COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 17.September 2012, 19.30 Uhr Achtung, Sie verlassen den stationären Sektor! Im "Wunderland" der ambulanten Psychiatrie Von Cornelia Braun Musik O-Ton Anita Schmidt* Man ist draußen und man ist wieder allein. Man muss sich alles abholen, egal, was man braucht, und das ist, denke ich ne Überforderung pur für viele Menschen. Die gehen ja nicht aus der Klinik raus und sind ihre Depression los oder sind ihre Ängste los. O-Ton Tony Es ging praktisch rein raus, rein raus, ich hatte draußen keinerlei Unterstützung. Ja, das war natürlich ziemlich problematisch, weil ich ja natürlich immer mehr die Kontrolle über mein Leben verloren hab'. Sprecher vom Dienst Achtung, Sie verlassen den stationären Sektor! Im Wunderland der ambulanten Psychiatrie Eine Sendung von Cornelia Braun Musik O-Ton 1 Anita Schmidt* Erkrankt bin ich im Grunde bei der Geburt meines Sohnes. Das heißt, ich habe eine traumatische Entbindung erleben müssen und infolgedessen eine schwere Wochenbettdepression entwickelt. Ich war in der Klinik bin psychiatrisch behandelt worden, bin medikamentös eingestellt worden. Dann bin ich aber nach einem Jahr wieder zurückgefallen in ne Depression und dann anderthalb Jahre später auf Lithium eingestellt worden, um weiteren Depressionen, um denen vorzubeugen. Sprecherin Anita Schmidt ist 39 Jahre alt und lebt mit ihrem sechzehnjährigen Sohn in Wiesbaden. Außer dem ganz normalen Leben als alleinerziehende Mutter und Bankkaufrau managt sie die Behandlung ihrer psychischen Erkrankung. Regelmäßige Arztbesuche sind notwendig, um den Effekt der Psychopharmaka und die starken Nebenwirkungen dieser Medikamente zu überwachen. Trotz Behandlung lebt Anita Schmidt in ständiger Angst vor schwere Krisen, die ihr Alltagsleben wochenlang blockieren. Vier waren es in den 16 Jahren ihrer Erkrankung. O-Ton 2 Anita Schmidt* Als ich meine letzte Krise hatte, im September 2010 war ich auch in einem ganz desolaten Zustand und hatte ein Medikament nicht vertragen, was ich aber von der Ärztin, die mich damals behandelte, habe nehmen sollen. Es war so eine Geschichte, dass sich meine Zunge total entspannt hat, und ich Angst hatte vor der Nacht, ich hatte Todesangst, dass, wenn ich liege, dass diese Zunge zurückfällt, ja, dass ich einfach sterbe. Und dann war ich im Krankenhaus mit ner Freundin und ja, dieser Arzt war halt nicht sehr wohlwollend mir gegenüber und konnte mich auch nicht richtig aufnehmen, und dann sind wir wieder nach Hause. Sprecherin In Wiesbaden, immerhin eine Stadt mit 270.000 Einwohnern, gibt es keinen psychiatrischen Notdienst, an den sich Anita Schmidt in dieser Nacht hätte wenden können. Ein großes Manko, denn die allgemeinmedizinischen Notärzte sind nicht dafür ausgebildet, Menschen mit psychischen Erkrankungen in akuten Krisen zu helfen. O-Ton 3 Anita Schmidt* Ich hatte dann aber mal kurz geschlafen, ich hatte vorher noch ganz viel gegessen, damit ich meine Zunge in Bewegung hatte. Und als ich dann aufgewacht war, dann war ich so relativ laut und dann hat halt mein Vater, meine Mutter war bei mir und mein Vater hat von oben den Notarzt gerufen. Und der konnte mit mir überhaupt nichts anfangen, der konnte mir auch nicht sagen, dass das Medikament nach so und so viel Stunden aufhört zu wirken. Er hat einfach nichts gemacht, außer dann irgendwann die Polizei gerufen und ja da wurde es dann wirklich interessant, und ich bin letztendlich dann nicht nur von zwei Polizisten abgeführt worden sondern von vier. Sprecher Dass psychisch kranke Menschen immer wieder in die Klinik eingewiesen werden, liegt weniger an der Schwere der Erkrankung als am deutschen Gesundheitssystem. Genauer gesagt, an den Defiziten im außerklinischen, ambulanten Bereich - vor allem in der Prävention, der psychiatrischen Notfallbehandlung und der Krisenbegleitung zu Hause. Diese Mängel sind auch der Hauptgrund für die seit Jahren steigende Zahl der Zwangseinweisungen. O-Ton 4 Anita Schmidt* Also ich bin in Handschellen wirklich gelegt worden und als ich in dem Krankenhaus ankam, bin ich dann auch, also bevor ich fixiert wurde, wurden mir nicht einmal die Handschellen abgenommen und mit mir irgendwie gesprochen oder so. Sprecherin Dieser Zwangseinweisung in eine Wiesbadener Klinik folgten 2 Wochen Zwangsunterbringung und mehrere Monate stationäre Behandlung auf freiwilliger Basis. Mühsam hat sich Anita Schmidt seitdem in ihren Alltag zurückgekämpft, erst im April dieses Jahres wagt sie die Wiedereingliederung beim alten Arbeitgeber. Viele Menschen, die an psychischen Krankheiten leiden, schaffen es nicht, sich in ihrem "alten Leben" zu halten. Tony lebt in Berlin, fast 10 Jahre lang hatte er praktisch seinen zweiten Wohnsitz in der Psychiatrie. O-Ton 5 Tony Das Therapieziel in der Psychiatrie war halt, mich irgendwie mit Medikamenten zu stabilisieren und mich zu entlassen. Das war aber dann ziemlich schnell klar, dass ich mich da draußen wieder destabilisiere und, dass das Ganze dann wieder von vorne losgeht. Es ging praktisch rein raus rein raus, ich hatte draußen keinerlei Unterstützung. Ja, das war natürlich ziemlich problematisch, weil ich ja natürlich immer mehr die Kontrolle über mein Leben verloren hab'. Musik Sprecherin Die psychiatrische Klinik gleicht einer Burg, drinnen funktioniert das Leben nach der Ordnung der Klinik - so lange die Kasse bezahlt. Draußen ist der Patient wieder ein freier Mensch und soll Verantwortung übernehmen, für sich und die Krankheit - Paranoide Schizophrenie, bipolare affektive Psychose, depressive Störung. Wer mit so einer gravierenden Diagnose vor der Kliniktür steht; für den ist es gar nicht so einfach, draußen Behandlung und Unterstützung zu finden. O-Ton 6 Anita Schmidt* Die gehen ja nicht aus der Klinik raus und sind ihre Depression los oder, und sind ihre Ängste los. Und die gehen dann in ihre Wohnung und die sind dann in der Regel wieder allein, und es kommt keiner, man muss sich alles holen, und entweder es liegt an der Entfernung, andere Hilfestellungen oder Leistungen kosten Geld. Sprecher Die ambulanten Hilfen für psychisch kranke Menschen werden aus unterschiedlichen Budgets finanziert. Da sind zunächst einmal die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Die wichtigsten Akteure in diesem Bereich sind die niedergelassenen Psychiater. Sie bekommen pro Patient maximal 65 Euro im Quartal und müssen daher sehr viele behandeln. Der Arzt verschreibt und dosiert die Medikamente, kontrolliert die Nebenwirkungen. Für mehr reicht die Zeit nicht. Aber gerade Menschen mit psychischen Leiden brauchen kontinuierliche Unterstützung durch therapeutische Gespräche. O-Ton 7 Anita Schmidt* Also ich hab' es immer wieder allein geschafft über meine Ärztin, über meine Psychologin. Also meine Psychologin, die ich auch so über acht Jahre hatte, die hat auch nicht in diesem Sinne mit mir gearbeitet, weil ich war so belastet mit meiner ganzen Lebenssituation, mit dieser Psychiatrieerfahrung, unverarbeitetes Trauma, Zwangsbehandlung dann in der Psychiatrie. Die hat mich einfach nur durch den Alltag gerettet. Aber, dass ich an irgendeinem Thema, wie kann das sein, dass ich immer wieder in solche Krisen stürze, oder so. Ich find' das ganz wichtig, dass man da genau hinschaut, was mit dieser Seele los ist, die da so verletzt durch die Welt läuft und dadurch auch immer angreifbar bleibt. Sprecherin Solche intensivere Arbeit könnten Psychotherapeuten leisten. Denn sie werden pro Sitzung bezahlt, mit 81 Euro für 50 Minuten. Die meisten haben allerdings lange Wartelisten und suchen sich daher die Patienten aus. Schwer psychisch kranke Menschen, sofern sie sich überhaupt um einen Therapieplatz bemühen, werden meistens abgelehnt. Sprecher Um die Versorgung zu verbessern, wurden mit der Gesundheitsreform unter Rot-Grün die ambulante psychiatrische Pflege und die Soziotherapie als Kassenleistung eingeführt. Damit sollte es möglich werden, auch schwer psychisch kranke Menschen in ihren Krisen zu Hause zu behandeln und zu begleiten. Die Gesetzesnovelle blieb jedoch wirkungslos, weil das von den Krankenkassen für diese Leistungen festgesetzte Honorar so niedrig ist, dass sie in den meisten Regionen Deutschlands bis heute gar nicht angeboten werden. Die für jeden psychisch Kranken erreichbare Behandlung außerhalb der Klinik beschränkt sich also auf zirka 10 Minuten Psychiater in der Woche. In ländlichen Regionen ist nicht einmal das garantiert. Musik Sprecherin Gut ausgebaut sind überall die Angebote der so genannten Gemeindepsychiatrie: Betreutes Wohnen in Wohngemeinschaften, Heimen und Tagesstätten oder als betreutes Einzelwohnen. Dabei handelt es sich um Leistungen der Sozialhilfe. Betroffene, die berufstätig bleiben, können diese Angebote nicht in Anspruch nehmen, außer sie lassen sich ihre psychische Erkrankung als Schwerbehinderung anerkennen. Das sehen viele als nicht förderlich an oder empfinden es gar als Demütigung und verzichten lieber auf die Hilfe. Anita Schmidt. O-Ton 8 Anita Schmidt* Zu meiner Situation, ich hab' meine Schwerbehinderung, die ich schon denke ich über 11 Jahre hätte haben können, nach meiner zweiten Krise, die hab' ich nie so gesehen und wollte auch diesen Status nicht und hab' dann immer wieder mich zurückgekämpft ins Leben. Und hab' versucht so einen Normalität zu schaffen, einen Alltag, auch für meinen Sohn da zu sein, aber jetzt mit der letzten Krise, habe ich einfach gemerkt, das geht nicht mehr, das macht mich alles so krank hier und ich und ich nehm' halt die Schwerbehinderung an und die Unterstützung dann die da ist. Sprecherin Die Arbeit der Gemeindepsychiatrie wiederum hat nichts mit der medizinisch- therapeutischen Behandlung zu tun. Für die Koordination ist der Sozialpsychiatrische Dienst der Kommune zuständig. Das wird über so genannte Hilfeplankonferenzen organisiert. In Wiesbaden und vielen anderen Kommunen sitzen da allerdings nur die Vertreter der Wohlfahrt und der Kliniken drin, kein niedergelassener Psychiater und auch kein Vertreter der Betroffenen. Der gebahnte Weg führt also von der Klinik ins betreute Wohnen und, wenn die Krise kommt wieder in die Klinik, zur Not mit Zwangseinweisung. Musik Sprecher Die administrative Trennung zwischen stationärer Behandlung im Krankenhaus und ambulanter Behandlung in den Arztpraxen ist für alle chronisch kranken Menschen, die beides brauchen, sehr beschwerlich. Jahrelang wurden sektorenübergreifende Versorgungskonzepte gefordert. Seit der Gesundheitsreform von Rot-Grün können einzelne Krankenkassen neben der Regelversorgung auch privatrechtliche Verträge mit Ärzten oder Managementgesellschaften abschließen, um die Behandlung bestimmter Krankheiten zusammenhängend zu konzipieren und unter dem Namen "Integrierte Versorgung" als Wahlleistung anzubieten. O-Ton 9 Marius Greuèl Also es ist bislang in der Psychiatrie ja so, dass der Bereich der stationären Versorgung bislang im Vordergrund stand, auch gerade was die Finanzierung dieses Bereiches anbelangt. Man kann ganz allgemein sagen, dass im Stationären Bereich um die 20 bis 25 Milliarden Euro verausgabt werden pro Jahr, und im ambulanten Bereich so 5 bis 7 Milliarden. Das ist so ein Gefälle zwischen stationär und ambulant, was so der traditionellen Entwicklung noch immer geschuldet ist. Sprecherin Marius Greuèl Geschäftsführer des Medizinischen Versorgungszentrums der PINEL GmbH. Nach 30 Jahren Gemeindepsychiatrie in Berlin ist die gemeinnützige Gesellschaft seit 2009 Partnerin der Techniker Krankenkasse für den ersten integrierten Versorgungsvertrag. Das Ziel: einerseits Geld zu sparen und andererseits die Betreuung zu verbessern. Die Strategie liegt auf der Hand: Ein Teil der stationären Ausgaben soll in den ambulanten Bereich umgeleitet werden, in der Hoffnung, dass sie dort nachhaltiger wirken und so Klinikaufenthalte verhindern. Sprecher Eine Tochterfirma von PINEL, die Krisenpension Hometreatment gGmbH realisiert die Integrierte Versorgung. Teilnehmen können Versicherte mit fast allen psychiatrischen Diagnosen. Bedingung ist, dass der Betroffene in den letzten zwölf Monaten mindestens einen Tag stationär behandelt wurde, oder regelmäßig ein Antidepressivum oder ein Neuroleptikum verordnet bekommt. Die Versorgung läuft nach dem skandinavischen "need adaptet treatment" - Konzept. Es geht dabei um eine bedürfnisangepasste Behandlung. O-Ton 10 Marius Greuèl Das Ganze ist auch hinterlegt in einem Qualitätshandbuch von PINEL und ist eben auch vorlagepflichtig gegenüber der Krankenkasse, die das dann entsprechend auch prüft und sagt, das ist ein qualitativ hochwertiger Ansatz, den wollen wir auch evaluieren. Sprecherin Tony, der Mann aus Berlin hat nach 10 Jahren Drehtürpsychiatrie beschlossen seine Krisen außerhalb der Klinik zu bewältigen. Im Rahmen des betreuten Einzelwohnens wird er von einer Sozialpädagogin unterstützt. Außer zum Psychiater geht er stundenweise zu einem Psychotherapeuten und einer Ergotherapeutin. Aber im Augenblick der Krise reicht diese Unterstützung nicht aus. Deshalb hat er zusätzlich den Vertrag mit PINEL, der dafür gedacht ist, genau diese Lücke zu schließen. Für ihn ist die Krisenpension besonders wichtig. O-Ton 11 Tony Na ja, die Krisenpension, das ist halt wie so eine Wohngemeinschaft, da sind mehrere Betreuer meistens schon auch ein Mann und ne Frau, oder oft, was natürlich auch zu dem Gefühl der Familie beiträgt. Und dann sind natürlich da mehrere Bewohner und ich und ich hab' das Gefühl und das ist da so, dass da einfach alles getan wird, dass man sich wohl fühlt und sich geborgen fühlt und aufgefangen fühlt also. Das habe ich dann auch irgendwann mal in Anspruch nehmen müssen und war sehr, sehr erstaunt, wie mir das gut tut und wie sehr ich mich stabilisiere, ohne meine Medikamentendosis zu erhöhen, was ja in der Klinik immer war. Und das war für mich natürlich schon ne sehr eindrucksvolle Erfahrung,ne. Sprecherin Vier Mitarbeiter von PINEL sind auf unterschiedliche Art und Weise für Tony da. Sebastian Bowe, Psychologe und erster Bezugsbegleiter, ist zwischen 9 Uhr und 17 Uhr telefonisch erreichbar und wenn nicht, ruft er binnen 24 Stunden zurück. Eine Behandlung, die sich an den Bedürfnissen des Klienten orientiert, setzt eine solide Vertrauensbasis voraus und eine andere Gesprächskultur als den üblichen Hilfeplan- Dialog. O-Ton 12 Sebastian Bowe Es ist ein sehr wichtiges Ziel, dass wir mit den Klienten individuelle Wege erarbeiten, wie man Krisen gestalten kann, wie man durch Krisen kommt, wie man Krisen verhindert, bevor sie, bevor man's nicht mehr stoppen kann. Und da spielen dann wichtige Personen aus dem Umfeld ne Rolle. Und da ist es auch sehr zentral, dass wir dann nicht diejenigen sind, die immer die Lösung parat haben sondern das, was funktioniert, meistens in irgendeiner Form aus dem Netzwerk der Klienten kommt, oder von den Klienten selber. Sprecherin Annegret Kühl ist die zweite Bezugsbegleiterin von Tony, für den Fall, dass Sebastian Bowe nicht da ist oder die Betreuung intensiver wird. Sie war selbst psychisch krank und hat in der einjährigen EX-IN-Ausbildung gelernt, eigene Erlebnisse und Erkenntnisse für die professionelle Begleitung zu nutzen. EX-IN ist ein spezielles Qualifizierungsprogramm für Psychiatrie-Erfahrene. O-Ton 13 Annegret Kühl Ich mache immer wieder die Erfahrung ganz positiv, dass, wenn ich sage, ich kenne das, ich bin da auch durchgegangen, dass das sehr viel Mut macht, dass das sehr viel Hoffnung weckt und ein Vertrauen darin, dass die Krise ein Ende haben wird. Also da bin ich ein Stückchen, Hoffnungsträger oder so jemand, der da in besonderer Weise in der Lage ist, Mut zu machen, nicht aufzugeben. Sprecherin Eine Krise kündigt sich an: bei dem einen durch starke körperliche Schmerzen, bei dem anderen durch Schlafstörungen. Verzweiflung oder Angst steigen, oft findet eine Form von Rückzug statt. Die Auslöser und Anzeichen der Krise erkennen und dann sofort das Gespräch mit den Bezugsbegleitern suchen, ist der erste Schritt zur Veränderung. O-Ton 14 Tony Momentan ist es so, dass ich mittlerweile gelernt habe, verschiedene Situationen lösen bei mir dann ne Krise aus, das kann sein starker Stress oder familiäre Probleme oder so was. Also, da bin ich jetzt schon so weit sensibilisiert, dass ich sage, dass ist jetzt nicht egal. Damals war das so: ins Krankenhaus zu kommen, das war wie so aus dem aus dem Nichts. Mittlerweile ist mir schon klar, was die Krisen dann immer auslöst, das ist ja meistens immer das Gleiche. O-Ton 15 Sebastian Bowe Manchmal hat es dann auch mit bestimmten Terminen zu tun, vor denen man noch mal sich rückversichern will und ein Beispiel wäre, man bespricht: Okay, ich hab' Angst vor dem Wochenende, wie ich da durchkomme, und dann überlegt man, was da hilfreich sein kann, ob es zum Beispiel ne gute Idee, ist am Samstagabend in die Krisenpension zu gehen, und dort einfach mitzukochen und mitzuessen und danach wieder nach Hause oder, ob man hingeht und auch dort übernachten will oder gerade bei verlängerten Wochenenden, wie man das überbrücken kann. O-Ton 16 Annegret Kühl Es kann sein, dass der Klient mitten in der Nacht ganz plötzlich in eine Krise gerät und die Hotline anruft, unsere Notfallnummer und dann ein Kollege am Telefon ist, mit dem ein Entlastungsgespräch führt, und möglicherweise muss dann auch der Klient aufgesucht werden, oder es wird vereinbart, dass die Krisenpension als Rückzugsort auch eine Möglichkeit ist. Dann wird der Bezugsbegleitet unmittelbar informiert. Am nächsten Morgen weiß der Bescheid, dass der Klient in der Krise ist und was passiert ist, und nimmt dann an diesem Tag auch sofort Kontakt auf und schaut dann, was passiert weiter. Sprecher Die Krisenpension ist keine therapeutische Wohngemeinschaft, sondern ausschließlich als Rückzugsraum für die Ausnahmesituation der Krise gedacht. Für 940 eingeschriebene Klienten stehen 9 Plätze zur Verfügung. Für die Betreuung gilt: Ein Vollzeit-Mitarbeiter ist erster Bezugsbegleiter für 40 Klienten, das bedeutet Rufbereitschaft in normalen Zeiten und volle Präsenz in der Krise. Um das leisten zu können, werden Teams gebildet und auch alle leitenden Mitarbeiter - außer den Geschäftsführern - in die Betreuung einbezogen. Der Vorteil für die Techniker Krankenkasse liegt vor allem darin, dass die Kosten kalkulierbar werden, weil sie pro Patient einen festen Betrag an PINEL bezahlt. Marius Greuèl. O-Ton 19 Marius Greuèl In der Regel ist es eine Fallkomplexpauschale, da ist alles mit drin, was wir benötigen, sowohl für die Netzentwicklung also auch für die Vorhaltung von Mitarbeitern, für die direkte Betreuung, für den 24 Stunden Hintergrundsdienst, für die Bereithaltung auch von Kapazitäten von niedergelassenen Ärzten, wenn die Termine freihalten und die Pauschale liegt durchaus niedriger als das, was man im Krankenhaus ausgeben würde. Sprecherin Die Integrierte Versorgung soll stationäre Behandlung, ambulante Pflege und Soziotherapie ersetzen. Für den Fall, dass ein Klient oder eine Klientin doch einmal in der Klinik behandelt werden muss oder möchte, hat PINEL mit einigen Kliniken Kooperationsverträge ausgehandelt. Überschreiten die Kosten für den Klinikaufenthalt die Pauschale, übernimmt die Kasse den Rest. Für die Betroffenen ist das vor allem am Anfang der Zusammenarbeit eine zusätzliche Sicherheit. O-Ton 20 Tony Die Klinik war für mich schon auch, man will's ja nun nicht glauben, ein Schutzraum. Man ist ja auch geschützt, man ist zwar eingesperrt, man kann zwar nicht raus, aber wer anders kann auch nicht so einfach rein. Sprecherin Tony hat sich vor anderthalb Jahren für die Integrierte Versorgung entschieden und war seitdem nicht mehr in der Klinik. Sprecher PINEL hat inzwischen den Vertrag "Netzwerk Psychische Gesundheit" auch mit anderen Krankenkassen für ganz Berlin und Brandenburg abgeschlossen. Der Beginn in Berlin war ein Heimspiel, aber im brandenburgischen Hinterland flächendeckend Krisenräume, wirtschaftlich arbeitende Teams und eine Versorgung von derselben Qualität auf die Beine zu stellen, das wird die entscheidende Bewährungsprobe für die gemeinnützige PINEL GmbH. Musik Sprecherin Die Krankenkassen experimentieren mit verschiedenen Modellen der Integrierten Versorgung von psychisch kranken Menschen, mit gemeinnützigen und auch mit gewinnorientierten Geschäftspartnern. Nach dem Arzneimittelneuordnungsgesetz der schwarzgelben Bundesregierung sind sogar Versorgungsverträge mit Pharmafirmen explizit erlaubt. Sprecher Die AOK-Niedersachsen hat im Oktober 2010 mit der I3G, einer einhundertprozentigen Tochter der Pharmakonzerns Janssen-Cilag den Vertrag "Integrierte Versorgung Schizophrenie" für ganz Niedersachsen abgeschlossen, Laufzeit 7 Jahre. Die Krankenkasse veranschlagt die voraussichtlichen Ausgaben für die 13.000 Versicherten mit der Diagnose Schizophrenie in der psychiatrischen Regelversorgung mit 52 Millionen Euro im Jahr. Gelingt es der Pharmafirma, die Patienten kostengünstiger zu versorgen, teilen sich AOK und I3G die Differenz. Das Unternehmen bekommt seinen Anteil als Prämie ausbezahlt. Diese Summe wird dem Budget der Pflichtversicherung entnommen und geht der Solidargemeinschaft verloren. Sprecherin Allerdings ist die Teilnahme an der Integrierten Versorgung freiwillig. Das bedeutet, die Firma muss nun die 13.000 Betroffenen davon überzeugen, den Vertrag abzuschließen. Ein Weg führt dabei über den behandelnden Psychiater, der in diesem Versorgungsmodell das Fallmanagement übernimmt und dafür ein höheres Honorar bekommt. Von den geschäftlichen Vereinbarungen im Hintergrund erfahren die Versicherten allerdings nichts, denn privatrechtliche Verträge dürfen geheim gehalten werden. Transparency International hat deshalb grundsätzliche Bedenken gegen diese Neuerung im Gesundheitssystem. Angela Spelsberg O-Ton 21 Angela Spelsberg Bei der Debatte um die integrierte Versorgung steht im Hintergrund die Sorge, die wir haben, dass es gelungen ist, die Partikularinteressen von Herstellern oder einzelnen Leistungsanbietern oder Finanzinvestoren so geschickt zu verdecken, dass der Patient meint, er hat es mit am Allgemeinwohl orientierten Konzepten zu tun. Und diese Unterscheidung, wenn die in einem Gesundheitswesen nicht mehr möglich ist, dann sind wir an einer sehr gefährlichen Stelle. Und wir müssen versuchen alles offen zu legen und, wo Partikularinteressen, Allgemeinwohlinteressen verdrängt haben, diese wieder zurückzudrängen. Sprecherin Janssen-Cilag stellt einige der gängigsten Neuroleptika her, also genau die Medikamente, die Menschen mit der Diagnose Schizophrenie verschrieben bekommen. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie befürchtet, dass die Pharmafirma durch das Engagement in der Versorgung die Möglichkeit hat, den Einsatz von Neuroleptika unabhängig von der therapeutischen Notwendigkeit zu sichern oder zu steigern. Daher sammelten die Sozialpsychiater 6000 Unterschriften gegen den Vertrag und fordern von der Bundesregierung die Rücknahme der Gesetzesnovelle. Die AOK verspricht ein Arzneimittelcontrolling. Bei Umsatzverschiebungen zugunsten von Janssen-Cilag oder Mengenausweitung, könne der Vertrag gekündigt werden. Das sei aber nicht zu erwarten, meint Frank Preugschat von der AOK-Niedersachsen. O-Ton 22 Frank Preugschat Da würden sie sich ja ein Eigentor schießen, weil sie treten ja dort bewusst als I3G und nicht als Janssen-Cilag an, weil sie ein neues Geschäftfeld im Rahmen des Konzerns auch aufbauen wollen, würden Sie dieses jetzt nutzen, um einfache Marketingmaßnahmen für ihre Arzneimittel durchzuführen, dann wäre an der Stelle das Geschäftsfeld integrierte Versorgung für den Konzern zu Ende. Das können die sich an der Stelle gar nicht leisten und das ist auch nicht deren Intention. Sondern deren Intention ist es bewusst, so wie der Mutterkonzern in den USA aufgestellt ist, hier halt auch sich vom reinen Arzneimittelgeschäft zu lösen und sich neue Geschäftsfelder zu erschließen. Sprecher Der Mutterkonzern Johnson & Johnson vertreibt außer Medikamenten weltweit auch Medizintechnologie. Die Tochter der Tochter, die I3G GmbH - I3G steht für "Institut für Innovation und Integration im Gesundheitswesen", spezialisiert sich auf das Geschäftsfeld "integrierte Versorgung". Die Kooperation mit der AOK im Bereich Psychiatrie ist sozusagen das Pilotprojekt. Für die Umsetzung des Vertrags braucht das Unternehmen einen Kontaktmann zu den bestehenden psychiatrischen Strukturen Niedersachsens. Sprecherin Und findet Dr. Matthias Walle, einen angesehenen Psychiater mit Hang zur Gründung von GmbHs. Bereits Geschäftsführer des Ärztenetzwerks Innohealthcare und eines Medizinischen Versorgungszentrums steigt Matthias Walle gerade selbst ins Geschäft mit der Integrierten Versorgung ein und hat für die Zusammenarbeit mit der Techniker Krankenkasse die IVP-Networks GmbH ins Leben gerufen. Als ihm die I3G anbietet, für sie die" Integrierte Versorgung Schizophrenie" zu realisieren, gründet er eine weitere Firma die care4Schizophrenia oder care4S. Sprecher Matthias Walle holt auch einen Finanzier an Bord, die Schweizer Investmentgesellschaft Turgot Ventures AG. Einer der Eigentümer dieser Firma hat 20 Jahre für die Boston Consulting Group gearbeitet, einer einflussreichen Beraterfirma, die sich gegenwärtig intensiv mit dem deutschen Gesundheitswesen beschäftigt und zu diesem Thema auch Seminare veranstaltet. Schauplatz ist ebenfalls Niedersachsen: die öffentliche Stiftungsuniversität Leuphana in Lüneburg. Angela Spelsberg von Transparency International. O-Ton 23 Angela Spelsberg Und dass wir hier an einer Fakultät, die gar keine Gesundheitswissenschaft eigentlich hat, dass hier plötzlich, nicht von Fachgremien kontrolliert ein Zweig entsteht, der sich um die Evaluation von Gesundheitsprojekten kümmert. Das finden wir auch sehr bemerkenswert und das finden auch Studenten dort sehr bemerkenswert und wir haben durch Kontakte zur Studentenschaft da auch Detailinformationen, wie an den Gremien, an allen Kontrollinstanzen vorbei, wie ein solcher Inkubator sich dort etablieren konnte. Sprecherin In den Leitungsgremien der Leuphana sitzen ebenfalls Ex-Mitarbeiter von Boston Consulting. Dort sollen im Rahmen des EU-Projekts "Innovations-Inkubator" ambulante Versorgungsnetzwerke für psychisch kranke Menschen konzipiert und ausgewertet werden. Erklärtes Ziel des Forschungsvorhabens ist es "Innovative Geschäftsideen innerhalb von bis zu drei Jahren zur Marktreife zu entwickeln". Die AOK und die I3G haben allerdings eine eigene Evaluation in Auftrag gegeben und sich Anfang des Jahres von Dr. Walle, Turgot Ventures und deren Care4Schizophrenia getrennt, indem sie kurzerhand eine zweite Firma gleichen Namens gründeten. O-Ton 24 Frank Preugschat Wir haben jetzt im Rahmen der Pilotierung festgestellt, dass dieses Konstrukt nicht so optimal war, weil einfach zu viele Beteiligte jetzt an der Versorgung dran waren, insofern ist jetzt die Care4S direkt an die I3G als Tochterunternehmen angedockt worden und von den Personen dort auch noch mal besser aufgestellt worden, strukturierter aufgestellt worden, so dass wir jetzt auch in der Lage sind, flächendeckend hier ein Netzwerk, dann aufbauen zu können. Sprecher Bisher haben 450 der 13.000 Betroffenen den Vertrag mit der Care4S abgeschlossen. Ersten Berichten aus der Praxis zufolge kennen sich die Mitarbeiter der Care4S, die die Beteiligten vor Ort beraten sollen, weder in den Regionen noch in der Psychiatrie besonders gut aus. Das Projekt "Integrierte Versorgung Schizophrenie" hat also für die Pharmafirma den Wert einer "first-place-then-train"-Maßnahme, die Personal und Strukturen ausbildet. Musik Sprecherin Während in Niedersachsen die privatwirtschaftlichen Player ihre Claims abstecken, gründen in vielen anderen Bundesländern erfahrene Akteure aus der Gemeindepsychiatrie gemeinnützige Managementgesellschaften, um die integrierte Versorgung für die Krankenkassen, die sie anbieten zu realisieren. Eventuelle Gewinne oder Einsparungen bleiben der Solidargemeinschaft erhalten. Die ersten Erfolge machen deutlich, wie notwendig es wäre, Psychiater, Soziotherapie und ambulante psychiatrische Pflege auch in der Regelversorgung angemessen zu bezahlen, um eine ausreichende ambulante Behandlung und Krisenbegleitung für alle psychisch kranken Menschen zu ermöglichen. Das ist bisher nicht geplant. Was bleibt? Die Hoffnung auf Krankheitseinsicht - compliance - bei den Gesundheitspolitikern. O-Ton 25 Tony Und mittlerweile lebe ich halt schon wieder anders, dass ich sage also, okay diese Ziele mit Arbeit, Familie und so weiter, das ist zwar noch in weiter Ferne aber ich kann es zumindest in weiter Ferne schon mal sehen. Sprecher vom Dienst Achtung, Sie verlassen den stationären Sektor! Im Wunderland der ambulanten Psychiatrie Eine Sendung von Cornelia Braun Es sprachen: Julia Brabandt und Robert Frank Ton: Bernd Friebel Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur, 2012 1 1 2012- 09-17 C Braun Psychiatrie.doc 17.09.12