COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Autor Ein paar Mal schon sollte Diderot ins Pantheon, die Weihehalle der unsterblichen Franzosen, überführt werden. Aber immer war die Opposition zu stark. Den Geisteswissenschaftlern ist er zu physiologisch, den Naturwissenschaftlern zu romantisch, den Staatstragenden zu anarchistisch. Die revolutionären Puristen werfen ihm seine Kontakte zu den Mächtigen vor, und die Eigentümer seinen Kommunismus. Und die Frommen mögen ihn schon gar nicht. Zitator ...aus Priesterdärmen dreht er einen Strick Den Königen zu winden ums Genick. Autor Den Vers haben sie ihm übel genommen, aber es war ein Gelegenheitsgedicht, auf einer Neujahrsparty, in einer Zeit, als Krone und Altar mit Gesinnungsterror und Geheimpolizei die feudale Ordnung blutig zu verewigen suchten. Öffentlich hätte Diderot so etwas nie gesagt. Und seine besten Sachen hat er für die Schublade geschrieben. Oder im geschützten Raum der Briefe. Zitator Jedes Jahrhundert hat einen Geist, der es kennzeichnet. Der Geist des unsern scheint die Freiheit zu sein. (...) Wenn die Menschen einmal gewagt haben, den Schutzwall der Religion anzugreifen - den fürchtenswertesten und geachtetsten, den es gibt, dann ist kein Halten mehr. Autor Normalerweise hätten die Priester den Gottesleugner verscharren lassen. Zitator Der erste Schritt zur Philosophie ist der Unglaube. Autor Dabei blieb er bis zum Schluss, entsprechend schwierig war es, ein Grab für ihn zu finden. Es fand sich dann doch einer, der sich bestechen ließ. Aber in der Revolution wurde die Kirche St. Roch geplündert, Diderots Bleisarg eingeschmolzen, die Leiche in irgendeinen Graben geworfen. Die Revolutionäre mochten ihn nämlich auch nicht. Robespierre, der an ein Leben nach dem Tode glaubte, ließ die Büsten der Atheisten zerschlagen, die Göttin des Atheismus öffentlich verbrennen. Auch er war, wie später Napoleon, der Meinung, dass die Gesellschaft einen Gott braucht, und sei's, dass man ihn Höheres Wesen nennt. Diderot hätte gespottet: Zitator Der Gedanke, daß es keinen Gott gebe, hat noch niemanden erschreckt, wohl aber der Gedanke, daß es einen solchen Gott gebe, wie man ihn mir schildert. ... Bei diesem Bild könnte auch die rechtschaffenste Seele wünschen, daß ein solches Wesen nicht existieren möchte. Autor Diderot war ein Fundamentalist der anderen Art. Einer, der die Fundamente des Alten unterminiert, in dem er die des Neuen legt. Einer, der die Revolution fürchtete, weil sie so viel vernichten könnte, einer, der aus diesem Grund an Reformen glaubte und deshalb keine reinen Hände hatte, sondern Kompromisse schloss. Doch die Nachwelt will klare Konturen. Regie: Atmo (Straßenlärm Paris) (Café) Sprecherin Sie müssen mir irgendwann in dieser halben Stunde verraten, was Sie an ihm so bewundernswert finden. Sprecher Nur, wenn Sie es auch tun. Sprecherin Gut, ich fange an. Sehen Sie mal, wie er dasitzt, da drüben auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber vom Café de Flore... Sprecher Wo auch keine Intellektuellen mehr sitzen, nur die Edeltouristen, die Camus, Sartre und Beauvoir gelesen haben. Sprecherin Lenken Sie nicht ab. Was sehen Sie? Sprecher Er ist nicht grade elegant gekleidet. Seinen Mantel, grobes Tuch, hat er über die Rückenlehne seines Stuhls geworfen. Die Krawatte ist locker gebunden, der Rock geöffnet. Die Bücher, die er unter dem Arm trug, hat er unter den Stuhl geschoben. Sprecherin Er trug jahraus, jahrein dieselben schwarzen Sachen, selten die Perücke. Er liebte es bequem. Weiter? Sprecher Seine Schuhe sind abgetragen. Sprecherin Eingelaufen, würde ich sagen. Er ging gern mit langen Schritten spazieren, von der Rue de Taranne aus, die da drüben war, bevor der Baron Haussmann die Straßen Paris glättete, damit die Kanonen besser auf die Barrikaden gerichtet werden konnten, um die Ecke zum Café Procope, wo er mit D'Alembert die Encyclopédie plante, oder über die Seine zum Palais Royal, um die Schachspieler und die Schauspielerinnen zu beobachten. Sprecher Er hat einen Anflug von Doppelkinn. Sprecherin Er war kein Asket. In der Liebe nicht...und nicht beim Essen. Leider konnte er später keinen Wein mehr trinken, und er starb beim Essen einer Aprikose. Aber weiter: Was sehen Sie? Achten Sie auf die Hände. Sprecher In der rechten Faust hält er eine Schreibfeder. Aber er schreibt nicht, sondern hat den Arm halb erhoben, will etwas demonstrieren. Sprecherin Und wie hält er die Feder? Sprecher In der Faust. Zwischen den vier Fingern und dem Daumen. Sprecherin Genau. Achten Sie auf den Daumen. Auf Diderots Daumen. In diesem Daumen zeigt sich Diderots Aufklärung Sprecher Übertreiben Sie nicht etwas? Sprecherin Vielleicht, ja, etwas. Aber versuchen Sie es mal. Setzen Sie sich leicht vorgebeugt hin und nehmen nun einen Stift in die Faust, klemmen ihn zwischen die vier Finger und den Daumen... Sprecher Und? Sprecherin Warten Sie, ich bin noch nicht fertig. Nun knicken Sie bitte den Daumen ein, so dass er einen überstumpfen Winkel bildet. Sprecher Ach so. Also nicht gestreckt, der Daumen. Sprecherin Nein, im stumpfen Winkel geknickt. Sie werden merken, dass der Stift nicht durch die Hand rutscht. Aber nur dann, wenn alle Finger gleichmäßig beteiligt sind. Sprecher Und was soll das beweisen? Sprecherin Stellen Sie sich vor. Ihnen sitzt jemand gegenüber, in dieser Haltung, den Arm erhoben, den Bleistift so in der Hand Sprecher Ja. Sprecherin Den Mund ein wenig geöffnet. Was sagen Sie? Sprecher Ich.. sage gar nichts. Sprecherin Wohin geht Ihr Blick..? Sprecher Er geht... ich kann nicht sagen, ob er nach innen oder nach außen geht, er sucht etwas. Es ist, als wäre eine Grenze zwischen innen und außen aufgehoben, als wäre ich transparenter... Sprecherin Sehen Sie, auch bei Houdons Porträtbüste im Louvre weiß man nicht, ob Diderot aus- oder einatmet, und auf den meisten Porträts geht sein Blick in ein offenes Außen. Aber wie Jean Gautherin den Daumen geformt hat bei dieser Plastik am Boulevard St. Germain.... Sprecher Es ist merkwürdig. Der Knick des Daumens ruft einen Zustand hervor, als könnte mein Daumen .... denken. Regie: Musik Zitator Jedes Organ ist ein Lebewesen. Wenn sich das Zwerchfell heftig zusammenzieht, leidet der Mensch und wird traurig. Wenn der Mensch leidet und traurig wird, zieht sich das Zwerchfell zusammen. Autor Yogalehrerinnen und Neurobiologen bestätigen heute, was Diderot durch Beobachtung und Spekulation vor zweieinhalb Jahrhunderten schon wusste, und was ein positivistisches Zeitalter vergessen konnte, jedenfalls offiziell: Dass unser Körper ein Gedächtnis hat, dass der Weg von physis zur psyche von beiden Seiten befahren wird. Und, in der Präzision seiner Formulierung war er schon weiter als die meisten Psychosomatiker heute. Zitator Wenn Sie von jeder körperlichen Empfindung absehen, so ist es aus mit der Seele.Ist die Seele frühlich, traurig, zornig, zärtlich, scheinheilig, wollüstig? Ohne den Körper ist sie nichts. Ich bestreite, dass man irgend etwas ohne den Körper erklären könnte. Marat... Autor ...der übrigens Arzt war, wie viele Revolutionäre ... früher... Zitator Marat weiß nicht, was er sagt, wenn er von der Wirkung der Seele auf den Körper spricht. Wenn er genau beobachtet hätte, so hätte er eingesehen, dass die Wirkung der Seele auf den Körper nichts weiter ist als die Wirkung des einen Teils des Körpers auf den anderen und die Wirkung des Körpers auf die Seele nichts weiter als die Wirkung des anderen Teils des Körpers auf den ersten. .....(714) Autor Die Seele - auch Diderot kommt nicht ohne das Wort aus, aber die Seele ist ihm, anders als heute noch vielen Christen, vielen Hindus, vielen Moslems und vielen, die nicht gern an den Tod denken...Seele ist ihm eine Metapher, sie ist überall und nirgends. Zitator Ein Mensch, der von Geburt blind und taub wäre, würde den Sitz der Seele in die Fingerspitzen legen, denn von dort kommen seine hauptsächlichen Empfindungen und alle seine Kenntnisse. ...(und) ich wäre nicht überrascht, wenn nach tiefem Nachdenken seine Finger ebenso ermüdet wären wie bei uns der Kopf (....)Ach Madam, wie verschieden ist die Moral der Blinden doch von der unsrigen... Unsere Metaphysik stimmt nicht besser mit der ihrigen überein. ... Als der (blinde) Philosoph Saunderson im Sterben lag, führte er mit seinem Pfarrer ein Gespräch über die Existenz Gottes. Wenn Sie wollen, dass ich an Gott glaube, sagte der Philosoph, müssen Sie mich ihn fühlen lassen...." Autor Für Gedanken wie diese meldeten einen im vorrevolutionären Frankreich die Gemeindepriester der Obrigkeit, wurden Bücher verbrannt, auch eins von Diderot war darunter, die "Philosophischen Gedanken". Und, wenn es nach den Ultras gegangen wäre, hätte man auch die Autoren verbrannt. Eine Physiologie, die sich mit der Seele beschäftigte, wurde zu einer gefährlichen politischen Wissenschaft. Radikaler Materialismus brachte einen in die Nähe des Scheiterhaufens. Zitator Der erste Wohnsitz der Seele sind die Füße. Denn durch die Füße geht sie in den Körper über. Ist das Kind geboren, so bewegen sich wiederum vorzüglich die Füße. Sie setzen alles in Bewegung. Bis ins zweite oder dritte Jahr bleibt die Seele in den Füßen. Im vierten steigt sie in die Beine. Im fünfzehnten kommt sie in die Knie und Lenden...dann mag man tanzen, fechten, wettrennen und anderen heftigen Leibesbewegungen obliegen. ... Wohnt sie aber in der Jugend an einem andern Ort, als in der Kindheit, warum sollte sie nicht durch ihr ganzes Leben herumziehen? ... Wohnt sie im Herzen, so bildet sie Gefühl, Mitleid, Wahrheit und Großmut. Verbannt sie sich in den Kopf, so wird der Mensch hart, undankbar, betrügerisch und grausam. Zahlreich ist die Menschenklasse, deren Seele den Kopf nur als eine Sommerwohnung bewohnt.... Autor Derlei beschwingte Spekulationen, unter denen sich die Seele auflöste, waren mehr als frivol. Diderot brachten sie das Gefängnis ein. Mit der Seele war nicht zu spaßen. Descartes hatte mit seinem "Ich denke, also bin ich" die unsterbliche Seele, zusammen mit Gott, für die Kirche gerettet, um der Wissenschaft von den Körpern einen Freiraum zu schaffen. Der Preis war die Entkörperlichung der Seele. Und der neuzeitliche Dualismus im Denken über die Welt und im Handeln: die zwei Kulturen. Die der Naturwissenschaft und ihrer lukrativen Anwendungen, die uns bereichern und die Welt entzaubern, und die der Literatur, der Poesie, der Geisteswissenschaften, die uns Sinn versprechen. Regie: Musikakzent Autor: Wie hieß es bei Goya: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Bei Diderot gebiert er etwas anderes. Zitator Das Leben? Das Leben ist eine Folge von Aktionen und Reaktionen...Solange ich lebe, reagiere ich als einheitliche Masse, als toter Körper reagiere ich in Molekülen...Ich sterbe also gar nicht? ... Nein, in diesem Sinne sterbe ich gewiß nicht, so wenig wie irgendein anderes Wesen...Entstehen, leben und vergehen heißt, die Gestalt wechseln. Was aber bedeutet diese oder jene Gestalt? Jede Gestalt birgt das ihr eigene Glück und Unglück...Vom Elefanten bis zum Blattlaus, von der Blattlaus bis zum empfindenden lebendigen Molekül, dem Ursprung von allen, gibt es keinen Punkt in der Natur, der nicht leidet und genießt. Autor Die Materie, alle Materie empfindet - Diderot formuliert das Gegenprogramm zum Cartesianischen cogito ergo sum, zur Trennung von beseeltem Ich und toter Materie. Zitator Ich denke, ich fühle, ich empfinde, ich handle, ich erfinde, ich sterbe, also bin ich. Autor: Diderot beseelt die Natur. Nicht als schauender Schwärmer, wie Rousseau und nach ihm die Romantiker, sondern als Wissenschaftler, mit empirischem Anspruch. Und darin steckt die größte Ketzerei des Diderotschen Denkens, vielleicht bis heute. Zitator Alle Wesen kreisen ineinander, entwickeln sich von einem zum anderen, folglich auch die Arten... Alles ist ein dauernder Strom ... Jedes Tier ist mehr oder weniger Mensch, jedes Mineral mehr oder weniger Pflanze, jede Pflanze mehr oder weniger Tier. Es gibt keine scharfe Abgrenzung in der Natur. Jedes Ding ist mehr oder weniger etwas: mehr oder weniger Erde, mehr oder weniger Wasser, Luft, Feuer - es gehört mehr oder weniger diesem und jenem Reiche an...nichts ist also seinem Wesen nach nur das eine oder das andere... Autor Der da deliriert, ist der Mathematiker Jean Rond d'Alembert, der Mitherausgeber der Encyclopédie, dem Diderot in seinem wohl kühnsten Text diese Worte in den Mund legt. D'Alemberts Traum heißt das Manuskript, wie unzählige von Diderots Einfällen nicht zu Lebzeiten veröffentlicht und fast verschollen. Der Mathematiker kommt von einem verstörenden Gespräch mit Diderot, und fällt in einem Fieberwahn, in dem er die materialistische Spekulation des Philosophen weiterspinnt. An seinem Bett lauschen, philosophieren und flirten seine Maitresse, Madame de L'Espinasse und der revolutionär denkende Mediziner Bordeu. Und was sie hören, ist unerhört: Zitator Alles verändert sich, alles vergeht, nur das All bleibt. Die Welt beginnt und endet unaufhörlich; sie ist in jedem Zeitpunkt an ihrem Anfang und an ihrem Ende; sie hat nie ein anderes Ende gehabt und wird nie ein anderes haben. In diesem unermeßlichen Urmeer der Materie gibt es kein Molekül, das einem anderen gliche und kein Molekül, das sich auch nur einen Moment lang selber gliche...Wenn Empfindungsvermögen...eine allgemeine und wesentliche Eigenschaft der Materie ist, dann muss der Stein empfinden... Autor Es ist kaum glaubhaft. Zitator Ja, für den, der den Stein schneidet, behaut, zerkleinert und ihn dabei nicht kreischen hört. Autor D'Alemberts Traum ist ein phantastischer Text, voller Bilder: Zitator Nehmen Sie die Klaviersaite. Sie schwingt und klingt, wenn man an ihr gezupft hat, noch lange nach. Aber sie hat noch eine andere Eigentümlichkeit, nämlich, andere Saiten zum Schwingen zu bringen ... Nehmen Sie nun an, das Klavier besitze Empfindungsvermögen und Gedächtnis, und sagen Sie mir, ob es dann die Weisen, die Sie auf seinen Tasten gespielt haben, nicht von selbst wiederholen wird. Wir sind Instrumente mit Empfindungsvermögen und Gedächtnis. Unsere Sinne sind soundso viele Tasten, die von der uns umgebenden Natur angeschlagen werden und die sich oft auch von selbst anschlagen... Autor Beseelte Klaviere, die auf sich selbst spielen, Spinnen, deren Netze die Welt umfassen, Bücher, die sich selbst schreiben und lesen, in denen die Schrift verblasst und wiedererscheint, und jeder Sinn ein anderes Alphabet hat - in solchen Metaphern kündigt sich an, was später Spiegelneuron heißen wird, was zur Evolutionstheorie reift, oder als naturwissenschaftlich unterstützte Mystik die New Age-Gedanken beflügelt. Diderots physiologische Phantasien sind geniale Vorgriffe auf das, was in diesem Jahrhundert die Molekularbiologie und die Gehirnforschung buchstäblich zeigen: Unsere Körper sind auch ein Geschichtsbuch der Evolution, und unsere Identität ist der Niederschlag unserer Erfahrungen in den zellulären Netzen unseres Gehirns. Zitator Ich bin geneigt zu glauben, dass alles, was wir gesehen, kennengelernt, wahrgenommen und gehört haben; ja, daß die Bäume eines ausgedehnten Waldes - was sage ich? - , dass sogar die Anordnung der Äste, die Form der Blätter und die Verschiedenheit der Farben, der grünen Farbtöne und der Lichter, auch der Anblick der Sandkörnchen am Ufer des Meeres, die Ungleichheit der Wogen, wenn sie von einem leichten Windhauch bewegt oder vom Sturm zu Schaum aufgepeitscht werden, auch die Vielzahl der menschlichen Stimmen, der Tierlaute und der natürlichen Geräusche, die Melodie und Harmonie aller Lieder, aller Musikstück, aller Konzerte, die wir gehört haben: dass all das in uns ohne unser Wissen weiterbesteht. Autor Die Metaphern, mit denen Wissenschaftler heute die weißen Flecken unseres Wissens umgreifen - Landkarten, Computer, Spiegel - sie sind nicht wesentlich komplexer als Diderots Spinnen und Bücher und Klaviere. Und auch eine der jüngsten Erkenntnisse der Molekularbiologen, die Epigenetik, ahnt Diderot schon ganz unmetaphorisch, auch wenn die Apparate noch fehlen: Zitator Zugegeben: es führt kein Nerv vom Fötus zur Mutter; doch wenn irgendeine Neuigkeit die Mutter in tiefe Ohnmacht fallen lässt: was wird da aus dem Fötus? Wenn eine Beleidigung sie in Zorn versetzt: was wird da aus dem Fötus? Wenn ein Unglück sie in dauernde Schwermut versinken lässt, also in einen Zustand, in dem alle ihre Glieder und Organe - vor allem Magen, Zwerchfell, Darm, Herz und Gehirn - affiziert werden: was wird da aus dem Fötus? ... Wir leiden, sobald wir leiden sehen. Ein fremder Schmerz wirkt auf uns, und der Schmerz der Mutter soll auf den Fötus, einen Teil von ihr selbst, nicht wirken? (751/695) Autor Epigenetik, Spiegelneuronen, evolutionäre Psychologie, die Fiktion des Subjekts - Diderot lässt seinen Mathematiker Hypothesen träumen. Träumen - auch deshalb, weil sie, als Wirklichkeitsbehauptungen, den alten Schöpfungsglauben zerstören. Aber indem er D'Alembert träumen lässt, bietet er etwas an, das mehr ist als Zerstörung und Kritik der alten Transzendenz: die Große Erzählung von Erdgeschichte, Evolution, Geschichte und Individuum - eine materialistische Metaphysik. Das Wissen davon, dass wir in unserem Leib das Erbe der Evolution tragen, die Erinnerung an kosmische Katastrophen, an die Geschichte der Einzeller, der Reptilien, der Säugetiere, dass wir physisch mit dem Werden und dem Schicksal der Erde verbunden sind, dass wir gar nicht anders können, als das Leiden unserer Zeitgenossen mitzufühlen, so wie ihre Freuden - und ihr Lachen. Regie: Musikakzent, dann Atmo wie beim ersten Dialog Sprecher Wussten Sie, dass wir Sternenstaub in unseren Körpern haben, und das ganz wörtlich? Dass die Zellen unserer Lunge als Resultat einer Bakterienhochzeit vor anderthalb Milliarden Jahren entstanden sind; dass wir, über Botenstoffe, die Schwingung unserer Zellen mit der Umdrehung der Erde synchronisieren? Wir tragen das Buch des Lebens in unseren Zellen. Oder nehmen Sie die Spiegelneuronen, die große Hoffnung aller guten Menschen ... Sprecherin Jetzt schwärmen Sie aber wie Diderot. Sprecher Weil ich glaube, dass solche poetischen Erkenntnisse, eine Schöpfungsgeschichte erzählen, die unendlich viel komplexer ist als die christliche oder islamische, und die überdies noch den Vorzug hat, mit unseren Erkenntnissen übereinzustimmen, ja sogar sichtbar und meßbar zu sein. Sprecherin Da frage ich mich, warum es heute so wenige Forscher gibt, die mal eine starke Vermutung, eine steile These, ein großes Bild riskieren. Oder auch nur ihre Phantasie an die lange Leine zu lassen. Ich habe mal eine Nobelpreisträgerin gefragt, ob es vielleicht subatomares Geschehen gibt, das wir nur noch nicht erkennen können. Sprecher Und? Sprecherin Sie hat gesagt: Ausgeschlossen, und mich angesehen, als käme ich von einem anderen Stern. Sprecher Einige Ausnahmen gibt es. "Was wir glauben, aber nicht beweisen können" heißt ein Büchlein der Wissenschaftlerorganisation "edge". Hier breiten Spitzenforscher unbefangen ihre Vermutungen aus: über das Leben im Weltall, über die Unendlichkeiten der Seele, die Unsterblichkeit, oder den Vorteil von Ahnungen für den Fortschritt. Die ganz großen alten ungelösten Fragen und große neue. Was das große Ganze angeht, da grassiert immer noch die Spaltung in Fachwissenschaft und Esoterik - und nicht von ungefähr haben die Edge- Forscher an den Anfang ihres Büchleins eine kleine Hommage an Diderot gesetzt. Regie: Musikakzent Autor Als Diderot 1749 wochenlang im Kerker von Vincennes saß, wäre er fast verrückt geworden; er erkaufte sich die Freiheit durch einen peinlichen Widerruf. Und er machte einen Deal mit der Obrigkeit - und mit sich selbst: bis zu seinem Tod hat er keinen gottlosen Text mehr veröffentlicht. Jedenfalls nicht unter seinem Namen...Das war der Kompromiss, den er eingehen wollte, um sein Hauptwerk, die Große Encyclopédie, diesen Rammbock der bürgerlichen Aufklärung, nicht zu gefährden. Zitator Eilen wir uns, die Philosophie populär zu machen. Wenn wir wollen, dass die Philosophen vorangehen, sollten wir das Volk näher an den Punkt heranbringen, an dem die Philosophen stehen. Autor Die Encyclopédie, das war mehr als ein Lexikon, mehr auch als technisches Manual. Sie enthielt die Pläne für eine demokratische Gesellschaft mit gerechtem Steuersystem, rationaler Verwaltung, einem allgemeinen Schulwesen und einer Wirtschaft, die allen dient, und zu alledem war sie ein listiger Flug unter dem Radar der Zensur. Vor allem in ihren Querverweisen. Zitator Menschenfresser, siehe auch Abendmahl, Eucharistie, Altar Autor Oder in ihrer herrschaftskritischen, oft komischen Empirie. Zum Beispiel im Artikel über die Araber, in dem Diderot zunächst den Vormarsch der Aufklärung im Islam konstatiert, um dann nach Paris zu springen: Zitator In einer Pfarrgemeinde verzehrte man im Jahre 1700 fünfzigtausend Hostien, 1759 nicht mehr zehntausend. Also hat sich der Glaube um vier Fünftel verringert und alles andere, was mit der Abschwächung des Glaubens zusammenhängt. Autor Materialisme enchanté - beseelter Materialismus: so hat die Philosophin Elizabeth de Fontenay Diderots Philosophie genannt; und viel von diesem überschäumenden, begeisterten Denken steckt auch in der Encyclopédie: Zitator Die Ausdrücke Leben und Tod haben nichts Absolutes; sie bezeichnen nur die aufeinanderfolgenden Zustände ein und desselben Wesens. Autor So heißt es unter dem Stichwort "Entstehen". Und dann gestattet sich Diderot, am Ende des Absatzes, noch einen kleinen, verspielten romantischen Grenzgang: Zitator Wer weiß, ob die Asche (eines Vaters einer Mutter, eines Geliebten) nicht unsere Tränen spüren kann und darauf reagieren? Autor Die Encyclopédie, das sind 71 000 Stichworte und 1000 Artikel über Handwerke und Technologien. Ein nützliches Unternehmen, und eines, das an der Einheit der Nation arbeitete, zum Beispiel durch eine Aufwertung der Handwerker oder ein Plädoyer für die Aufhebung der Trennung von Kopf- und Handarbeit plädierte, den Hochmut der Geisteswissenschaftler geißelte. Zitator Die freien Künste - die Wissenschaften - haben ihr Eigenlob genug gesungen; was sie noch an Stimme haben, könnten sie verwenden, um die mechanischen Künste - Handwerk und Ingenieurskunst - zu feiern. Autor Die Enzyklopädie, das war nicht zuletzt das Organ einer diesseitigen Moral: Zitator Es gibt nur eine Pflicht, glücklich zu sein, und nur eine Tugend, Gerechtigkeit. Autor Wenn es nur eine Transzendenz ins Diesseits gibt: die Verbindung von Ich und Welt und die Gemeinschaft mit den anderen - dann ist die Kardinalsünde die Zerreißung dieser Zusammenhänge. Unter dem Stichwort "Tagelöhner" schreibt Diderot in der Encyclopédie: Zitator Dieser Menschenschlag bildet den größten Teil der Nation. Sein Schicksal soll eine gute Regierung hauptsächlich vor Augen haben. Ist der Tagelöhner unglücklich, so ist die Nation unglücklich. Autor Und unter "Encyclopédie" steht ein Plädoyer für das Gemeineigentum an Wissen, ja zur Vergesellschaftung aller Patente, dessen Radikalität alle gegenwärtigen Diskussion über geistiges Eigentum und Urheberrecht sprengt: Zitator Es wäre zu wünschen, dass die Regierung gestattete, die Manufakturen zu betreten, bei der Arbeit zuzusehen und Zeichnungen von den Werkzeugen, den Maschinen, den Gebäuden zu machen. Nach ihrer Ergründung müßte man alle diese Geheimnisse - ohne Ausnahme - öffentlich bekanntmachen (...) überall den Geist des Eigentums in den der Gemeinschaft zu verwandeln (...) (gekürzt) Autor In seinem letzten Lebensjahrzehnt radikalisiert sich Diderot. Sicher auch durch seine Begegnung mit Katharina II., der aufgeklärten absoluten Herrscherin: Zitator Monsieur Diderot, (sagte sie ihm), mit all ihren großen Prinzipien, die ich sehr gut verstehe, kann man schöne Bücher, aber nur schlechte praktische Arbeit machen. ...Sie arbeiten nur auf Papier, das geduldig ist; es ist einfach, streitet nicht und setzt weder ihrer Phantasie noch ihrer Feder Widerstand entgegen, während ich als arme Zarin die menschliche Haut bearbeite, die ungleich reizbarer und empfindlicher ist. Autor Und Diderots Konsequenz: Zitator Ich sehe zwischen Despotismus und reiner Monarchie nur einige Unterschiede in der Form. Die reine Monarchie kehrt zum Despotismus zurück, je nach Charakter des Monarchen. Daher ist sie eine schlechte Regierungsform. Autor Gegen Ende eines Leben wird er zum Ghostwriter für einen der größten literarischen Bestseller des 18. Jahrhunderts, "Die Geschichte der beiden Indien" des Abbé Raynal. Diderot fügte der zusammengestückelten Geschichte der kolonialen Ausbeutung die furiosesten Stellen bei: Zitator Flieht, unglückliche Hottentotten, flieht...Die wilden Tiere in euren Wäldern sind weniger bedrohlich als das Ungeheuer aus dem Reich, das Euch erobert. Der Tiger kann Euch verschlingen, aber er nimmt Euch nur das Leben. Die anderes werden Eure Unschuld und Eure Freiheit vergewaltigen....lasst vergiftete Pfeile auf die Fremden herabregnen. Autor Im Namen der Menschenrechte erweitert Diderot das Recht auf Widerstand: Zitator Völker, erlaubt Euren angeblichen Herren nicht, gegen den Gemeinwillen zu handeln, selbst wenn sie das Gute tun. Autor Aber nicht nur das: es gibt auch eine Pflicht der Beherrschten zum Widerstand gegen die eigene Trägheit: Zitator Die Tyrannei ist das Werk der Völker und nicht der Könige. Warum duldet man sie. (Es gibt) die unmenschliche Gewalt, welche unterdrückt und die Schläfrige und schwache Gewalt, die unterdrücken läßt. Autor Es gibt die Gewalt der Ideologien: Zitator In der Phantasie (der Liberalen) verleiht man den Lebensmittel Flügel; mit diesen Flügeln soll imaginärer Überfluss herabregnen, das Volk wird im Gehirn unserer Spekulanten gut ernährt und versorgt sein, aber an Ort und Stelle wird es sterben, vor Hunger jammern und sich gegenseitig umbringen... Autor Und es gibt die Gewalt des Wohlstands der einen auf Kosten der anderen. Zitator Es gibt Länder, die reiche Metalle, angenehme Kleidung und köstliche Speisen liefern. Lies aber diese Geschichte und siehe, zum welchem Preis sie Dir zukommen. ... Erfordert unser wahres Glück den Genuß der Dinge, die wir so weit herholen? ... Willst Du, dass dieser Preis gezahlt wird? Glaubt man, dass es auch nur einen Menschen gibt, der höllisch genug wäre, um zu antworten: Ich will es! Gut! In aller Zukunft von nun an wird diese meine Frage die gleiche Stärke haben.... Autor Die beiden Pole der materialistischen Moral, die Pflicht glücklich zu sein, und die Gerechtigkeit, sie sind aufeinander bezogen: Gerechtigkeit dient dem Glück aller Erdenbürger; sie macht nicht an den Grenzen der Nation halt. Regie Musik Atmo Straße, oder wie oben Sprecher Lassen Sie uns gehen. Ich will noch in die Buchhandlung neben dem Café Flore gehen, gegenüber von Diderots Denkmal. Sie hat ja die halbe Nacht offen. Ich wollte mir noch seinen Briefwechsel mit Sophie Volland kaufen - im Grunde seine Autobiographie. Sprecherin Über Sophie haben wir gar nicht geredet. Und über die literarischen Werke auch nicht. Nicht über Jacques den Fatalisten und nicht über Rameaus Neffen. Aber Sie schulden mir noch eine Erklärung: was ist es nun, was Sie an ihm so fasziniert? Sprecher Wie soll ich es nennen? Vielleicht das Enzyklopädische... Sprecherin Sie meinen, was jetzt überall in den Zeitungen steht: der letzte Mann, der das ganze Wissen der Welt, der alle Wissenschaften noch überblickte...? Sprecher Nein, das wäre Wikipedia. Die Enzyklopädie war ja kein Lexikon, sie war ein politisches Programm. Aber ich meine noch etwas anderes. Ich nenne es mal versuchsweise: seine anmutige Bürgerlichkeit. Er war ein harter Arbeiter, ein guter, aber strenger Vater, ein demokratischer Bürger, und daneben: dieser anarchische Wissensdurst, diese gefräßige, grenzenlose Neugier, intellektuelle Welteroberungslust; diese ... Weltfrömmigkeit. Faust und Peer Gynt und Newton zugleich, aber dabei, und das macht ihn so liebenswert, immer ablenkbar, von anderen, von interessanten Gedanken, von Bittstellern und kranken Freunden. Ein Spieler, am Klavier, mit Karten und Gedanken ....Tages Arbeit, Abends Gäste... Sprecherin Sie haben sich ja in ihn verliebt... Sprecher Da wäre ich in guter Gesellschaft: Napoleon, Goethe, Nietzsche, Hegel, Marx, Lenin. Aber, das Enzyklopädische, das ist ja auch der Gedanke, dass ein paar kluge Köpfe mit guten Gedanken und brillanten Formulierungen etwas Großes vorbereiten können, manchmal weit in der Zukunft. Diderot nennt es die "kleine Schar, die unsichtbare Kirche". Dass manchmal aus Gedanken eine soziale Bewegung wird. Warum soll das nicht noch einmal klappen? Sprecherin Sie sind ein Romantiker. Dann müssten Sie zumindest die Hoffnung auf die Verbesserbarkeit der Welt realistisch begründen können, das Elend müsste noch stärker wachsen, die Zensur wieder eingeführt werden, auch die Verfolgung... und nicht nur die Talkshows müsste man abschaffen. Sprecher Na ja, für die Hoffnung auf Verbesserbarkeit braucht man nur ein wenig Arithmetik, und das Andere wird bald kommen. Da bin ich ganz sicher. Aber was die Talkshows angeht.... 20