COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 22. September 2008, 19.30 Uhr Wählerwanderung - Wenn das Volk die Volksparteien verlässt Von Katja Bigalke Atmo Mehrgenerationenhaus - "Guten Tag" - Guten Tag" Sprecher Wählerwanderung - Wenn das Volk die Volksparteien verlässt Eine Sendung von Katja Bigalke Atmo Mehrgenerationenhaus - "Guten Tag" - Guten Tag" (unter folgende Texte) Autorin CSU-Wahlkampf im niederbayerischen Arnstorf. Die Landtagsabgeordnete Reserl Sem ist auf Stippvisite im Parkwohnstift, einem Mehrgenerationenhaus. Händeschütteln hier, kurzes Gespräch dort. Sem hat die bayrische Justizministerin Beate Merk mitgebracht. Das macht Eindruck, alle Bewohner sind gekommen. Die Atmosphäre ist familiär. Atmo kurz hoch Autorin In dem Ort mit 7000 Einwohnern ist die Welt der Volksparteien noch in Ordnung. Man wählt mehrheitlich CSU und das schon seit Generationen. Das Bekenntnis zur bayerischen "Staatspartei" ist auch ein Bekenntnis zur Heimat. Und dass die 54- jährige Abgeordnete Sem heute ein Dirndl trägt, sicher kein Zufall. O-Ton 1 Das ist das spannende, das ist eigentlich wirklich die Seele der CSU. Man lacht ja manchmal über uns Bayern und sagt Fahnenweih und Heimatauftrieb und Trachtler, aber das gehört zu uns. Das ist ein Teil. Und im 21. Jahrhundert ist es unwahrscheinlich wichtig, eine Portion Gefühl zu haben, wo meine Wurzeln sind und das weiterzutragen. Autorin Seit zwanzig Jahren ist die Erzieherin in der Partei, seit fünf Jahren sitzt sie im Landtag. Die Politikerin, die mit ihren kurzen, rot gefärbten Haaren und der Sonnenblume unterm Arm auch als Grüne durchgehen könnte, vertritt den schwärzesten Wahlkreis der Republik. 68,5 Prozent errang die CSU hier bei den letzten Landtagswahlen, selbst für eine Volkspartei eine Traumquote. Wer für die CSU stimmt, ist immer auf der Gewinnerseite, sagt Sem und strahlt. Nur mit ihrer Partei könne man in Bayern etwas bewegen. O-Ton 2 Warum hat sich Bayern so entwickelt, warum haben wir noch immer so große Ausbildungsmöglichkeiten? Einfach - das wurde erarbeitet. Wir haben in unserem Landkreis Rottal-Inn keine große Industrie und keine Hochschulen, Unis. Wir haben Landwirtschaft, Handwerk und Auspendler nach Dingolfing, zu BMW. Diese Region hat sich immer aufstellen müssen. Und wenn man eine Schwäche hat, kriegt man eine Stärke. Es ist ein Weitertragen von einem gewissen Feuer. Autorin Das CSU-Erfolgsrezept aus Tradition und Fortschritt, Laptop und Lederhose, hat sich in Niederbayern bewährt. Das frühere Armenhaus des Freistaats hat eine Arbeitslosenquote von nur fünf Prozent und ein stabiles Wirtschaftswachstum. Die regionale Identität ist stark ausgeprägt. Beste Bedingungen für eine traditionell verankerte Volkspartei, kontinuierlich Rekordergebnisse zu holen. Doch auf den Erfolgen ausruhen dürfe man sich nicht, sagt die Landtagsabgeordnete Sem. Man müsse sich ständig weiterentwickeln, nah dran an den Menschen bleiben. Atmo Applaus (unter Autorin) Autorin Beim Besuch des Parkwohnstifts gibt es Applaus für die angereisten Politiker. An welcher Stelle die Senioren bei den Landtagswahlen am 28. September ihr Kreuzchen machen werden, ist kein großes Geheimnis. Applaus kurz hoch dann scharf runterziehen Trenner (an Applaus) Autorin Arnstorf ist eine Ausnahme. So gut wie es dort der CSU geht, geht es den großen Volksparteien CDU und SPD schon lange nicht mehr. Sie leiden unter Mitgliederschwund und Wählerverlusten und das schon seit Jahren. Die aktuellsten Wasserstandsmeldungen zum Untergang der Titanen: Sprecher Wären heute Bundestagwahlen käme die SPD nur noch auf 26 Prozent, die Union pendelt um 35 Prozent. In den siebziger Jahren erreichten beide Parteien noch kontinuierlich 40 Prozent plus X - ein dramatischer Rückgang, insbesondere bei der SPD. Bei der Mitgliederentwicklung sieht es nicht besser aus: Unter Willy Brandt zählte die SPD mehr als eine Million Genossen, heute sind es nur noch die Hälfte, rund 530 000. Inzwischen ist sie sogar von der CDU - mit hauchdünnem Vorsprung - als mitgliederstärkste Partei überholt worden. Doch auch die Merkel-Partei hat seit 1990 mehr als ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Autorin Ein Erosionsprozess, der unaufhaltsam scheint. Schon lange geht es bei beiden Parteien nicht mehr darum, wer mehr mobilisiert, sondern wer weniger verliert. Die Zahlen sprechen für sich, meint der Hamburger Parteienforscher Elmar Wiesendahl. O-Ton 3 Ich meine, einer wirklich diesem Kriterium der sozialem Umfassung und Integration gerecht werdenden Partei müssten schon 40 Prozent der Stimmen zuwachsen. Davon sind wohl auf Dauer die beiden Großparteien entfernt. Autorin Auch der Anspruch, die Gesellschaft adäquat abzubilden, wird kaum noch eingelöst. Schon lange rücken zu wenig junge Mitglieder nach. 47 Prozent der SPD-Genossen sind mittlerweile älter als 60, bei der CDU sind es 48 Prozent. Oskar Niedermayer, Parteienforscher am Berliner Otto-Suhr-Institut, sieht hierin das größte Problem: O-Ton 4 Wenn man Volksparteien jetzt streng definieren würde, als Parteien, die in ihrer Mitgliedschaft das Volk abbilden - dann gibt es keine Volksparteien, weil wir deutlich merken, dass bestimmte Schichten und Gruppen der Bevölkerung überrepräsentiert sind und andere deutlich unterrepräsentiert. Alle Parteien sind im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überaltert. Das zweite, was Sorge macht, ist die Tatsache, dass wir in Parteien eine sehr starke Überrepräsentation der höher gebildeten Gruppen haben. Und die Arbeiterschaft ist heutzutage in keiner der Parteien mehr überrepräsentiert oder auch nur mit ihrem Bevölkerungsanteil vertreten. Autorin Das Bereitschaft, sich in Parteien zu engagieren, hat in den letzten Jahrzehnten merklich nachgelassen: Die Kurve gleicht einem Berg. 1972 ein steiler Anstieg, ab 1982 ein flacherer, aber stetiger Abstieg. Verfügen 1976 noch 4,4 Prozent der Wahlberechtigten über ein Parteibuch, sind es 2003 nur noch 2,3 Prozent. In der Bundesrepublik herrscht ein politischer Klimawandel, der die Volksparteien wie die Polkappen langsam schmelzen lässt. Musik 70er Jahre (unter Autorin legen) Autorin Die 70er Jahre: Die Zeit, in der aus CDU und SPD erst richtige Volksparteien wurden. Zwar hatten sich beide schon vorher programmatisch geöffnet: Die CDU nach dem Krieg mit der Erweiterung des katholischen Zentrums um einen protestantischen Flügel. Die SPD, 1958, mit dem Godesberger-Programm, das aus der traditionellen Arbeiterpartei eine moderne Arbeitnehmerpartei machte. Aber erst mit dem rasanten Mitgliederzulauf ab 1970 wurden sie zu echten Hegemonialparteien. Elmar Wiesendahl: O-Ton 5 Die haben das Parteiwesen dominiert und zwar im Ausmaß etwa dann in den 70ern, wo es eigentlich nur noch eine sehr schlank gewordene FDP gab, aber in Wirklichkeit die Elefanten auf dem Wählermarkt bildeten die beiden Volksparteien vom Anspruch her. Es war eine hyperstabile Parteienentwicklung - es gab klare Entscheidungsalternativen: entweder rot oder schwarz. Autorin Der 68er Marsch durch die Institutionen, Willy Brandts Entspannungspolitik, der Nato-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung: Der Stellenwert von Politik war damals viel größer, erinnert sich Brigitte Fehrle, Leiterin des Hauptstadtbüros der "Zeit": O-Ton 6 Wer ernsthaft politisch was beeinflussen wollte, der ging in eine Partei. Das war damals auch gut angesehen in ner Partei zu sein und es war auch viel stärker so, dass man durch ne Parteimitgliedschaft ne politische Richtung ausdrücken wollte. Unser Verhältnis zu den Amerikanern, die Blockkonfrontation mit den Russen, wie geht es weiter mit der DDR, die Nachrüstung usw. Das waren ganz große Fragen, die im Raum standen, die doch auf dieses neu erwachende Deutschland eine ganz große Faszination ausgeübt haben. Autorin Die übersichtlichen Verhältnisse der Siebziger boten Gewächshausbedingungen für Volksparteien. Dank charismatischer Politiker konnten diese eine Weile auf der allgemeinen Mobilisierungswelle mitsurfen. Auf deren Entwicklung hatten sie dann aber nur bedingt Einfluss. O-Ton 7 Das ist eine komplette Änderung unseres gesellschaftlichen Lebens. Alle Organisationen haben weniger Mitglieder. Die Kirche hat weniger Mitglieder, die Gewerkschaft hat weniger Mitglieder Auch ein Kleingartenverein war in den 70er Jahren im Ruhrgebiet ein wesentliches Element eines Stadtteils und heute werden Sie wahrscheinlich sehen, dass da noch drei, vier, fünf Leute Mitglieder sind und die auch alle über 60 sind. Atmo Büro Autorin Im Ruhrgebiet ist ja sowieso nichts mehr, wie es mal war, sagt Marco Bülow, SPD Bundestagsabgeordneter aus Dortmund. Der 37-Jährige sitzt in seinem Büro im bürgerlichen Kreuzviertel kümmert sich um Schreibtischarbeit. Normalerweise würde er an diesem Morgen unterm SPD-Schirm auf dem Markt seine öffentliche Bürgersprechstunde abhalten, aber es soll ein bisschen regnen. Da würde dann überhaupt keiner mehr an den Stand kommen, meint Bülow und bleibt lieber im Trocknen. Atmo Markt (unter Autorin) Autorin Besonders gut ist man auf dem Markt auch derzeit nicht auf die SPD zu sprechen. O-Töne 8-13 - Uns lassen sie ja auch im Regen stehen. - Nennt sich soziale Partei Deutschland, könnte man auch sagen, die plündern Deutschland - Ist auch schon 15 Jahre her, da fing das ja an, dass sie nicht mehr sozial waren. - Die sollten sich mal wieder zusammentun und einen vernünftigen Kurs fahren. Man ist mutlos geworden, dass sich überhaupt noch was bewegen kann. - Ich denke das liegt daran, dass es hieß immer Arbeiterpartei - das stimmt ja in der Form auch nicht mehr ist ja nicht mehr fürs arbeitende Volk, sondern nur noch für sich selber. - Ich denke mal, dass sie eben überrascht worden sind von der Wirtschaftsentwicklung und keine Antworten darauf haben. Ich bin enttäuscht, ich hab immer zu dieser Seite tendiert und ich bin im Augenblick etwas ratlos, muss ich ehrlich gestehen. Autorin Viele sind frustriert in dieser Stadt. Die Arbeitermetropole, die einst Kohle, Stahl und Bier produzierte, hat zwar den Wandel zum Bürostandort und Hightechzentrum erfolgreich gemeistert. Es blieben aber auch viele auf der Strecke. Mit 14 Prozent hat Dortmund mit die höchste Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet. Das geht an einer traditionellen Arbeitnehmerpartei wie der SPD natürlich nicht spurlos vorüber, sagt Bülow. O-Ton 14 Als ich Juso-Vorsitzender war - das ist jetzt so zwölf Jahre ungefähr her, da hatten wir noch knapp 20.000 Mitglieder mittlerweile liegen wir bei 10.000. Aber 10.000 ist natürlich immer noch ne Masse bei knapp 600.000 Einwohnern, Von daher sind unsere Kontakte zur Basis und den Menschen immer noch gut. Aber diese große Riesenparte sind wir nicht mehr. Und die vielen Austritte, die wir in den letzten Jahren hatten, weil viele Menschen unzufrieden sind mit der Partei, das schlägt hier noch mal doppelt zu. Autorin Zwar fährt die SPD hier bei Bundestagswahlen immer noch knapp 50 Prozent sein. Aber seit der Agenda 2010 muss auch Bülow um sein Direktmandat kämpfen. Die Behauptung, die Sozialdemokraten könnten in Dortmund auch einen Besenstiel aufstellen und würden trotzdem gewinnen, gilt schon lange nicht mehr. Umfragen sehen die SPD bei den nächsten Bundestagswahlen bei nur noch 33 Prozent im Ruhrgebiet. Da zählt jede Stimme. Seit zwei Jahren werben die Ortsvereine deshalb verstärkt um neue Mitstreiter. Man tut sich zusammen mit anderen Organisationen, macht Straßen- und Kinderfeste. Neues Personal soll Farbe bringen in die Partei. Jemand wie Bülow zum Beispiel, studierter Journalist, hat als Abgeordneter Generationen von Bergmännern und Maschinenschlossern abgelöst. O-Ton 15 Also zehn Jahre vorher wäre ich nicht möglich gewesen. Ich natürlich schon, aber nicht als Abgeordneter. Es gab ja auch lange in der Partei ein Misstrauen, gegen Akademiker sowieso und gegen Jüngere erst recht, da musste man erst 20, 30 Jahre Parteikarriere hinlegen, um zumindest so wichtige Mandate innezuhalten. Autorin Für die SPD ist die derzeitige Situation, nicht nur im Ruhrgebiet, besonders dramatisch. Monat für Monat verliert sie knapp 2000 Mitglieder, die CDU nur die Hälfte. Beiden Parteien geht das Volk verloren. Was sind die Ursachen für diesen Niedergang? Was ist hausgemacht, was ist gesellschaftlich bedingt? Die Parteienforschung diskutiert dazu verschiedene Thesen: musikalischer Akzent Sprecher Erstens: Volksparteien leiden unter der allgemeinen Politikverdrossenheit. Autorin Ende der 80er Jahre taucht der Begriff der "Politikverdrossenheit" erstmals auf und wird seitdem immer gerne verwendet, um das angeblich abflachende Interesse an Politik zu erklären. Politikverdrossenheit ist allerdings nicht dasselbe wie Parteienverdrossenheit. Der Anteil derjenigen, die sich grundsätzlich in einer Partei engagieren würden, ist über die Jahre sogar relativ konstant geblieben. Elmar Wiesendahl beobachtet hier aber eine immer größer werdende Kluft zwischen Wollen und Tun. O-Ton 17 Wenn ich zum Beispiel eine repräsentative Stichprobe mache und frage, seid ihr grundsätzlich bereit etwa bei den Parteien mitzumachen, erfährt man einen Ansatz von 15 Prozent, die mitmachen wollen. Tatsächlich schrumpft aber der Anteil von denen, die wirklich diesen Schritt vollziehen. musikalischer Akzent Sprecher Zweitens: Volksparteien sind nicht mehr so attraktiv, weil es andere Möglichkeiten gibt, sich politisch zu engagieren Autorin Durch die Erweiterung des Parteienspektrums und das Erstarken von Bürgerinitiativen sind die Volksparteien heute gezwungen, um politisch interessierte Menschen regelrecht zu werben. Denn gerade jüngere Leute schließen sich lieber Organisationen an, bei denen das Engagement fokussierter ist und schnelleren Erfolg verspricht. Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer sieht hierin das Ergebnis eines schlichten Kosten-Nutzen Kalküls: O-Ton 18 Das versucht man abzufangen, indem man Schnuppermitgliedschaften anbietet - aber die heutige Jugend, wenn sie sich politisch beteiligen will - wie wollen sie das tun? Sie wollen, dass das Spaß macht, sie wollen, dass sie sich zeitlich begrenzt engagieren können, sie wollen, dass es etwas Interessantes ist, für das sie sich engagieren, und sie wollen sich nicht längerfristig an eine Organisation binden. Und all dies widerspricht natürlich den Erfordernissen und Wünschen einer parteipolitischen Beteiligung - denn da sollte man sich langfristig beteiligen und man sollte nicht nur über die Rettung der Welt diskutieren, sondern auch über das Abwasserzweckverbandgesetz. musikalischer Akzent Sprecher Drittens: Volksparteien konkurrieren mit neuen Medienangeboten um das knappe Gut der Freizeit. Autorin Die Entwicklung von Medienkonsum und Parteimitgliedschaft verläuft entgegengesetzt. Während die Mediennutzung beständig steigt, sinkt die Parteimitgliedschaft. Seit Mitte der 90er Jahre klafft die Schere immer weiter auseinander. Mehrere Stunden verbringt der Deutsche im Durchschnitt heute vor Computer oder Fernseher. Parteienforscher Elmar Wiesendahl sieht darin einen wichtigen Grund für die zunehmende Parteienabstinenz: O-Ton 19 Wir haben in der Zeit die Entwicklung der Mediengesellschaft. der Freizeitgesellschaft, Wellnesskultur. Und diese Prozesse sind deutlich auch dahin sich auswirkend, dass Parteien nicht entsprechende Partizipationsplattform anbieten können, Auch wenn sie sich ändern: die jüngeren Altersgruppen, die sind abgewandert, die sitzen übrigens dann auch abends vor dem PC oder stundenweise vor dem Fernseher. Das ist eine Freizeitkultur, die einen Bruch hergestellt hat zu einer Form politischen Engagements, wie sie in den 70ger Jahren auftauchte, denn dort hatten wir eine enorme Politisierung. musikalischer Akzent Sprecher Viertens: Die traditionellen Milieus, aus denen sich die Volksparteien hauptsächlich rekrutierten, sind in Auflösung begriffen. Autorin Lange Zeit wurde in bestimmten Milieus die Parteizugehörigkeit quasi vererbt. Im Ruhrgebiet ging man unter Tage und in die SPD. Im Emsland ging man zur Messe und in die CDU. Mit dem Wandel der Arbeitswelt verschwinden die einst so wichtigen "normativen Motive". Oskar Niedermayer: O-Ton 20 Das heißt ein Druck seitens der Umwelt in eine Partei einzutreten. Und solche normativen Beitrittsgründe und Motive sind stark bei Leuten, die in sog. gesellschaftliche, soziale Milieus eingebunden sind. Diese Milieus, die erodieren seit Jahrzehnten. Und insofern gibt es nicht mehr den Druck einem nahestehender Personen, in so eine Partei hineinzugehen. musikalischer Akzent Sprecher Fünftens: Volksparteien haben ihre zentralen Werte aufgegeben und damit das Volk vergrault. Autorin Auf der Jagd nach neuen Wählerschichten haben CDU und SPD ihr Profil an zentralen Punkten korrigiert. Die SPD mit der Agenda 2010, die CDU in der großen Koalition mit einer neuen Familienpolitik. Während die SPD noch immer in Form von schlechten Prognosen und massiven Mitgliederaustritten für ihre Regierungspolitik bezahlt, regt sich der Widerstand gegen die Aufweichung konservativer Grundwerte in der CDU bislang eher hinter verschlossenen Türen. Für die Journalistin Brigitte Fehrle ist es deshalb vor allem der Wertewandel der SPD, der an ihrer Identität als Volkspartei kratzt. O-Ton 21 Wenn die SPD nicht mehr vermitteln kann: wir sind die Partei der sozial Schwachen, dann gibt sie ein konstitutives Grundmuster auf und das ist tödlich. Die Union hat es geschafft, klar zu machen, was im Jahr 2008 moderne Familienpolitik ist. Kein Mensch käme auf die Idee in der Union jetzt zu sagen, wir müssen uns jetzt abspalten, weil wir die Familienpolitik nicht mittragen. Die SPD hat es aber nicht geschafft, ihren Leuten zu vermitteln, was im Jahr 2007 oder 2008 moderne Sozialpolitik ist. Atmo Vortrag Autorin In den Räumen der Arbeiterwohlfahrt hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow zum Podium "Gute Arbeit für Dortmund" geladen. Experten analysieren den zunehmenden Trend zur Leih- und Teilzeitarbeit in Dortmund. Fragen aus dem Publikum werden auf Karteikarten gesammelt, von Bülow zusammengefasst. Die Stimmung ist konzentriert, gemeinsam suchen die Genossen nach Ideen, formulieren Forderungen. Auf regionaler Ebene läuft die SPD-Arbeit gut. Auch inhaltlich. Spricht man die Mitglieder allerdings auf die Bundespartei an, verdüstern sich die Mienen. Agenda 2010, Mehrwertsteuererhöhung, Rente mit 67 - dass nun auch noch Kurt Beck das Handtuch geworfen hat, hat das Fass zum Überlaufen gebracht: O-Ton Collage 22 - 25 - Ich sehe, dass gegenwärtig also innerhalb der SPD im Grunde genommen ein Klüngel von gewerbsmäßigen Parlamentariern und Funktionären bestimmt, wo es lang geht. Und wenn ich dann sehe, wie also jetzt eine neue Parteispitze installiert worden ist, also die Mitglieder sind noch nicht einmal gefragt worden. - Man muss manchmal schon ein bisschen Angst haben, das Wort SPD überhaupt noch in den Mund zu nehmen. - Wir haben ne gute Programmatik, aber durch die die Personen, die im Moment die Partei repräsentieren, ist die Programmatik so nicht rüber gekommen. - Wenn sie sagen, sie wollen eine Volkspartei haben von praktisch Mitte rechts bis links, dann haben sie irgendwann so ein Wischiwaschi, wie wir das in den letzten Jahren erlebt haben. Und das reicht mir nicht für eine ordentliche Sozialdemokratie. Autorin "Herzkammer der Sozialdemokratie" hatte das SPD-Urgestein Herbert Wehner Dortmund früher einmal genannt. Heute tut der Kopf der Partei so, als brauche er kein Herz und das erbost viele Genossen. Für Marco Bülow, dem in seiner täglichen Arbeit als Parlamentarier der Spagat zwischen Dortmund und Berlin gelingen muss, sind die derzeitigen Reibereien, immer noch Spätfolgen der Agendapolitik O-Ton 26 Wir haben ja diese Basta-Partei gehabt, wo im Prinzip von oben alles vorgegeben wurde und alle anderen durften nur Wahlkampf machen und abnicken. Natürlich waren die Mehrheiten knapp und natürlich ist, wenn man regiert, es immer ein bisschen schwieriger, Parteidiskussion zuzulassen Aber sie komplett weg zu hauen, wird irgendwann sich rächen Und ich glaube, das ist so ein Zeitpunkt, den wir gerade haben, wo es sich rächt, wo die SPD aus dem Dauertief nicht mehr herauskommt, sich streitet, Personaldiskussionen führt und sich nicht mehr mit dem Gegner beschäftigt und nicht mehr stark mit den Inhalten beschäftigt. Autorin Um das Ruder wieder herumzureißen, müsse massiv an den Strukturen gearbeitet werden meint Bülow. Partizipation ist das Stichwort: schließlich ist das Mitgestalten von Politik der einzige Lohn, den die Basis für das Opfern ihrer Freizeit bekommt. Der Abwärtstrend bei den Volksparteien ist vermutlich trotzdem nicht zu revidieren. Trotz Prämien für neue Mitglieder, trotz Internetortsvereinen, trotz aller Versuche sich neu zu profilieren. Die SPD muss sich wohl langfristig darauf einstellen, eine "20 Prozent plus X"-Partei zu werden. Und auch die Union dürfte nur so lange eine "30 plus X"-Partei bleiben, wie die CSU in Bayern ihre relative Stärke bewahrt und kein Konkurrent am rechten Rand auftaucht. Die absoluten Zahlen sind jedoch nur eine Seite der Medaille, meint die Journalistin Brigitte Fehrle: O-Ton 27 Für mich ist das Kriterium, ob sie die Breite der Gesellschaft repräsentiert. Also ob sie einen mit 1000 Euro Einkommen ansprechen und repräsentieren kann und einen mit 5000 Euro Einkommen Da würde ich sagen, bei der Union besteht da für mich gar kein Zweifel. Bei der SPD ist das schon so ein bisschen fragiler. Autorin Und die Entwicklung einfach umdrehen? Parteienforscher Elmar Wiesendahl sieht dafür keine Chance: O-Ton 28 Ich sehe gegenwärtig angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungstrends kaum eine Möglichkeit, dass die Großparteien zu ihrer alten Herrlichkeit wieder auflaufen können. Natürlich wird die SPD aus ihrem 25-Prozent- Loch wieder herauskommen. Aber durch das Entstehen der Linken ist selbst die 35- Prozent-Marge nicht mehr erreichbar - und die Union vermutet ja schon, dass das Ergebnis 2005 sich dann auch im nächsten Jahr wieder realisiert. Das heißt dieses immer noch ganz angemessene, aber Mittelmaßniveau wird für die Großparteien zukünftig die anzuziehende Marge sein. Autorin Für Wiesendahl ist dies aber nicht nur Ausdruck einer Krise, sondern auch Beleg dafür, dass ein neues Parteiensystem entsteht. Es trägt der veränderten Gesellschaft eher Rechnung als das alte Volksparteienmodell. O-Ton 29 Man muss ja feststellen, die Konsensgesellschaft ist durch Einflussnahme der Globalisierung ja auch schon aufgelöst worden. Das wird sich in der Politik auch widerspiegeln. Das Spiel wird bunter werden, die Parteienlandschaft zerklüfteter. Das, was die beiden Großparteien fast an ähnlicher Politik zu bieten haben, würde durch ein Mehr an Vielfalt sicherlich noch anders aussehen und sich deutlicher decken mit dem, was von den Wählern gewünscht wird. Der Prozess des Abstiegs der Großparteien ist noch nicht abgeschlossen. Denn was ja eigentlich fehlt - von der Symmetrie - ist noch rechts von der CDU eine echte rechtskonservative Repräsentationspartei, die wird auch noch kommen. Autorin Auch der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer geht davon aus, dass sich die schrumpfenden Volksparteien demnächst an andere Regierungskonstellationen gewöhnen müssen. Doch für ihn werden sie weiterhin dominieren. Ein Ende der Volksparteien sei nicht in Sicht. O-Ton 30 Es gibt ja kein unteres Limit sozusagen, weder bei der Mitgliedschaftsentwicklung noch in Bezug auf den Wählerzuspruch. Man kann natürlich sagen, klar in den goldenen Zeiten der beiden großen Parteien haben die über 95 Prozent der Wähler an sich gebunden, heute sind es 70. Warum sollten sie aber heute keine Volksparteien mehr sein? Oder ab wann sind sie keine Volksparteien mehr, wenn sie 65 Prozent haben? Das ist also ganz schwierig. In der Wissenschaft sollte man den Begriff gar nicht verwenden, weil er zu schwammig ist. Und in der politischen Auseinandersetzung werden die SPD und CDU auch noch Volksparteien bleiben, wenn sie zwei Prozent weniger bekommen bei den nächsten Wahlen. Atmo Stammtisch in Bayern Autorin Reserl Sem, die niederbayrische CSU-Landtagsabgeordnete, hat zur Abschlusskundgebung ihres Wahlkampfauftritts in Arnstorf geladen. Unterm Tonnengewölbe des Schlossbräu Mariakirchen, bei Weizenbier und Hellem, schart sich die lokale CSU um die angereiste Münchner Prominenz. Beate Merk, die energische Justizministerin, begrüßt zunächst die versammelte Runde. Atmo (Rede) Ein herzliches Grüß Gott... Autorin Da sitzt der Herr von der Seniorenunion im traditionellen Janker neben dem niederbayerischen Bundestagsabgeordneten im schicken Anzug. Die Lokaljournalistin ist ins Gespräch vertieft mit ihrem Cousin von der Jungen Union. Ein bisschen später trifft auch der Vertreter der katholischen Kirche ein. Atmo Lieber Herr Kaplan... Autorin Merk lobt die Verdienste der CSU - nennt Bayern das Zugpferd der deutschen Wirtschaftsentwicklung. Im Saal wird stolz genickt. Die Ministerin zeichnet das Bild einer Partei, die klar für konservatives Denken steht. Das kommt an auf dem Land: Es gibt keine Widersprüche, keine Debatten. Atmo (Klatschen) Atmo Stammtisch Autorin In Bayern geht es um die 50 Prozent Hürde. Beneidenswert für jede andere deutschen Partei. Und trotzdem bröckelt die heile Welt auch hier. Auch im Ortsverband Rottal-Inn ersetzen junge Parteimitglieder nicht mehr die, die sterben. Monika Mayer, die 28-jährige Kreisvorsitzende der Jungen Union, knabbert an einer Brezel. Selbst sie ist etwas ratlos, wie man Gleichaltrige für Parteiarbeit interessieren soll. O-Ton 31 Die Schwierigkeiten, die die CSU hat, die haben damit etwas zu tun, dass die Begeisterungsfähigkeit der Menschen abnimmt. Das hat auch was zu tun mit den klassischen Veranstaltungen, die die CSU bietet. Auch wenn ein Minister eingeladen ist, das zieht heute nicht mehr. Ich war jetzt neulich erst auf nem Volksfest in der Gegend und da war unser Europaabgeordneter und trotzdem ist das Bierzelt fast leer. Da weiß ich jetzt nicht, was man da machen soll - welche Events? Aber diese klassischen Wahlveranstaltungen, Bierzelte oder Gasthäuser, die ziehen nicht mehr. Autorin Wichtige Parameter für Volksparteien verschieben sich auch in Bayern. Ob es bei den nächsten Wahlen nun reicht für ein "50 plus x", wie es das auserkorene Minimalziel von Ministerpräsident Günther Beckstein ist, oder ob die CSU, wie in manchen Umfragen prognostiziert, bei nur 48 Prozent landet. Beides wird nicht an ihrem Status als letzte echte Volkspartei der Bundesrepublik rütteln. Tendenziell wird auch in Bayern künftig eher eine Koalition die Aufgabe der Volksrepräsentation übernehmen als allein die CSU. Noch ist sie eine internationale Ausnahme. Aber sie bestätigt schon lange keine Regel mehr. Oskar Niedermayer: O-Ton 32 Insofern ist die CSU ein Dinosaurier dieser ganzen Geschichte. Aber er bröckelt ja auch. Das Gewächshaus hat einige Löcher bekommen und jetzt weht ein frischer Wind. Sprecher Wählerwanderung - Wenn das Volk die Volksparteien verlässt Von Katja Bigalke Es sprachen: die Autorin und Helmut Gauss Ton: Boris Manych Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 Fehler! Textmarke nicht definiert. 1