musik 2: Counting Crows: Mr. Jones 14 Sek frei und aus Haussprecher : Abschied von Julia - Protokoll eines frühen Todes Feature von Burkhard Reinartz Es sprachen: Sigrid Burkholder und der Autor Ton und Technik: Ernst Hartmann und Beate Braun Regie: Burkhard Reinartz Redaktion: Sabine Küchler Produktion: Deutschlandfunk 2011 ________________________________________ 1