Jonglierball und Trapez - Die Kunst der Akrobaten Ein „Nachspiel“ für Deutschlandradio Kultur am 22.12.2013 von Max Böhnel Parkplatzverkehr Dass sich hier im Montrealer Vorort Saint-Michel der grösste und spektakulärste Zirkus der Welt verbirgt, ist auf den ersten Blick nicht zu vermuten. Ein nichtssagender Vorortparkplatz, dahinter silbergraue Gebäudekästen, wenig Buntes – ein ganz gewöhnliches Firmenhauptquartier eines mittleren Unternehmens, könnte man meinen. Nur vor dem Haupteingang weist eine lustige Statue auf den Cirque du Soleil hin. Es ist ein grauer Clown-Schuh – uralt, mit durchlöcherten Solen, wie bei Charlie Chaplin. Halle/Schritte Im Eingangsfoyer steht ein Harlekin. Er – oder sie, es ist nicht auszumachen - ist in ein orangenes Glitzerkostüm gekleidet und bindet sich in aller Ruhe eine überdimensionale Krawatte zurecht. Ein Hausmeister wischt eine Fensterfront. Ein Turner hastet vorbei - mit freiem Oberkörper, in einer hautengen schwarzen Trainingshose. Hinter ihm schreitet eine in grau gekleidete Verwaltungsangestellte, einen Aktenordner in der Hand. Atmo aus Bonjour im weltberühmten Cirque du Soleil an einem normalen Arbeitstag am frühen Nachmittag. Den Zirkus gibt es seit fast drei Jahrzehnten. 1984 war er gegründet worden, exakt am 450. Jahrestag der Ankunft des ersten Europäers Jacques Cartier in Kanada. Der Name „Cirque du Soleil“ ging auf die universelle Philosophie seiner Gründer zurück, die über die herkömmliche Idee von einem Zirkus mit Sägemehl, Zauberern und Tieren hinausgehen wollten. In diesen Shows treten keine Magier oder Löwen mit ihren Bändigern auf. Die Vorstellungen sind surrealistische Multimedia-Produktionen, Kampfkunst-Spektakel und Phantasiefolklore, für die Dutzende von Grosslastwägen anfahren müssen. Für die Dauershows in Las Vegas wurden eigene, millionenschwere Riesenbühnen mit Maschinenparks errichtet. Und die Artisten sind keine gewöhnlichen Clowns und Trapezkünstler, sondern die besten. Dazu beschäftigt das Montrealer Hauptquartier Castingexperten, die auf allen Kontinenten nach den Besten ihrer Zunft Ausschau halten. Wer nach Montreal eingeladen wird, darf stolz sein, muss hier aber hart weitertrainieren. Harter Sound eines Schleuderbretts Zum Beispiel im „Studio E“, einer der drei Trainingshallen für Akrobaten. Studio E ist fast 1000 Quadratmeter gross. Oben auf 15 Metern Höhe machen fünf Turner, an Sicherheitsgurte angeschnallt, Seilübungen, unten ist das Schleuderbrett in Betrieb. Schleuderbrett Zwei junge Atleten katapultieren sich abwechselnd in atemberaubende Höhen, 5 Meter, 8 Meter und darüber hinaus. Der eine wartet angespannt unten auf dem einen Brettende, bis der andere mit gestreckten Beinen armrudernd nach unten auf das andere Brettende herunterfällt – alles unter den wachen Augen von drei Trainern und einem Arzt, ein Dutzend Mal. Dann stehen sich die beiden jungen Männer auf dem Sprungbrett plötzlich gegenüber und starren sich in die Augen. Sprungbrett, Raumhall und Atmen Sie trainieren für eine Szene in der Show „Corteo“. Darin geht es um einen Clown, der gestorben ist, aber sein Leben vor sich abspulen lässt. Ein Trainer lobt die Sprünge, kritisiert aber Gestik und Mimik. Die beiden Akrobaten müssen ihre Schauspielerqualitäten verbessern. Hall und Coach Ein anderer Trainer, der sich im Hintergrund Notizen machte, heisst André St. Jean. Er ist ein Spezialist für Luftakrobatik und dabei ganz besonders für Landungen. Ich arbeite hier seit vier Jahren und trainiere vor allem Flugakrobaten. Bei ihnen kommen Verletzungen vor allem in den Fussgelenken vor, weil sie ja auf den Füssen landen. Sie müssen die Fussgelenke täglich stärken und flexibel halten, um den Aufprall bei der Landung möglichst schonend zu absorbieren. Man braucht dazu ausserdem viel Kraft in den oberen Beinmuskeln. Und Flexibilität am ganzen Körper. Wenn man steif ist, dann kann man sich selbst beim Sprung aus kurzen Distanzen leicht verletzen. Der Mitvierziger André St. Jean ist in Montreal aufgewachsen und hat den kometenhaften Aufstieg des Cirque du Soleil vor Ort miterlebt. Als Sportler war eine Bewerbung damals beim Cirque du Soleil keine Frage. Ich komme vom Trampolinsport. Trampolinwettkampf habe ich sieben Jahre lang gemacht. Danach war ich neun Jahre lang freiberuflicher Artist mit Engagements in allen möglichen kleineren Zirkusunternehmen. Schliesslich bin ich vom Cirque du Soleil genommen worden, als Akrobat auf dem Sprungbrett. Vor vier Jahren machte er Jüngeren Platz, die er heute trainiert. Als Coach berät man die Jungen. Die meisten Flugakrobaten kommen ja wirklich vom Sport, vom Trampolin oder von der Gymnastik. Man muss sie gewissermassen umprogrammieren für Flug und Landung. Die Jungen, von denen St. Jean spricht, sind fast immer erfahrene Leistungssportler, wie er es früher selbst war. Zum Cirque du Soleil kamen die Athleten, wenn sie vorher von einem Talentscout des Zirkus irgendwo in der Welt entdeckt und eingeladen worden waren. Bei Turngrossereignissen, Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen sind Abgesandte des Sonnenzirkus inzwischen Stammgäste. Am Aufmerksamsten verfolgen die Talentsucher Disziplinen wie Kunstturnen, Trampolinspringen und Sportgymnastik. Die weltweiten Turn- und Gymnastikverbände, mit denen der Cirque du Soleil dann in Verbindung tritt, gewinnen dadurch für die Sportler mehr Bedeutung. Denn mehr als die Hälfte der rund 1600 Cirque-du-Soleil-Artisten kommt aus dem Leistungssport. Das sind dann fast tausend, die eine zweite Karriere einschlagen können – wenn sie sich „umprogrammieren“ lassen, wie Coach André St. Jean sagte. Diese Wandlung vom Wettkampfathleten zum Zirkusdarsteller erfolgt in Etappen, auf die sich der Cirque du Soleil als einziger Zirkus der Welt spezialisiert hat, erläutert seine Pressesprecherin Marie-Noelle Caron. Wir wählen sie je nach Disziplin aus. Dafür ist unsere Casting-Abteilung zuständig. Sie schickt Talentsucher in alle Kontinente. Wir suchen Musiker, Sänger, Tänzer, Clowns, Schwimmer, Akrobaten und so weiter. Wer ausgewählt worden ist und mitmachen will, wird hier in Montreal weitertrainiert. Aber in Montreal weitertrainieren zu dürfen, ist noch keine Garantie für einen Werkvertrag und Showauftritt. In zahlreichen Zwischentests wird das Bewerberfeld weiter ausgesiebt. Es kommt durchaus vor, dass ein Olympiamedaillen-Gewinner durchfällt. Denn dem Cirque du Soleil geht es um das Allround-Talent. Ein Bodenturner muss tanzen können, eine Leistungsschwimmerin hat sich an den Ringen zu bewähren. Ein Clown muss singen können. Worauf es diesem ganz besonderen Zirkus ankommt, ist neben professionellen Fähigkeiten in der jeweiligen Einzeldisziplin die kreative Ausstrahlung, betont Marie-Noelle Caron. Wenn Akrobaten zu uns kommen, müssen sie das gewisse Etwas, ihre kreative Seite, schon mitbringen. Die kann man nicht lernen. Die spezifische Rolle, die sie bei den Vorführungen spielen, können sie dabei entfalten. Aber die Grenzen sind von der Choreographie vorgegeben. Caron führt auf, wer am Cirque du Soleil am falschen Platz ist. Wenn sich also jemand erwartet, hier etwas ganz Neues machen und sich frei entfalten zu können, was über die festgelegte Rolle hinausgeht, der wird enttäuscht werden. Vorrang hat die Choreographie, die das Thema der jeweiligen Show inszeniert. Die Artisten sind deshalb in den Shows als Individuen kaum zu erkennen. In den Multimedia-Inszenierungen spielen sie, oft mit Masken, starker Gesichtsschminke und aufwändiger Kostümierung ausgestattet, eben ihre vorgegebenen Rollen. Gerade deshalb wird der Cirque du Soleil von Kritikern auch der „Zirkus der Namenlosen“ genannt. Nicht die Akrobaten seien die Stars, sondern die Show und das kanadische Unternehmen selbst. Das ist puristisch gedacht, vielleicht mit wehmütigen Gedanken an die angeblich gute alte Zeit des Zirkuszelts mit Sägemehl und Löwendompteur. Aber schon damals wie auch heute dienen Zirkus und Akrobatik der Unterhaltung des Publikums. Dieses Entertainment muss nicht unbedingt an Stars geknüpft sein. Atmo aus Michael Jackson – The Immortal World Tour Das sieht der amerikanische Tänzer Kendrick Jones ebenso. Er hat es durch sämtliche Bewerbungen, Vortests und Prüfungen geschafft – und hat vom Cirque du Soleil einen Zweijahresvertrag bekommen, für die neue Show „Michael Jackson - The Immortal World Tour“. Der 28-Jährige spielt mit mehreren Kollegen zusammen die Rolle der Steptänzer. Atmo Steptanz-Übung Kendrick Jones hat an diesem Nachmittag das Tanzstudio des Cirque du Soleil ganz für sich selbst. Er pausiert von der Welttournee für zwei Wochen. Trotzdem heisst Tourneepause für einen Darsteller wie ihn nicht Nichts-tun. Der fast 2 Meter grosse, schlanke Amerikaner tanzt sich vor der Spiegelwand auf dem Parkettboden warm. Atmo Steptanz-Übung Ich war schon immer ein Michael-Jackson-Fan. Als Kind guckte ich die Fernsehserie „Soul Train“. Ich ahmte seine Bewegungen nach. Alles, was mit Fussarbeit zu tun hat, mit Rythmus und Synkopen, hat mich schwer beeindruckt. Schliesslich willigte meine Mutter ein und bezahlte mir Tanzunterricht. Das war im Alter von sechs Jahren. Atmo aus Michael Jackson – The Immortal World Tour Ich singe seine Songs , mache bis heute seine Tanzsschritte nach. Der Cirque du Soleil hatte meine Daten, da ich vor einigen Jahren die Bewerbungs- und Vorauswahlprozedur gut überstanden hatte. Als die Jackson-Show begann, schickte ich ein neues Video ein, und man lud mich ein. Ein Traum wurde war. Jetzt bin ich hier. Kendrick Jones ist einer der besten Stepptänzer der USA. Aber das reichte dem Sonnenzirkus nicht aus. Er wurde auf seine Ausstrahlung hin von einer Jury bewertet. Dann musste er sich wochenlang in andere Disziplinen einarbeiten. Neben Tap und Jazztanz, Lindy Hop, Swing und Hiphop. Ich studierte ausserdem viel Filmmaterial. Das weiter bis zu Ballett und Breakdance, um meinen Stil weiterzuentwickeln. Natürlich übe ich auch viel Klassik, das Tanzen wie eine Ballerina, die Grand Pliers, die Demi Pliers und Elevees. Das Stichwort heisst wie bei allen anderen Artisten des Cirque du Soleil Crosstraining - Übungen querbeet durch alle nur denkbaren Disziplinen. Crosstraining ist ganz wichtig bei dieser Kunstform. Denn erst damit kann man seine Kreativität voll entfalten. Es gibt dann wirklich keine Grenzen mehr für die Bewegungen, die man herstellt. Ich würde sagen, mein technisches Studium reicht von Michael Jackson bis hin zu Bruce Lee. Der Bodentänzer Kendrick Jones musste lernen, seine Höhenangst zu überwinden. Denn schliesslich soll er in der Show auf 10 Metern Höhe auf einer kleinen Plattform über dem Publikum steppen. Er brachte sich mithilfe von Trainern Saltos und Schrägsaltos bei – auch sie sind Teil der Showveranstaltungen. Wenn er nicht unterwegs ist und Zeit zuhause in Montreal verbringen kann, nutzt er die kleine Zweizimmer-Wohnung für Übungen. Musik „Man in the mirror“ Hier habe ich keinen Spiegel, den brauche ich auch nicht. Das erinnert mich an Michael Jackson, der mit seinem eigenen Schatten trainierte. Ich dunkle die Wohnung ab, stelle nur ein paar Dimmer an und beobachte meine eigenen Schattenlinien, während ich mich bewege. Nicht einmal Stepptanzschuhe brauche ich. Es geht barfuss oder in Socken. Es gibt so viele Möglichkeiten, den Fuss hinterherzuziehen, zu gleiten, über den Boden zu eilen. Wie beim Moonwalk. Aber Kendrick Jones improvisiert nicht nur. Er folgt auch zuhause einem strikten Übungsprogramm, um fit und flexibel zu bleiben. Streckübungen, sehr viel Yoga und Meditation, Beinstreckübungen. Das dient dem Abbau von Spannungen, die mit dem anstrengenden Tanzen kommen. Ich bade in Epson-Salzen und rolle viel auf Bällen. Ich lege zum Beispiel einen harten Baseball unter meine untere Rückengegend und lege mich darauf. Das geht auch ganz gut mit Tennisbällen und Basketbällen. Es hilft, Stress loszuwerden und das Gleichgewicht wieder herzustellen. Musik „Man in the mirror“ abblenden Die Michael-Jackson-Show, in der er auftritt, wird im März kommenden Jahres ihre Welttournee abschliessen. Jones war dann auf allen Kontinenten und trat vor mehr als drei Millionen Zuschauern auf. Nur diese eine Showproduktion hat dem Zirkus bisher 305 Millionen Dollar Einnahmen in die Kassen gespült. Die gigantischen Dimensionen hin oder her – die Michael-Jackson-Show stiess mehrfach auf Kritik. So hiess es beispielsweise in der britischen Zeitung „Guardian“: Der Cirque du Soleil hat Weltklasse-Akrobaten und Darsteller, und trotzdem lässt er nicht zu, dass sie ihre Fertigkeiten ganz unter Beweis stellen. Die Show kommt mit viel Zuckersüsse und viel Bombast daher. Man war ausserdem nicht willens, sich mit den düsteren Seiten der Jackson-Biographie auseinanderzusetzen. Insgesamt sieht das dann nicht aus und klingt auch nicht so wie eine Hommage an das Talent von Michael Jackson, sondern wie eine Parodie, - auch wenn sie spektakulär ist. Der Cirque du Soleil, seine Akrobaten und sonstigen Darsteller stehen für den sogenannten „cirque nouveau“, den zeitgenössischen Zirkus. Diese Bewegung war Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in Frankreich, Australien, England und in Kanada entstanden. Zirkusvorstellungen fanden nicht mehr im Zelt statt, sondern in Theatern. Der „Cirque Nouveau“ suchte sich für Vorstellungen jeweils ein Thema aus und integrierte eigens komponierte Musik und eine neue Ästhetik mit Theaterelementen und neuen Charakteren. Der traditonelle Zirkus mit einem Zirkusdirektor, die Peitsche in der Hand, Clowns und Elefanten verlor seine Bedeutung. Atmo Wasserplätschern/Wellen/Bootsmotor Ortwechsel von der kanadischen Metropole Montreal nach New York, der grössten US-amerikanischen Stadt am Hudson-Fluss. Ein Schild am Strassenrand in Downtown Manhattan weist auf Pier 25 und den „Showboat Circus“. Eine Behelfsbrücke führt auf einen historischen Holzkahn. Es handelt sich um ein altes Showboat von 20 Metern Länge. Sein Name: „Waterfront Barge“ Im Innenraum sind ein paar Dutzend Stühle vor einer Bühne aufgestellt. In einer halben Stunde wird die Vorstellung beginnen. Eingeladen zum „Showboat Circus“ hat Kapitän David Sharps. Er erzählt von der amerikanischen Tradition dieser „Showboats“. „Showboats“ gab es schon vor der Existenz von Schiffsmotoren, in Pittsburgh, auf dem Ohio-Fluss und auf dem Mississippi. Sie brachten vor über 100 Jahren auf dem Wasserweg Unterhaltung in entlegene Regionen und sind eine sehr amerikanische Tradition. Das sogenannte Entertainment war um 1870 herum ein neues Phänomen, mit dem sich die städtische Mittelschichten ihre Zeit zu vertreiben begannen – und dafür bezahlten. Mit an Bord auf dem Weg von den grossen Städten aufs Land waren Artisten, erzählt Sharps. Da wurden oft Seifenopern vorgeführt. Der Kapitän und seine Frau traten auf und der Schiffskoch. Sie sangen oder trugen eine Shakespeare-Szene vor. Mit dabei waren aber auch Tänzer, Zauberer, Jonglierkünstler und Akrobaten, die vor dem staunenden Landvolk ihre Künste vorfürhten. Man musste kein Zirkuszelt aufbauen. Die grössten Schiffe fassten bis zu 2000 Zuschauer. Atmo Kinder/Stühlerücken Sharps versucht mit seinem Kahn ein paar Mal pro Jahr, an diese alte Tradition zu erinnern. Sein renoviertes Schiff, die „Waterfront Barge“, ist selbst ein Ausstellungsstück und fester Bestandteil des alten New Yorker Hafenpiers. An den hölzernen Wänden des Schiffsbauchs sind alte Seile, Ruder und Rettungsringe angebracht. Das Publikum, insgesamt gut 80 Menschen, hat fast alle Plätze besetzt. Atmo Schiffsglocke/Sharps „Ahoi, welcome to the Waterfront Barge…Ladies and Gentlemen, dear children…“ Die Show beginnt mit der Jongleuse Jen Slaw. Atmo Musik Glenn Miller Die Mit-Dreissigerin Jennifer Slaw alias „Jen the Juggler“ ist New Yorker Familien keine Unbekannte. Kaum eine Schule, an der sie in den letzten Jahren nicht aufgetreten wäre. Sie ist das ganze Jahr über auf Flohmärkten, Kirmesveranstaltungen und Strassenfesten vertreten. Ihr letzter grosser Auftritt war im Fernsehen in der David-Letterman-Show. Atmo Musik Glenn Miller Sie tritt in einem Matrosenkostüm auf und lässt einen Rettungsring über und um ihren Körper tanzen. Dann zwei Rettungsringe, dann drei. Schliesslich greift sie zu einem gefährlich aussehenden Schwert. Die Rettungsringe legt sie Stück für Stück ab, während die Schwerter auf drei anwachsen. Mit einer Pirouette fängt sie sie in einer Hand auf. Atmo Musik Glenn Miller – Ende. Ihre Vorstellung dauert 45 Minuten. Nach den Rettungsringen und den Schwertern hat sie sieben Bälle aus allen nur denkbaren Positionen jongliert, auch im Liegen. Sie hat Zigarrenkisten durch die Luft wirbeln lassen und wieder aufgefangen, Hoolahoops tanzen lassen, Teller mit Stöcken gedreht, ohne dass sie zu Boden fielen, Kugelhalbschalen, die sogenannten Diabolos, ganz nahe an die Köpfe des Publikums in der ersten Reihe getrieben und wieder aufgefangen, und sie hat Feuerfackeln jongliert. Atmo Applaus Erst eine gute Stunde nach der Vorstellung ist „Jen the Juggler“ in der Lage, Auskunft über ihre Künste zu geben. Sie ist erschöpft. Für diese Show wurde ich von einem Freund empfohlen. Wegen des Themas, auf einem Kahn, habe ich vorher mein eigenes Kostüm gewählt und dafür die Musik ausgesucht. Ich hatte von einer Vorstellung von früher noch ein altes Navy-Kostüm aus dem 2. Weltkrieg, das ich vor ein paar Tagen umgenäht habe. Und ich habe alte Musik aus der Zeit aufgenommen. Viel hat sie für ihre Darbietung nicht erhalten – 200 Dollar. Damit kommt sie für Vorbereitung, An – und Abreise auf gut 25 Dollar Stundenlohn. Aber Jen Slaw will sich, weil sie über Wochen hin ausgebucht ist, nicht übers Finanzielle beklagen. Denn seit einem Jahrzehnt kann sie von ihrer Kunst gut leben. Ich habe in all den Jahren ein bestimmtes Niveau erreicht, hinter das ich nicht mehr zurückfallen kann. Ich trainiere zweimal pro Woche zuhause und eine Stunde vor jeder Vorführung zum Aufwärmen. Ich brauche keine neuen Tricks mehr lernen, sondern muss das, was ich beherrsche, eben nur kombinieren und zu einem neuen Paket schnüren. Die für jüngere, weniger erfahrere Akrobaten oft frustrierende Devise „schneller, höher, weiter“ gilt für Jen Slaw nicht mehr. Ein grosser Vorteil für mich ist, dass es nicht viele Jongleusen gibt. Das bedeutet weniger Konkurrenz. Ich achte schon auf einen femininen Stil. Und auf einige Tricks habe ich mich spezialisiert, die sonst keiner so beherrscht. Das ist zum Beispiel das Jonglieren am Körper. Das heisst, das Jonglierobjekt bleibt direkt am Körper. Atmo Strassenszene/Applaus/Akrobat feuert Menge an. Feuerschlucken ist vor zweitausend Jahren erfunden worden, von einem Idioten. Das sagt ein Allround-Akrobat und –Clown an ganz anderer Stelle in die lachende Menge, während er sich vermeintlich an einer Feuerfackel verbrennt. Der Ort: das jährlich stattfindende „Festival of Fools“ in Burlington im nördlichen US-Bundesstaat Vermont. Es findet in der Fussgängerzone statt und zieht Hunderte von Neugierigen an. Der Darsteller hat den Bühnennamen „Hilby, the skinny German juggler boy“, auf Deutsch: Hilby, der dürre deutsche Jonglierjunge. Ironisch-deutsch ist sein Kostüm: eine viel zu enge Lederhose, ein rot-kariertes Hemd und ein Hütchen, das ihm immer neben seinen Fackeln wieder in die Quere kommt. Und all das, während er auf einem Einrad balanciert. Hilby stolpert und quatscht unaufhörlich, auf Amerikanisch mit starkem deutschen Akzent. Atmo: “Any Canadians here? Yes…“ Er jongliert Objekte ebenso wie Worte. Sind Kanadier hier im Publikum? Ja. Verraten Sie mir den Namen des amerikanischen Präsidenten. Obama, okay. Und jetzt eine Frage an das Heimteam, die Amerikaner. Wie heisst der kanadische Premierminister? Aha, keine Ahnung, Schweigen, der nächste – aha, weiss es nicht, der nächste – nichts. Noch jemand? Seht Ihr, liebe Kanadier, die Amerikaner scheren sich einen Dreck um Euch, sagt Hilby. Atmo: „See, they don´t care about you“ – Lachen/Applaus Hilby ist 44 Jahre alt und heisst eigentlich Michael Hilbig. Er ist in Wiesbaden und Berlin aufgewachsen. Als junger Sozialarbeiter verliess er Deutschland und trampte durch die Welt. Seit 20 Jahren lebt er dank einer Greencard in den USA. Es ist einfacher in den Staaten. Hier bin ich eine einfache Figur, der German Skinny Juggle Boy, und in Deutschland wäre ich nur ein anderer dünner Jonglierjunge. Hier ziehe ich die Lederhosen an, ich spreche mit deutschem Akzent, und dann habe ich automatisch einen Clowncharakter. Von daher ist es einfacher, denke ich mir. Jetzt mache ich eine so eine Mischung zwischen Strassenkunst, Strassenfestivals, Kreuzfahrtschiffen, Messen, Galas, alles so ein bisschen. Er zieht die Ein-Mann-Show einem festen Job in einem Zirkus vor. Es gibt Vor- und Nachteile. Der Nachteil ist, dass Du ständig alleine arbeitest. Deine Show ist halt Solitaire, ne. Das Vorteil ist aber auch, dass Du alleine arbeitest. Du musst Dich keinem anderen erklären, auf der Strasse auch gerade. Und Du musst dann auch Dein Gehalt nicht teilen. Das ist ein grosser Vorteil, würde ich sagen. Und gerade auch, wenn Du mit einem Zirkus arbeitest, oft unterschreibst Du einen Ein –oder Zweijahresvertrag. Da bist du dann gebunden. Nächste Woche gehe ich zu ner Messe. Dann gehe ich auf ein Kreuzfahrtschiff. Dann gehe ich zum Mittelaltermarkt. Das mag ich schon, dass ich unterschiedliche Plätze habe, wo ich performe. Michael Hilbig ist Profi im Feuerschlucken, Einradfahren und Jonglieren. Er beherrscht chinesisches Jojo – und vor allem die Kombination aus Selbstdarstellung, Wortwitz, Selbstironie und Akrobatik. Akrobatisch – ich hab´ unheimlich viel Glück gehabt, dass ich, wo ich wohne, ein Studio habe, von der Familie. Da habe ich einen grossen Raum, da kann ich üben, mein hohen Einräder, meine Akrobatik und das Jonglieren. Das hat unheimlich viel geholfen. Im Sommer bin ich ganz oft draussen. Und jetzt bin ich nicht mehr so viel am Üben als, ich mache viel Yoga und schreibe mehr Witze und Komödien, als dass ich jetzt neue Tricks lerne. Ich bin jeden Tag für eine Stunde am Stretching, ein bisschen Jonglieren - und am Schreiben viel mehr. Ob Akrobatik und Artistik auf der Strasse, auf einem alten Lastenkahn oder in einer Grossmanege aufgeführt wird – Zirkusunternehmen wie auch Einzeldarsteller werden immer ihr Publikum finden. Eingespielte Musik: „Man in the mirror“, Michael Jackson, komponiert von Glen Ballard und Siedah Garrett, LC 00199 (Epic)