COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitfragen 26.8.2013, 19.30 Uhr "Wir sind dann mal weg" Nichtwähler in Deutschland Von Ulrike Köppchen O-Ton: Harald Welzer Man braucht ja im Grunde genommen immer Anlässe, um bestimmte Missstände, bestimmte Defizite überhaupt thematisieren zu können. Der Anlass ist hier eine Wahl und dann die in einer Demokratie absolut legitime Frage: Muss man in einer Demokratie zur Wahl gehen oder kann man Demokrat sein und seine Stimme verweigern? O-Ton: Wolfgang Merkel Die politischen Parteien und politischen Eliten sind nicht freizusprechen von ihren Unzulänglichkeiten und Fehlern, es scheint mir aber sehr bequem, alles auf diese zu schieben und sagen: naja, ich mit meinem Stimmchen kann da so und so nichts ausrichten, ich glaube, das ist so etwas wie eine Selbstentschuldigung. O-Ton: Thorsten Faas Ich glaube, wir brauchen diese Diskussion, weil es ein wichtiges Thema ist, das auf gewisse gesellschaftliche Entwicklungen und Tendenzen, die es in Deutschland gibt, hinweist und da könnte so eine Diskussion über Wahlpflicht durchaus hilfreich sein. Sprecher vom Dienst: "Wir sind dann mal weg..." Nichtwähler in Deutschland Von Ulrike Köppchen O-Ton: Werner Müller "Gemeinsam erfolgreich". Ich glaube, sie haben wieder den richtigen Slogan, die CDU. Gemeinsam erfolgreich - was will man mehr? Sprecherin: Werner Müller, 52 Jahre alt und Freiberufler, betrachtet die Wahlplakate zur Bundestagswahl, die seit kurzem an Bäumen und Laternenpfählen hängen. Viele Köpfe, wenig Text. Bei der SPD entscheidet das "Wir", die FDP wünscht sich mehr Markt und weniger Staat, und die Alternative für Deutschland fordert auf knallblauem Untergrund "Mut zur Wahrheit". O-Ton: Werner Müller "Ich werde mal Energieriese" ist natürlich putzig... Was haben wir denn da noch? Oh, statt Flaschen sammeln... Das ist schon irre, welche Auswüchse das bei uns genommen hat. Sprecherin: Aber noch lange kein Grund für Werner Müller, zur Wahl zu gehen. In den 30 Jahren, in denen er wählen darf, hat er erst zweimal an Bundestagswahlen teilgenommen. Politik erreiche ihn nicht mehr, sagt er, und sie habe auch keinen Einfluss auf sein Leben. O-Ton: Werner Müller Dass ich nicht wähle, heißt nicht, dass ich uninteressiert bin. Ich bin sogar, denke ich, auf dem Laufenderen als manch einer, der wählt. Also, ich kenne die meisten Minister noch per Namen. Also, es ist nicht so, dass mir ist alles scheißegal, ich guck mir das nicht mal mehr an, //es ist mehr so insgesamt... dieses Nichtwählen ist eher so: von keiner Seite reicht mir das Angebot. Und es reicht mir auch von keiner Seite das Personal. Es ist einfach auch häufig so, dass da auch viele Karrieristen unterwegs sind und so viel Blech geredet wird. Muss ich das unterstützen? Ich wäre eher der Typ, der sich an anderer Stelle engagieren würde. Das ist dann vielleicht auch politisch, hat aber mit Parteien nichts zu tun. Sprecherin: So engagiert sich Werner Müller zum Beispiel ehrenamtlich als Schöffe. Er träumt von einer Gesellschaft, in der entweder gar keine Wahlen notwendig wären oder eine Allparteienkoalition mit Hilfe von Experten regieren würde. Doch von Fundamentalopposition gegen die deutsche Demokratie ist er weit entfernt. O-Ton: Werner Müller Ich bin absolut dankbar, dass ich in einem so schönen Land wie Deutschland leben kann. Man wird hier nicht allzu sehr behindert. Es ist alles in relativer Ordnung. Ich bin schon ein bisschen durch die Welt gekommen und komme immer gern hierher zurück. Ich lebe gern in diesem Land, im Grunde bin ich mit den Strukturen hier zufrieden. Überhaupt keine Frage: es ist eine hohe Zufriedenheit. Sprecherin: Vielleicht werde er irgendwann auch mal wieder wählen, sagt er, er entscheide das von Wahl zu Wahl. An der kommenden Wahl wird er aber sicher nicht teilnehmen, denn die ist in Werner Müllers Augen bereits entschieden: O-Ton: Werner Müller Niemand glaubt daran, dass sich die Regierung ändern wird. Die Bundeskanzlerin wird Bundeskanzlerin bleiben. Wahrscheinlich wird auch die FDP Koalitionspartner bleiben. Meiner Meinung nach wird diese Koalition Bestand haben. Sprecherin: So wie Werner Müller scheinen viele zu denken, denn wenige Wochen vor der Bundestagswahl will nirgendwo die rechte Wahlbegeisterung aufkommen. Der Wahlkampf dümpelt vor sich hin und Experten rechnen damit, dass vergleichsweise wenige Bürger überhaupt zur Wahl gehen werden. Manfred Güllner, Leiter des Meinungsforschungsinstituts forsa: O-Ton: Manfred Güllner Es sieht im Augenblick so aus, als ob wir uns ungefähr auf dem Niveau bewegen wie beim letzten Mal, wo wir rund 30 Prozent Nichtwähler hatten. Ich kann nicht ausschließen, dass es vielleicht noch ein bisschen runtergeht - man muss natürlich abwarten, was passiert noch in den letzten Wochen bis zur Wahl. Sprecherin: Gerade einmal 70,8 Prozent der Wähler fanden bei der letzten Bundestagswahl 2009 den Weg an die Urnen - so wenige wie nie zuvor. Bei anderen Wahlen sieht es noch schlechter aus. Bei Landtagswahlen nehmen häufig nicht einmal mehr 60 Prozent der Wahlberechtigten teil, und bei Kommunalwahlen rutscht die Wahlbeteiligung gern auch mal unter die 50 Prozent-Marke. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin: O-Ton: Wolfgang Merkel Das bezieht sich nicht nur auf Deutschland, sondern - und das ist für uns Demokratieforscher eigentlich wichtiger - auf viele, viele Länder. Wir wissen also, dass es in Europa seit dem Höhepunkt um etwa 1960 einen Rückgang der Wahlbeteiligung von durchschnittlich 78 auf 73 Prozent gegeben hat. Das ist nicht alarmierend. Ein Blick im Übrigen über unsere Gartenzäune in den Osten, nach Osteuropa, würde uns zeigen, dass dort ganz dramatisch die Wählerbeteiligung zurückgegangen ist. Die ist gerutscht auf 45 Prozent im Durchschnitt - das gibt Anlass zu großen Bedenken. Sprecherin: Angesichts der europaweit grassierenden Wahlmüdigkeit nehmen sich die deutschen Werte von immerhin gut 70 Prozent Wahlbeteiligung noch recht harmlos aus. Der Soziologe und Meinungsforscher Manfred Güllner sieht dennoch Anlass zur Sorge: O-Ton: Manfred Güllner Also, wir haben sicherlich höhere Wahlbeteiligungsraten bei Bundestagswahlen als in einigen anderen Ländern. Das Problem ist, dass nirgendwo in vergleichbaren Ländern die Wahlbeteiligung so stark zurückgegangen ist, auch auf nationaler Ebene, wie in Deutschland. Und insofern ist das keine Annäherung an den internationalen Maßstab, sondern es ist eine außergewöhnliche deutsche Entwicklung, die wir feststellen können. O-Ton: Harald Welzer 1:48 Ich zähle mich zu den Menschen, die immer zähneknirschend gewählt haben in dem Sinne: jetzt verhindern wir mal das größere Übel, und je länger ich wähle, desto läppischer schien mir diese Argumentation zu sein, und jetzt scheint sie mir besonders läppisch zu sein deswegen, weil es kein kleineres Übel gibt, weil eigentlich alle Parteien aus meiner Sicht... wenn man sagen würde, keine Antworten auf die Fragen des 21. Jahrhunderts haben, wäre man noch zu positiv... sie haben nicht einmal die Fragen des 21. Jahrhunderts in ihren Parteiprogrammen und tun so, als sei alles noch mit den Instrumenten des 20. Jahrhunderts zu bearbeiten, und da muss ich sagen, in dieser illusionären Haltung ist es mir relativ egal, welche Koalition da hinterher bei rauskommt. Sprecherin: Der Sozialpsychologe Harald Welzer. Ende Mai veröffentlichte er im "Spiegel" einen Essay, in dem er ankündigte, am 22. September nicht zur Wahl zu gehen. Titel: Das Ende des kleineren Übels. Tenor: "CDUFDPSPDGRÜNELINKE" seien in ihren Inhalten austauschbar geworden und hätten zu den wesentlichen Fragen der Zeit nichts zu sagen: O-Ton: Harald Welzer Sie können ne ganze Palette nehmen, sie können anfangen darüber zu diskutieren, dass wir ein fundamentales Problem mit Generationenungerechtigkeit haben, und zwar sowohl in ökonomischer als auch in ökologischer Hinsicht, dass kein Mensch weiß, wie eigentlich die Kredite abzutragen sein sollen, die man bei der Umwelt einerseits und andererseits bei Banken aufgenommen hat, ich lese in den Parteiprogrammen nichts dazu. Sprecherin: Anstatt diese Probleme anzugehen, beschäftigten sich die gegenwärtigen Politiker lieber mit Einzelaspekten, die nicht unbedingt zu den zentralen Fragen der Politikgestaltung für die nächsten 20 Jahre gehören sollten, wie der steuerlichen Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften, dem Betreuungsgeld oder ähnlichem, sagt Harald Welzer. Nicht wählen heißt für ihn, der Politik symbolisch die Legitimation zu entziehen. Aber einfach nur zur Hause bleiben geht natürlich nicht: O-Ton: Harald Welzer Man könnte diesen Tag, den Wahltag, ja auch zum Nichtwähler-Tag machen und diejenigen, die nicht wählen, auffordern, vor den Rathäusern oder so was Picknicks zu machen oder so was in der Art, man könnte auch analog zu den Wahllokalen Nicht-Wahl-Lokale aufsuchen und dort gemeinschaftlich dokumentieren, dass man nicht wählt, dass man aber bestimmte Formen der gemeinsamen Artikulation an so einem Tag sucht. Sprecherin: Harald Welzer ist nicht der einzige deutsche Intellektuelle, der sich kritisch zur bevorstehenden Wahl geäußert hat. Philosoph Peter Sloterdijk und Spiegel- Kolumnist Georg Diez wollen ebenfalls nicht wählen gehen, und selbst Willy Brandts früherer Wahlkampfmanager Albrecht Müller zieht das in Erwägung. Auch ansonsten sind die Feuilletons voll von Unmutsbekundungen über den langweiligen Wahlkampf und das ungenügende Politikangebot, das zur Wahl steht. Sind die Nichtwähler jetzt also endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen? Nein, meint der Meinungsforscher Manfred Güllner. O-Ton: Manfred Güllner Es stimmt nicht ganz, wenn man über die soziologische Schichtungsstruktur spricht. Dann muss man sagen, dass überproportional doch die unteren sozialen Schichten unter den Nichtwählern vertreten sind. Sprecherin: Gleich drei Studien zu Nichtwählern sind in den letzten Monaten erschienen: Neben der von Güllners Forsa-Institut haben auch die Bertelsmann-Stiftung und die Konrad- Adenauer-Stiftung entsprechende Untersuchungen vorgelegt. Und in diesem Punkt sind sie sich alle einig: Nichtwähler sind zwar eine heterogene Gruppe, die sich aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammensetzt, aber es dominieren Unterprivilegierte, Menschen mit geringer Bildung und geringem Einkommen, Jüngere und Menschen aus den neuen Bundesländern. Das lautstarke Kokettieren einiger Mittelschichts-Intellektueller mit einem Wahlboykott verstellt insofern möglicherweise den Blick auf ein großes Problem im Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung, wie der Demokratieforscher Wolfgang Merkel betont: O-Ton: Wolfgang Merkel Wir wissen, dass mit jedem Prozent Rückgang Wahlbeteiligung ein Prozess eintritt, den wir soziale Selektion nennen. Das heißt, dass nicht generell die Wähler weniger zur Wahl gehen, sondern die unteren Schichten. Die Mittelschichten gehen keineswegs weniger zur Wahl als früher, aber die unteren Schichten. Also, sie haben ein soziales Aussonderungsproblem, könnte man sagen, wo das untere Drittel der Gesellschaft praktisch aus der politischen Partizipation wegbricht. Also wir kriegen eine soziale Schieflage, ich würde das eine klassische Mittelschichtsdemokratie nennen, wir steuern meiner Meinung nach auf eine soziale Zwei-Drittel-Demokratie zu. O-Ton: Tim Mich interessiert das nicht großartig. Es gibt Millionen andere Menschen, die wählen gehen und auf die eine Stimme wird es auch nicht ankommen. Sprecherin: Tim ist 20 Jahre alt, arbeitslos und wohnt in einer Kleinstadt in Brandenburg. Er hat keine Ausbildung und keine Ahnung, was er beruflich machen kann oder will - Lagerarbeiten vielleicht. Aber er weiß, was er am 22. September machen wird. O-Ton: Tim Gar nichts. Nicht wählen gehen. Sprecherin: Für Tim ist Politik eine fremde Welt, mit der er nichts zu tun haben will - wenn im Fernsehen die Nachrichten kommen, schaltet er um: O-Ton: Tim Sind langweilig. Naja, außer wenn Sportnachrichten kommen oder Sachen wie Unfälle. So was interessiert mich schon. Aber wenn es an die Politik geht, schalte ich weg. Sprecherin: Obwohl sich Tim eine sozial gerechtere Gesellschaft wünscht, in der es keine Arbeitslosigkeit gibt - wählen würde er deshalb noch lange nicht. O-Ton: Tim Na, was soll ich denn dagegen tun? Ich als einzelner kann nichts dagegen tun. Die Politik verspricht aber viel und hält es nicht ein. (Dann muss man andere wählen.) Die versprechen auch wieder Sachen und halten sie nicht ein Sprecherin: Die heutigen Unterschichten bestünden aus Menschen, die bestenfalls prekär beschäftigt seien oder noch nie gearbeitet hätten, sagt der Demokratieforscher Wolfgang Merkel. Im Gegensatz zu den Unterschichten der 50er und 60er Jahre, die immerhin noch in die Arbeitswelt integriert gewesen seien. O-Ton: Wolfgang Merkel Wenn man da nicht mehr drin steckt, liegt es sehr nahe, sich vollkommen aus der Beteiligung an dieser Gesellschaft zurückzuziehen. Die sind marginalisiert. Die sind aus der Politik draußen. Sprecherin: Das schlägt sich auch räumlich nieder. Thorsten Faas, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz: O-Ton: Thorsten Faas Wenn Sie sich deutsche Großstädte angucken, dann können Sie feststellen, dass in bestimmten Stadtteilen, das sind dann häufig die Stadtteile, die wir als Problemviertel wahrnehmen, dass sie dort eine extrem niedrige Wahlbeteiligung haben, die teilweise im Bereich von 20, 30 Prozent liegt, während sie andere Stadtteile haben, die eher dann wohlsituierten Stadtteile, da liegen sie immer noch in den Bereichen, die wir so aus den 70er, 80er Jahren kennen, sprich: 70, 80, teilweise über 90 Prozent. Sprecherin: Regelrechte Nichtwähler-Milieus sind in Deutschland entstanden. Zu diesem Ergebnis kam eine kürzlich veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung. Milieus, in denen nie über Politik gesprochen wird und wo Wählen einfach kein Thema ist: O-Ton: Michelle Von meiner Familie weiß ich eigentlich nur, dass mein Opa wählen geht, sonst weiß ich eigentlich nicht, dass irgendjemand von uns wählen geht. Sprecherin: Michelle ist 18, macht eine Ausbildung zur Sozialassistentin und verbringt ihre Freizeit im gleichen Jugendclub wie Tim. Obwohl viele ihrer Bekannten volljährig sind und wählen dürften, tut es keiner, sagt sie: O-Ton: Michelle Also, ich kenne zumindest keinen von meinem Freundeskreis, die wählen gehen. Weil halt auch wirklich sich keiner damit auskennt und weil es halt vielleicht auch für viele uninteressant ist, gerade weil man es nicht versteht, und wenn man es nicht versteht, dann haken sich viele auch nicht mehr ran. Dann ist halt: ja, verstehe ich eh nicht, also interessiert's mich auch nicht. Sprecherin: Michelle würde im Grunde gern wählen, sagt sie, aber sie wisse nicht, was. O-Ton: Michelle Ich könnte jetzt zum Beispiel auch nicht alle Parteien sagen oder... was man ja so meistens hört: NPD, SPD, die Grünen, Linken, aber mit anfangen kann ich nichts, deswegen kann ich dazu auch nichts sagen... Ich weiß nicht, was die Leute mir anbieten, wenn ich sie wähle, also ich würde es gerne wissen wollen, aber es ist für mich persönlich ziemlich schwer herauszufinden, was sie mir geben, wenn ich sie wähle, oder was sie mir versprechen. Sprecherin: Nichtwähler haben in Deutschland traditionell eine schlechte Presse. Denn obwohl es keine Wahlpflicht gibt, gilt Wählen doch als demokratische Ehrenpflicht. In der Landesverfassung von Baden-Württemberg heißt es beispielsweise: "Die Ausübung des Wahl- und Stimmrechts ist Bürgerpflicht." Entsprechend geraten Nichtwähler rasch in den Verdacht, es fehle ihnen am demokratischen Bewusstsein. Gerade vor dem Hintergrund der problematischen deutschen Vergangenheit mit dem Scheitern der Weimarer Republik und der Herrschaft der Nationalsozialisten. O-Ton: Manfred Güllner Ich habe ja den Prozess miterlebt, wie aus diesen Untertanen Staatsbürger wurden, wie mühsam der Prozess war, aus den Deutschen Demokraten zu machen und für mich ist das nach wie vor ein hohes Gut und ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, nicht zu Wahl zu gehen. Sprecherin: Weil "Wählen gehen" normativ so stark aufgeladen ist, bekennen sich viele Menschen auch nicht dazu, nicht gewählt zu haben. Das hat Manfred Güllner bereits 1970 bei einer infas-Untersuchung festgestellt. O-Ton: Manfred Güllner Damals vom infas-Institut, wo ich damals noch war, und dort sind tatsächlich echte Nichtwähler befragt worden. Da hat man aus den Wählerverzeichnissen, aus denen ja nach 18 Uhr hervorgeht, wer nicht gewählt hat, Nichtwähler herausgeschrieben und hat die anschließend besucht, und das interessanteste Ergebnis war, dass damals schon 50 Prozent der Nichtwähler, nachdem sie nicht gewählt hatten, gesagt haben, sie hätten gewählt, sie haben das also sich selbst gar nicht zugegeben, dass sie nicht gewählt haben. Sprecherin: Die Einstellungen zur Wahl als Bürgerpflicht haben sich zwar gelockert, gerade unter jüngeren Menschen, aber nach wie vor stimmt eine große Mehrheit der Bundesbürger der Aussage zu, man müsse als Bürger wählen gehen. Auch die meisten Nichtwähler halten einer aktuellen forsa-Untersuchung zufolge die Möglichkeit zu wählen für ein hohes Gut, weshalb es die Pflicht jedes Bürgers sei, sich an Wahlen zu beteiligen. Dass immer noch ein großer gesellschaftlicher Druck herrscht, sein Wahlrecht als Bürger wahrzunehmen, spiegeln auch die zum Teil harschen öffentlichen Reaktionen auf den öffentliche Ankündigung des Sozialpsychologen Harald Welzer wider, am 22. September nicht zu wählen. "Undemokratisch arrogant" etwa nannte Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin Welzers Haltung im "Spiegel", und die "Welt" warf den wahlmüden Intellektuellen . "Politikverachtung" und eine narzisstische Kränkung vor. Auch der Demokratieforscher Wolfgang Merkel ist alles andere als begeistert über deren Vorstöße: O-Ton: Wolfgang Merkel Ich halte das für riskant, ich halte das in gewissem Sinne auch für fahrlässig, wenn das von intellektueller Seite kommt, und erstaunlich uninformiert, was die Sachfragen angeht. Sprecherin: Fahrlässig, weil man damit die Demokratieverdrossenheit der Nichtwähler fördert? Doch die ist gar nicht zwangsläufig vorhanden, meint Manfred Güllner: O-Ton: Manfred Güllner was wir festgestellt haben ist, dass doch eine Unzufriedenheit vorherrscht mit der Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Es ist nicht so, dass schon eine Demokratieferne da wäre, dass es also systemkritische wären, aber es sind Politikkritiker, und der Hauptvorwurf, der hier gemacht wird den politischen Akteuren ist: die hören nicht mehr zu. Die haben kein Ohr mehr für unsere Sorgen, für das, was uns bedrückt, vor allen Dingen was uns kleine Leute bewegt. Sprecherin: Zudem, so Manfred Güllner, verweigere nur eine Minderheit der Nichtwähler wirklich dauerhaft die Wahlteilnahme, meint der Meinungsforscher Manfred Güllner: O-Ton: Manfred Güllner Es ist ja ein Prozess, der dazu führt, dass man zum Nichtwähler wird //Wenn man einmal nicht gewählt hat und es ändert sich nichts in der Politik, dann wählt man ein zweites Mal nicht und ein drittes Mal nicht, irgendwann ist man im Lager der Dauer- Nichtwähler; das ist dieser Teufelskreis, den es eigentlich zu durchbrechen gilt. Sprecherin: Wenn in Deutschland über Nichtwähler diskutiert wird, wurde das Problem bisher normalerweise auf der Seite der Wähler gesehen: Menschen gingen nicht zur Wahl, weil sie unverständlicherweise politik- oder gar demokratieverdrossen sind, weil sie fälschlicherweise annehmen, mit ihrer Stimmabgabe sowieso nichts bewirken zu können oder weil sie irrtümlicherweise glauben, die Dinge liefen auch ohne ihre Mitwirkung ganz gut. Amerikanische Politikwissenschaftler haben das Phänomen der Nichtwahl dagegen auf eine Formel gebracht, die auch die Angebotsseite einbezieht. Demnach gehen Menschen nicht zur Wahl, "because they can't, because they don't want to, or because nobody asked" - weil sie entweder nicht können, nicht wollen, oder weil sie keiner gefragt hat, Politiker und Parteien also gar kein Interesse an ihnen haben. Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin: O-Ton: Wolfgang Merkel Es ist tatsächlich sehr schwer, die unteren Schichten zu mobilisieren, die Parteien wissen in der Regel, dass sie nur schwer zu gewinnen sind, also nicht zu den Wahlen gehen, deshalb konzentrieren sie sich in aller Regel auf jene, von denen sie vermuten, dass sie relativ leicht zu mobilisieren sind. O-Ton: Thorsten Faas wenn Sie als Politiker sich überlegen: ok, ich hab wenig Zeit, ich hab vielleicht auch nicht so viel Geld - wo mache ich denn Wahlkampf? Dann werden sie einfach nicht in Stadtteile oder Gebiete gehen, in denen sie davon ausgehen müssen, dass dort nur sehr wenige Menschen an der Politik bzw. sich dann an der bevorstehenden Wahl beteiligen. Und das führt dann eben zu solchen Spiralprozessen, dass dort im ersten Schritt weniger Menschen an der Wahl teilnehmen, dass dann im zweiten Schritt rational handelnde politische Akteure vielleicht auch weniger hingehen, dann nehmen dort noch weniger Menschen teil, dann ist der Anreiz für die Politiker, dort Wahlkampf zu machen, noch geringer, und diese Prozesse, die kann man eben durchaus beobachten... Sprecherin: ... meint der Mainzer Wahlforscher Thorsten Faas. Und indem die Politiker einen Teil der Wähler gleichsam aufgegeben haben, sind sie durchaus mit verantwortlich für den Rückgang der Wahlbeteiligung. Wolfgang Merkel: O-Ton: Wolfgang Merkel Wir wissen, die Wahlbeteiligung steigt, je stärker sich Parteien von anderen abgrenzen oder auch in einem Wahlkampf polarisieren. Das ist eine Anmahnung an die Parteien, nicht nur und insbesondere an die großen Volksparteien, nicht nur auf den sogenannten Mitte-Wähler zu schielen - da ist das größte Wählerpotenzial - sondern ausgreifen auch auf die jeweiligen linkeren oder rechteren Lager, wo sie zusätzlich Wähler für sich mobilisieren können. Sprecherin: Auch heißt es beispielsweise, die CDU hätte die Bundestagswahl 2009 mit einer Strategie der "asymmetrischen Demobilisierung" gewonnen, bei der es vor allem darauf angekommen sei, die Anhänger der gegnerischen Parteien in größerem Maße vom Wahlgang abzuhalten als die eigenen. O-Ton: Thorsten Faas 10:23 Die Idee der asymmetrischen Demobilisierung ist im Prinzip, einerseits nicht so sehr polarisierende Themen im Wahlkampf einzuführen, andererseits aber auch eine gewisse Bereitschaft zu zeigen, Themen, thematische Vorschläge des politischen Gegners zu übernehmen, um eben dem politischen Gegner Angriffsfläche zu nehmen um dem politischen Gegner erst gar keine Chance zu geben, durch Betonen von Unterschieden in den Parteipositionen oder politischen Vorschlägen eigene Anhänger zu mobilisieren, und das hat 2009 sehr gut funktioniert, die niedrige Wahlbeteiligung knapp über 70 Prozent hat in letzter Konsequenz, wenn wir nur das Ergebnis anschauen, dazu geführt, dass Angela Merkel in die gewünschte schwarz- gelbe Regierungskoalition einziehen konnte ... Sprecherin: ... und auch im aktuellen Wahlkampf scheint es wieder ähnlich zu laufen: O-Ton: Thorsten Faas Man kann ja auch dieses Mal erkennen, dass die Regierung Merkel oder auch die CDU als stärkste Regierungspartei versucht, so eine gewisse Zufriedenheit und Gelassenheit auch zu vermitteln, um zu signalisieren, es läuft sehr gut in Deutschland, es gibt auch keine allzu großen Unterschiede, was die politischen Vorschläge betrifft, und insofern gibt es eigentlich keine starke Motivation für die Menschen im Land, für einen Wechsel zu stimmen, und das ist natürlich ihr genuines Interesse, genau einen solchen Wechsel zu verhindern. O-Ton: Thorsten Faas Was ist die optimale Wahlbeteiligungshöhe? Und natürlich könnte man jetzt in so einem naiv-demokratischen Argument sagen: eigentlich sollte es so sein, dass jeder an der Wahl teilnimmt, aber ich glaube, es ist ein bisschen verkürzt. Die Art und Weise, wie wir eine niedrige Wahlbeteiligung bewerten, hängt eben auch davon ab, welche Hintergründe zu dieser niedrigen Wahlbeteiligung oder zu dieser Nichtwahl führen. Wenn jetzt jemand, der politisch interessiert ist, der auch eigentlich die Zeit und die nötigen Ressourcen hätte, sich zu informieren, wenn der aus freien Stücken sagt: ich möchte aber nicht an der Wahl teilnehmen, ich möchte aus guten Gründen, aus freien Stücken am Wahltag zu Hause bleiben, könnte man sagen: ok, ist seine freie Entscheidung, die haben wir zu akzeptieren, aber dann musst du auch damit leben, was am Wahltag von den anderen entschieden wird. Sprecherin: Inwieweit ein Rückgang der Wahlbeteiligung überhaupt ein Problem darstellt, ist durchaus umstritten. Weder bedrohen Nichtwähler die Stabilität des politischen Systems noch gibt es Anzeichen dafür, dass sie in größerer Zahl radikalen Parteien zuneigen würden. Möglicherweise würde ihre Wahlteilnahme nicht einmal das Wahlergebnis beeinflussen. Jedenfalls hat der Potsdamer Soziologe Ulrich Kohler ausgerechnet, dass nur bei drei Bundestagswahlen - nämlich 1994, 2002 und 2005 - mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine andere Regierung herausgekommen wäre, wenn die Nichtwähler gewählt hätten. Und schließlich wird immer wieder argumentiert, der Rückgang der Wahlbeteiligung würde dadurch kompensiert, dass die Bürger inzwischen andere Formen der politischen Teilhabe vorzögen: Sie bilden Bürgerinitiativen, demonstrieren als Wutbürger, organisieren Protest übers Internet und dergleichen. O-Ton: Wolfgang Merkel Das ist doppelt so schlimm. Sprecherin: sagt der Demokratieforscher Wolfgang Merkel. O-Ton: Wolfgang Merkel (Fortsetzung) Es ist gut, dass Bürger sich beteiligen und sich nicht nur auf den Wahlakt verlassen, Aber wenn Sie hinsehen, wer sich einmischt, ist dieser soziale Aussonderungsprozess noch sehr, sehr viel höher. Da sind nur die gut Ausgebildeten. Die meisten haben einen Hochschulabschluss, Sie werden niemand aus den unteren Schichten oder auch nur den unteren Mittelschichten finden, also, die Einmischung ist gut, aber da die soziale Schieflage noch größer ist, verschärft es ein Problem, das wir haben, also jenes der Zwei-Drittel-Demokratie. Sprecherin: Wahlen sind das niedrigschwelligste Angebot politischer Beteiligung und sind weniger sozial verzerrt als andere Formen der Partizipation. Insofern beharren Wissenschaftler wie Wolfgang Merkel oder Thorsten Faas darauf, dass eine niedrige Wahlbeteiligung dem Ideal der politischen Gleichheit und damit der Demokratie schadet. Und weil bisherige Versuche, die Wähler zum Beispiel durch Einführung von mehr direktdemokratischen Elementen zurück an die Urnen zu bringen, nicht erfolgreich waren, schlagen sie vor, über ein radikales Mittel zumindest zu diskutieren: die Einführung einer Wahlpflicht. O-Ton: Thorsten Faas Die hätte natürlich so eine gewisse Holzhammerfunktion, dass man sagt: hey, Leute, ihr müsst jetzt alle wählen - manche würden dann sagen, aber ich möchte aus freien Stücken nicht an der Wahl teilnehmen, darüber muss man dann diskutieren, möchte man Leute gegen ihren Willen zwingen, dass sie sich an einer Wahl beteiligen, aber es hätte auch andere Konsequenzen, die vielleicht gar nicht so schlecht wären, nämlich dass Parteien und Politiker eben nicht, wie sie es heute aus durchaus strategischen Gründen und guten Gründen tun, in bestimmten Gebieten nämlich keinen Wahlkampf zu machen, das würde dann einfach nicht mehr funktionieren, weil sie davon ausgehen müssen, dass Menschen überall, in allen Stadtteilen, in allen Gebieten des Landes der dann möglicherweise geltenden Wahlpflicht folgen und wir dann eine doch gleichere - wir hätten nicht überall 100 Prozent, das wäre eine Illusion - aber doch eine gleichere Wahlbeteiligung hätten und damit auch einen gleicheren Einfluss auf den Ausgang der Wahl und damit auch das, was nach der Wahl politisch entschieden wird. Sprecher vom Dienst "Wir sind dann mal weg - Nichtwähler in Deutschland" Es sprach: Julia Brabant Ton: Alexander Brennecke Regie: Klaus Michael Klingsporn Redaktion: Martin Hartwig Deutschlandradio 2013 2