COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 21.8.2007, 19.30 Uhr "Out of London" Autoren in der englischen Provinz Von Paul Stänner Sprecher Autor Sprecherin (Rebecca Stott Übersetzung und Zitate) 1. Sprecher (Abdulrazak Gurnah Übersetzung und Zitate) 2. Sprecher (Nicholas Shakespeare Übersetzung und Zitate) <<>> Regie Musik Autor Der Zug nach Cambridge rollt durch sattgrünes Weideland. Düstere Bäume umstehen kleine, geheimnisvoll erscheinende Teiche. Brennnesseln säumen die Ränder der Wiesen, Kaninchen hoppeln durch Unkraut und Disteln. Die Landwirtschaft scheint viele Flächen aufgegeben zu haben, aber alles ist sehr grün und entspannend für das Auge. Die Metropole London liegt 30 Zugminuten in der Gegenrichtung, aber hier sie ist weit weg, ihr Lärm, die verschmutzte Luft und das Chaos vieler Menschen. Regie Straßenszene mit Musik Autor Cambridge, die Altstadt. Das Pub, das dem Wissenschaftler Sir Isaac Newton gewidmet ist, ist aus gelbem Klinker. Auf dem typischen Aushängeschild über dem Bürgersteig ist sein Porträt dargestellt mit einer langen Perücke, die tief über die Schultern fällt. Auf dem Scheitel der Perücke liegt ein grüner Apfel mit zwei Blättern. Was hatte Isaac Newton mit Äpfeln zu schaffen? Ein wenig weiter liegt das Café Rouge, dort hat die Pub-Kultur ein Ende, es beginnt das moderne Europa. Der Kellner spricht Englisch mit französischem Akzent und bringt Rebecca Stott und mir je einen Café au lait. Regie Atmo Cafe Sprecherin (Stott Übersetzung) Cambridge ist eine sehr alte Universitätsstadt, ziemlich klein, was ich an ihr liebe; sie ist klein und eng bebaut. Sie liegt am Fluss Cam, wir haben flaches Land rundum, Sumpfland, und hierher kam im 12. Jahrhundert eine Gruppe von Leuten und gründete eine kleine, mönchische Universität. Und sie wuchs und wuchs, und die Könige versorgten die Colleges mit einem regelmäßigen Einkommen. Autor Rebecca Stott ist Professorin an der Anglia Ruskin University, also keinem der alten, reichen Colleges wie Trinity oder Kings College aber immerhin - die Adresse lautet: Cambridge. Die Stadt spielt eine wesentliche Rolle in ihrem ersten Roman, in dem es um den Naturwissenschaftler Isaac Newton geht, um mysteriöse Todesfälle vor fast 300 Jahren, um ganz aktuelle Forschungen für waffentaugliche Chemie und um unwahrscheinliche Gestalten, die zwischen den Jahrhunderten wandern. Sprecherin (Zitat) ?Er ist da. Dort drüben lehnt er, an dem Baum. Nur, Mr. F. ist wohlweislich weggeblieben. Nein, Sie dürfen nicht erschrecken.? Sie lachte und ich sah ihren goldenen Backenzahn blinken. Ich sah nichts und niemanden zwischen den Bäumen, auf die sie deutete. Autor Das Letzte, was Lydia auf einer Beerdigung sehen möchte, ist jemand, den man nicht sehen kann. Für Lydia Brooke, die Heldin in Rebecca Stotts Roman mit dem alttestamentlichen Titel ?Und Blut soll dich verfolgen?, ist das der Anfang einer geheimnisvollen Geschichte. Nicht verwunderlich, denn in Cambridge werden für Touristen sogenannte ghostwalks, Geisterpfade, angeboten, Gänge zur Stadterkundung auf den Spuren von Gespenstern. Ghostwalk heißt Rebecca Stotts Roman im englischen Original. Mittlerweile ist der Titel in zwölf weitere Sprachen übersetzt worden. Sprecherin (Stott Übersetzung) Es gibt ghostwalks in Cambridge, und es gibt Geistergeschichten in Cambridge wie in jeder anderen alten englischen Stadt. Die meisten dieser ghostwalks sind nur auf Sensationen aus. Das hat ja einen gewissen Kick, aber für mich war ganz Cambridge immer wie ein Gespensterschloss. Mit Labyrinthen, Falltüren und verwinkelten Wegen. Autor Rebecca Stott ist mittelgroß, mit gelockten, braunen Haaren. Sie ist mit dem Fahrrad gekommen, in Cambridge lohnt es nicht, sich mit einem Auto zu belasten. Sprecherin (Stott Übersetzung) Was ich in diesem Roman wirklich herauspräparieren wollte, war die Verbindung von intensiver Rationalität, Menschen, die an wirklich komplexen Fragestellungen arbeiten, und einer Stadt voller Geheimnisse: mit Schlössern und Schlüsseln, mit verborgenen Vorgängen und Ritualen. Sprecherin (Zitat) Du hattest recht ? das Buch argumentiert sehr kämpferisch, dass Newton nicht isoliert gearbeitet hat, dass er nicht das einsame Genie war, zu dem der Mythos ihn gemacht hat. Autor Die Erzählerin des Romans ist eine Schriftstellerin, die von ihrem früheren Geliebten den Auftrag bekommt, das Buch seiner Mutter zu beenden. Diese hatte jahrelange Forschungsarbeiten über Newton und sein Netzwerk von Alchemisten betrieben, war aber vor der Beendigung ihrer Arbeit verunglückt - oder ermordet worden. Der ehemalige Liebhaber wiederum ist heute Naturwissenschaftler im Dienste internationaler Waffenhersteller. Autor So kommen in dem Roman einander nahe ? die alchemistischen Netzwerke des 17. Jahrhunderts und die modernen Naturwissenschaftler mit ihrem Netzwerk an Sponsoren und Interessenten, für die Forschung ebenfalls nur ein Weg zu Macht und Einfluss ist. Sprecherin (Stott Übersetzung) Wir sind an einem der interessantesten Plätze in Cambridge, es ist eine Kreuzung von Straße und Fluss. Sie liegt im Norden der Stadt, und wir stehen an einem Ort der jetzt Quayside heißt, das war aber der wesentliche Stadthafen für alles, was auf dem Fluss nach Cambridge kam. Autor An der Quayside, dem alten Hafen von Cambridge, wo in früheren Jahrhunderten die mit flachen Kähnen herangeschafften Waren angelandet wurden, liegen heute die punts, breite Gondeln, mit denen Touristen durch den Ort gestakt werden. Eine gesamte Jahresproduktion der japanischen optischen Industrie liegt in den Händen von Touristen, die auf der Brücke stehen und Touristen fotografieren, die in die punts steigen. Sprecherin (Stott Übersetzung) Wenn es irgendeinen Ort gibt, der von Gespenstern heimgesucht wird, dann muss das hier sein, an der alten Straße, die über den Fluss führt. Im Roman erscheint mein erster Geist hier auf der Brücke. Lydia, meine Heldin, sitzt links von uns, und sie sieht eine Gestalt auf der Mitte der Brücke, flankiert von japanischen Touristen, und plötzlich erkennt sie den Mann, und es ist, wie sie denkt, Isaac Newton, der unverwandt auf sie hinabschaut. Das ist das erste Auftreten des Geistes, der dann noch mehrmals wiederkommen wird. (Geräusche zum Abblenden, darüber:) Sprecherin (Zitat) Das weiße Haar fiel mir zuerst auf. Ein schlanker, junger Mann, etwa so alt wie die Anpreiser der Flussfahrten, aber offenbar vorzeitig gealtert, das Haar schulterlang. Sprecherin (Stott Übersetzung) Cambridge ist so ein außerordentlicher Ort ? egal woran man arbeitet, wie obskur auch immer das Thema ist, es gibt noch jemanden, der in dieser Stadt darüber arbeitet. Ich liebe das. Autor Auf dem Weg zur Cambridge University Library, Rebecca Stotts Lieblingsarbeitsplatz, klärt sich auch die Geschichte mit Newton und dem Apfel auf seinem Kopf. Angeblich habe Newton grübelnd unter einem Baum gesessen, als ihm ein Apfel auf den Kopf fiel. Dieser Vorfall habe ihm zu wesentlichen Erkenntnissen in der Frage der Himmelsmechanik verholfen ? aber vielleicht ist das Ganze auch nur eine Legende. Im Schatten der ehrfurchteinflößenden Bibliothek erklärt die Autorin, dass ihr Roman nicht allein eine Geschichte über die Vergangenheit und Gegenwart der Stadt Cambridge sei sondern mit ihrer eigenen Biographie zu tun habe. Sprecherin (Stott Übersetzung) Ich bin in einer fundamentalistischen christlichen Sekte aufgewachsen, die sehr abgeschlossen war. Wir durften bestimmte Bücher nicht lesen, es gab kein Fernsehen, kein Radio, man hat uns, so gut es ging, vom Rest der Welt abgeschottet. Wir verbrachten viel Zeit damit, über die Wiederkunft des Herrn nachzudenken, und der Grund, warum wir auf der Welt waren, war, dass wir uns rein hielten für die Wiederkehr Christi, für die Himmelfahrt. Autor Erst als Jugendliche verließ Rebecca Stott diese Sekte und kam in ein normales Leben wie andere Gleichaltrige. Noch heute steht ihr ihr erster Kinobesuch lebhaft vor Augen ? Kino, in dem nach dem Glauben der Sekte der Teufel lebte. Sprecherin (Stott Übersetzung) Ich vermute, das kam wieder in mir hoch, als ich über Newton gearbeitet habe. Als Newton nach Cambridge kam, führte er ein Notizbuch und darin notierte er verschlüsselt eine Liste seiner Sünden. Niemand weiß wirklich, warum er eine solche Liste schrieb, aber für mich scheint es offensichtlich. Wenn er an alchemistischen Experimenten arbeitete, dann war es für ihn wichtig, einen von seinen Sünden gereinigten Geist zu haben. Damit diese Experimente wirkungsvoller waren. Autor So wie die Mitglieder ihrer Sekte glaubten, sie würden sich von ihren Sünden reinigen und damit auf die Wiederkehr des Herren vorbereiten können. Alchemie des Glaubens und Alchemie der Naturwissenschaften ? es sind diese Verbindungslinien durch die Jahrhunderte, denen Stott nachgegangen ist. Regie Musik , Atmo The Goods Shed Autor Am West-Bahnhof von Canterbury liegt The Goods Shed, ein ehemaliger Schuppen zur Reparatur von Zügen, die auf zwei Gleisen einfahren konnten. Die hölzernen Tore an der Stirnseite sind heute geschlossen, aber ein riesiges Tor an der Flanke steht weit offen, um den Sommer einzulassen. Im unteren Teil ist ein Farmers Market eingerichtet, in dem Produkte aus der Region verkauft werden. Auf einer Empore im hinteren Teil befindet sich ein Café und Restaurant, dessen Küche sehr gelobt wird. 1. Sprecher (Gurnah Übersetzung) Ich weiß nicht, ob ich das in ein paar Worten sagen kann. Canterbury ist eine kleine Stadt und eine wohlhabende Stadt, aber jetzt ist sie mehr denn je ein Touristenort. Was mich berührt hat: Hier sind immer viele Menschen von überallher gekommen; die meisten waren Pilger, die Vergebung für ihre Sünden und Erlösung suchten. Ich glaube, es kommen immer noch Pilger, aber die meisten Besucher, das muss mindestens eine Million im Jahr sein, kommen her, um die Kathedrale zu sehen, die auch wirklich sehenswert ist. Autor Abdulrazak Gurnah stammt aus Afrika, und diese Herkunft bestimmt die Thematik seiner Romane. Die Handlung von ?Die Abtrünnigen? beginnt Ende des 20. Jahrhunderts. In einem Dorf wird ein Mann gefunden. 1. Sprecher (Zitat) Als Hassanali an diesem Morgen den Platz überquerte, sah er einen Schatten über dem Boden, der sich langsam in seine Richtung zu bewegen begann. Er blinzelte und schluckte vor Angst. Das war ja zu erwarten gewesen. Die Welt wimmelte von Toten, und diese graue Stunde war ihre Höhle. Autor Dieses Wesen in der Morgenstunde ist aber kein Toter, sondern ein Weißer, der, ausgeplündert und am Ende seiner Kräfte, in die Gesellschaft der Schwarzen fällt. Er wird gepflegt, bis sich die Weißen seiner annehmen. 1. Sprecher (Gurnah Übersetzung) Ich bin auf Sansibar geboren, bin dort zur Schule gegangen und bin nach England gekommen als ich ungefähr 18 war. In Sansibar hatte es drei Jahre zuvor eine gewalttätige Revolution gegeben und wir hatten eine schreckliche und grausame Regierung. Also sind wir geflohen. Man durfte das Land nicht verlassen; es war eine Flucht wie früher von Ostdeutschland nach Westdeutschland. Mein Bruder und ich - wir waren jung und dumm, deshalb konnten wir so was machen. Wir studierten hier, und als ich damit fertig war, bekam ich einen Job an der Uni, machte meinen Doktor, und seit der Zeit habe ich beides gemacht ? habe Romane geschrieben und habe als Universitätslehrer gelehrt, meist in Großbritannien, aber auch in Nigeria. Autor Die Handlung um den morgendlichen Zombie entwickelt sich in zwei Gesellschaften: der weißen Schicht der Kolonialherren und der schwarzen Schicht der Kolonialisierten. Aber Gurnah ist kein Historiker, ihn interessierte das Vergangene nur als Stoff für das Handwerk des Literaten. Autor Der weiße Kolonialist lernt in dem Haus der Einheimischen, in dem er gepflegt wird, eine Frau kennen und verliebt sich in sie ? ein eigentlich unmöglicher Vorgang. 1. Sprecher (Zitat) Wie konnte er sie wiedersehen? Würde er es wagen? Und wenn schon sonst nichts ? wenigstens sie sehen, sie anschauen dürfen, ihr Mienenspiel beobachten, ihre Augen leuchten sehen, sich an ihrem Anblick erfreuen. Autor Abdulrazak Gurnah trägt einen kurzgeschnittenen, grauen Bart um Lippen und Kinn. Er ist schlank und bewegt sich mit sparsamen, eleganten Bewegungen. Im Gespräch ist er sehr konzentriert, auch beherrscht, wenn er die Ideen seines Romans verteidigen muss; vermutlich würde er auch in der hitzigsten Diskussion nie die Beherrschung verlieren. 1. Sprecher (Gurnah Übersetzung) Romane sind nicht eindimensional. Was mich an meiner Arbeit als Schriftsteller immer interessiert hat, sind Frage wie: Was wäre gewesen, wenn ich nicht gegangen wäre? Was ist mit denen geschehen, die zurückgeblieben sind? Ich versuche, mir beide Situationen vorzustellen, meist ist es leichter für mich, mir vorzustellen, wie es ist, wenn man seine Heimat verlässt, - also eine Fragestellung ist: Wenn der eine Bruder weggeht und der andere bleibt, wer hat das Richtige getan? Autor Um die Mittagszeit ist es voll im Goods Shed, die Bedienung hat unseren Kaffee vergessen. Nach einiger Zeit taucht sie doch noch mit zwei Tassen auf, entschuldigt sich und verschwindet. Abdulrazak Gurnah kommt zum zweiten Motiv für den Roman, vielleicht dem entscheidenden: 1. Sprecher (Gurnah Übersetzung) Ich wollte etwas erfahren über die Beziehung zwischen diesem englischen Kolonialisten und einer Frau des Landes, das kolonisiert wurde. Und warum über solche Fragen wenig geschrieben wurde in der Kolonialepoche. Ich bin mir ganz sicher, dass es so etwas gab, weil es so etwas immer gibt - und das war eine weiteres Thema, das ich dramatisieren wollte. Autor Die Liebesgeschichte zwischen dem Weißen und der Einheimischen endet, wie man historisch erwarten darf: Der Weiße kehrt heim nach England, die Geliebte bleib zurück mit einer Schwangerschaft, von der der Erzeuger nichts weiß. Dann verändert Gurnah die Erzählperspektive ? es mischt sich ein Ich-Erzähler ein, ein Immigrant, der zusammen mit seinem Bruder nach England geht. Hier greift Gurnah auf seine eigenen Erfahrungen zurück, auf die Flucht zusammen mit seinem Bruder in den 1960er Jahren. Dieser Erzähler versucht mit der Hilfe seiner zahlreichen Verwandten, die Geschichte der Familie zurückzuverfolgen bis in das Jahr, in dem der weiße Mann im Morgengrauen wie ein Toter gefunden wurde. 1. Sprecher (Gurnah Übersetzung) Und natürlich wollte ich, wie ich es unausweichlich immer mache, über Sansibar schreiben. Manchen Dingen kann man nicht entkommen; das geht vielen Autoren so ? egal, wo sie anfangen. Bestimmte Dinge kommen einfach immer zurück wie ein Stück Land, das man immer wieder umgräbt. Autor So gesehen ist es für Gurnah egal, wo er schreibt, ob in London oder Canterbury oder sonst einem Ort. Seine Literatur entsteht im Kopf: aus der Erinnerung, aus der Beobachtung. Es ist keine Bewältigungsliteratur, sondern ein Gedankenspiel ? ein ?Was wäre wenn?? Auch die Frage, ob er in Sansibar hätte bleiben sollen und wie dann sein Leben verlaufen wäre, interessiert ihn eigentlich nicht als biographische Alternative, sondern als eine Figurenkonstellation, die man im Roman dramatisieren kann. Regie Atmo Markthalle Autor Abdulrazak Gurnah hat abends noch Freunde zu Besuch, also geht er eine Etage tiefer auf dem Bauernmarkt einkaufen. Die Käseverkäuferin muss erst aus ihrem Buch befreit werden, es ist der neue Harry Potter, sie liest ihn schon zum zweiten Mal. In der Zeit, in der ich Gurnah dabei zuschaue, wie er penibel den Käse prüft, erst einen, dann noch einen zweiten Käseschnitz braucht, um sich entscheiden zu können, geht mir durch den Kopf, was Gurnah gerade eben gesagt hat: 1. Sprecher (Gurnah Übersetzung) Ich bin immer wieder überrascht, wie viele Zwischenverbindungen es gibt im Leben. Es ist faszinierend, wenn ich auf jemanden treffe, der ganz und gar englisch aussieht und dann sagt: ?Mein Vater war Algerier?. Das ist wie mit Ehepaaren, die sich am Ende ähnlich sehen. Es könnte sein, wenn man irgendwo lebt, sieht man am Schluss aus wie alle anderen. Regie Musik, überblenden in Atmo Gang in The Duck und eintreten Autor Ein wenig südwestlich von Canterbury durchstreife ich die Landschaft von Kent, the garden of England, wie es heißt. Kleine Dörfer, sauber aufgeräumt, niedrige Häuser, und dann geht es weiter auf einer Landstraße, die kaum breiter ist als das Auto. Die Enge der Straßen macht es leicht, ich muss nicht darauf achten, ob ich auf der richtigen, der linken, Spur fahre. Es geht in ein sanftes Tal mit flachen Flanken, Wiesen, Kornfelder, ein paar Kühe, die sich über ein Auto wundern. Und da liegt: The Duck. Regie O-Ton kurz frei Autor Im The Duck, einem einfachen Pub, in dem außer Ruhe nicht viel los ist, hat Ian Flemming an seinem Roman ?Man lebt nur zweimal? geschrieben - mit dem allseits bekannten Helden James Bond. Wie konnte er nur so blutrünstige Geschichten schreiben in einer Umgebung, die so fern ist von den Schrecken der Welt, wie man es sich nur wünschen kann. Zwei ältere Damen und ihr Begleiter, auch schon im Rentenalter, sind die einzigen Gäste in dieser Mittagstunde. Regie O-Ton durchlaufen lassen O-Ton The Duck used to be ... Autor Damals, in den 60er Jahren war The Duck noch anders, sagt die eine der beiden Ladies, da drüben war nur eine kleine Bar, und sie hatten nur einen von diesen Stühlen hier (die sehen ein bisschen aus wie geklaute Kirchenbänke) und ein paar Barhocker, weil es so klein gewesen sei. Und hier - da sitzen wir gerade ? sei der Salon für die Damen gewesen und Fleming sei mit den anderen Männern zum Tresen am offenen Kamin gegangen. Damals seien eben auch viele locals, Leute aus der Umgebung, hier gewesen. Das hier war ein Treffpunk für gesellige Köpfe. Der Begleiter der beiden Damen hat gar nicht gewusst, dass Fleming hier gewesen ist, vermutet aber, Fleming habe hier getrunken und seine Ideen formuliert ? der Mann weiß, was man in einem Pub macht. Die beiden Ladies weisen darauf hin, sie seien aus einer jüngeren Generation, selbst gesehen hätten sie Fleming nicht mehr, sie seien wahrscheinlich zur Schule gegangen als er hier trank. Die Schweigsamere von den beiden will sich jetzt daran erinnern, dass Fleming hinter den Frauen hergewesen sei, aber bevor das zu weit geht, klinkt sich der Begleiter wieder ein und erzählt von Gerüchten, Ian Fleming habe im Krieg im Geheimdienst MI 6 gedient und daher einige seiner Stoffe bekommen. Was wohl stimmt. Und so geht das Gespräch noch eine Weile weiter, wir kommen auf Heidelberg und Deutschland und den Krieg und das geflügelte Wort von John Cleese aus der Serie ?Faulty Towers? ? nämlich: ?Don?t mention the war!? ? was wir alle ganz fröhlich trotzdem getan haben, und niemandem hat´s geschadet. Regie Musik Autor Ortswechsel, wieder ein Pub auf dem Lande, drei Autostunden weiter westlich, in der Nähe von Salisbury und den Steinen von Stonehenge. 2. Sprecher (Übersetzung Shakespeare) Wir sind in einem Pub genannt The Campuses in Chicksgrove, und das ist mein Pub, manchmal wandere ich hierher über die Felder. Er stammt aus dem 13. Jahrhundert mit einer ganz niedrigen Decke, alles schwarz mit dicken Balken, mit einer Bar und wunderschönen Mädchen hier aus dem Ort...normalerweise sind hier die Leute aus Wiltshire aus alteingesessenen Bauernfamilien oder Diplomaten auf Rente oder Schriftsteller, und die kommen hier abends hin.... Regie abblenden, darüber Autor Mit Nicholas Shakespeare in der Kneipe. Der erwähnte Diplomat auf Rente ist sein Vater, der Schriftsteller ist er selbst. Er ist die 13. Generation aus der Familie des berühmten William Shakespeare. Ich frage ihn, wie die Leute reagiert haben, als er zwei Plätze für uns reserviert hat, auf den Namen ?Shakespeare?. Die Reaktion sei wie üblich gewesen ? man habe ihn gebeten, den Namen zu buchstabieren. 2. Sprecher (Übersetzung Shakespeare) Wir sind ungefähr eine Stunde 40 Minuten mit dem Zug von London entfernt ? gefährlich, denn damit sind wir für Pendler erreichbar. Vor 10 Jahren waren wir noch ganz deutlich auf dem Lande, und jeder, der hier lebte, lebte auch hier. Aber jetzt kommen immer mehr Leute, die Cottages gekauft haben und nur das Wochenende über hier leben und es gibt auch welche, die jeden Tag den Zug nach London nehmen. Die Population verändert sich hier allmählich. Autor Der Wandel in der Bevölkerung ist auf dem Parkplatz erkennbar, dort stehen im wesentlichen Fahrzeuge aus deutscher Produktion, ein untrüglicher Hinweis auf die gehobene Mittelschicht. 2. Sprecher (Übersetzung Shakespeare) London ist schrecklich über jedes Maß hinaus. Es ist überfüllt, es funktioniert nichts. Immer wenn ich nach London fahre, spüre ich im Hals, wie sich die Luft verschlechtert hat, es tut richtig weh. Ich habe in London gelebt und ein Buch darüber geschrieben. Es ist eine große Stadt, aber nicht so wie Paris, Lissabon, New York oder Sydney, in London funktioniert nichts.. Könnten Sie in London leben? ? No! Autor Die Kellnerin könnte es auch nicht, es stinkt zu sehr, ist zu teuer, und es gibt zu wenige Engländer dort. Wir ziehen um in Shakespeares Studio. Nur ein Raum mit einem großen Fenster steht es separat vom Wohnhaus im Garten. Bücherregale an allen Wänden, ein Feldbett in der Mitte. Ein Arbeitsraum, der aussieht, als sei eine Papierfabrik explodiert, am Fenster der Schreibtisch. 2. Sprecher (Übersetzung Shakespeare) Dieser Stuhl ist aus einem Pinienholz, das gibt es nur auf Tasmanien. Das Holz ist so voll Öl, dass es schwimmt. Dieses Stück Holz ist vielleicht älter als Christus, ungefähr 2000 Jahre alt vielleicht. Autor Nicholas Shakespeare lebt mit seiner Familie die Hälfte des Jahres ? in unserem Winter ? im tasmanischen Sommer. Auf diese Insel verfiel er, als er nach der Biographie über den englischen Reiseschriftsteller Bruce Chatwin, an der er sieben Jahre und auf etlichen Kontinenten gearbeitet hatte, einen Ort suchte, der nicht mit Chatwin in Verbindung stand. Also Tasmanien. Das ging eine Zeitlang gut, bis er entdeckte, dass es hier einen ganzen Friedhof voller Chatwins gab und dass sein eigener Vorfahr Tasmanien besiedelt hatte. Da war es schon zu spät, er hatte sich in ein Haus am Strand verliebt und es gekauft. Dann musste er auch noch feststellen, dass derselbe Grundbesitzer, der Ländereien in der Nähe von Shakespeares englischem Haus hat, auch in Tasmanien sein Nachbar ist. Die Welt ist eben voller ungeahnter Verbindungen. 2. Sprecher (Zitat) An dem Samstag, als er Merridy kennenlernte, war Alex nach Wellington Point gefahren, um in den Mülleimern der Schule nach Eisstielen zu suchen. Ein kräftiger Wind blies, als er vom Schulhof kam. Eine Bewegung auf der anderen Seite des schmalen Wegs erregte seine Aufmerksamkeit. Zwei junge Mädchen halfen sich gegenseitig dabei, auf einen hohen Lattenzaum zu klettern. Eins von ihnen erkannte er, und sofort war ihm beklommen zumute. Autor So beginnt eine Geschichte, die viel Zeit hat. 539 Seiten voll Tasmanien, ein Land, in dem eigentlich nichts passiert. Tasmanien ist kein Zentrum, Tasmanien ist der äußerste Rand, geographisch und literarisch. Noch weiter weg liegt nur der Südpol. Nikolaus Hansen ist der Verleger des Mare-Buchverlags in Hamburg, ein Mann, bei dem sich alles um das Meer dreht. Er bestellte bei Shakespeare eine Geschichte ?mit Meer?. So entstehen Bücher, gelegentlich. 2. Sprecher (Übersetzung Shakespeare) Nico wandert am Strand lang und bestellt eine Geschichte über das Meer, und normalerweise gehe ich raus und recherchiere, ich liebe es, in die Welt zu ziehen, Material zu sammeln. Ich bin nach Peru, nach Nordafrika oder Ostdeutschland gegangen für meine Geschichten. Aber jetzt war ich verheiratet mit zwei kleinen Kindern, also konnte ich nicht weg. Ich dachte, jetzt versuche ich es mal so, dass ich alles in mich aufnehme: dieses Haus, die Bucht, diese Insel, den äußersten Süden bis zur Antarktis, dieses kleine Dorf von 500 Leuten. Autor Das Faszinierende an diesem Buch ist, dass kaum etwas geschieht und dass das Leben in dieser Welt, die unaufgeregt ist, ereignislos und eng, die Leser in ihren Bann zieht. Sie erleben über die Jahre hinweg Alex und Merridy in ihrer Ehe, auf ihrer Farm, in ihren Qualen der Kinderlosigkeit ? so lange bis ein Mann aus dem Meer erscheint, Opfer eines Schiffsbruchs, ein rüder Charakter und doch mit einer gefährlichen Faszination für Alex und Merridy. Ein dramatisches Spiel beginnt: 2. Sprecher (Zitat) Sie streifte ihm das T-Shirt über den Kopf, dann zog sie ihm die durchnässte Hose aus. Seine Beine. Muskulös wie die Flanken eines Pferdes. Sie spürte ein Gewicht. Er lag regungslos da, die Augen geschlossen, als Merridy einen Gegenstand aus der Hosentasche hervorholte. Ein silbernes Taklermesser, gut geölt, die Klinge geschärft. Sie fuhr leicht mit dem Daumen darüber und zuckte zusammen. 2. Sprecher (Übersetzung Shakespeare) Ich glaube, ich wollte mit diesem Experiment versuchen herauszufinden, kann ich ein Buch schreiben, das in einer kleinen Siedlung spielt, mit Menschen, die den Ort nicht verlassen, mit im Wesentlichen zwei Figuren, so dass man nicht dauernd mit anderen Figuren zusammen ist, und es so machen, dass die Handlung weitergeht. Regie Musik Autor Das Experiment ist gelungen ? die Beziehungen auf engstem Raum liefern ein Drama, das vielleicht nicht viel ?Welt? enthält, das vielleicht aber wegen der Einfachheit des Schauplatzes die Chance bietet, ganz tief in die Figuren eindringen. Und woher kommt das alles? Der Weg zu Nicholas Shakespeares Haus in Wiltshire war nicht einfach, trotz einer detaillierten Beschreibung. Irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, an einem Haus zu halten und nach Shakespeares Haus zu fragen. Vier Personen in einer ländlichen Küche, die eben zum Frisiersalon umfunktioniert worden war, dachten nach und diskutierten. Wahrscheinlich oder vermutlich sei es dort hinten, sagte der junge Mann, bei der alten Eiche. Die konnte man leicht erkennen, nur 400 Meter am Ende der Weide. Es stellte sich heraus, dort war es. Vierhundert Meter Felder und Hecken und die Leute wussten nicht, wer seit über sieben Jahren ihr Nachbar war. Weit weg von London ist das Leben ganz anders. 1