Chanson francaise Der Duft der Straße Sendung: Literatur / 05.02.2012 - 00.05 Uhr (Wdh. v. 20.07.08 / 00.05 Uhr) Von Ruthard Stäblein Redaktion: Barbara Wahlster COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. 1 Charles Trenet: Y a d´la joie, tr.13 Ab 14" bis 26" Sprecher 1 Die Lust, mit der Charles Trenet singt, ist ansteckend. Da kommt Freude auf. Ohne Umwege, unmittelbar. Trenet hat die bekanntesten seiner Chansons selbst komponiert und auch gedichtet. Ihm wird nachgesagt, er sei nie einem Refrain hinterhergelaufen. An den Reimpaaren fällt auf, dass sie ungemein schlicht sind. Und dass sich ihr Autor weniger um die Realität als um den Klang kümmert: 2 Charles Trenet: Y a d´la joie, tr.13 0´55 - 1´08 Sprecher 1 In Wirklichkeit taucht die Pariser Metro nicht aus der Station Javel , sondern aus der von Passy auf. Aber der Reim von Javel auf "Tunnel" klingt gut, einfach und überraschend. Vielleicht ist das das erste Geheimnis des französischen Chansons, das Reimgebot. Denn: Einen Refrain, der sich reimt, kann man sich gut merken. Und die französische Sprache reimt sich leicht, leichter jedenfalls als die Deutsche. Schon allein durch die Betonung auf der Endsilbe. Der ungeheuer lange Aufschwung des französischen Chansons der letzten Jahrzehnte beruht vielleicht auch darauf, dass die Texter keine Schwellenangst vor dem schlichten, ja billigen Reim haben: Sprecher 2 (vielleicht auch Sprecher 3) "Die Verse des Chansons sollen eigenartiger Weise platt sein, weil sie für den Schmuck, für den melodischen Schal, für die Musik, die sie belebt, Raum lassen müssen, für den Rhythmus, der sie groß macht und den Versen erst ihren vollen poetischen Gehalt verleihen" Sprecher 1 Sagt ein Historiker des Chansons (Claude Duneton). Das Phänomen kommt einem bekannt vor. Opern-Libretti sind ebenfalls häufig simpel. Allein, ein Chanson dauert um die drei Minuten. Und so muß der Text kurz und das einzelne Wort formelhaft sein und doch exakt passen. Von einer Dichte, die den Chansontext wieder in die Nähe des Gedichts rückt. Der Ich-Erzähler im Roman "Die Möglichkeit einer Insel" von Michel Houellebecq hat das erfaßt, als er in einer Madrider Tapas-Bar im Radio ein Lied hört : Sprecher 2 "Der Refrain lautete: "mujer es fatal", und dab ei wurde mir klar, dass ich eine so einfache, so kindische Feststellung noch nie in so zutreffender Formulierung gefunden hatte, und dass Lyrik, wenn sie einen einfachen Ausdruck fand, wirklich etwas Großartiges war." (Üb: Uli Wittmann) Sprecher 1 "Frau ist fatal" - "mujer es fatal" - Eine Formel kann einen Roman, zumindest einen von Houellebecq auf den Punkt bringen, wenn nicht gar ersetzen. Sobald eine Sentenz im Refrain gesungen wird und sich auch noch reimt, ist der Effekt durchschlagend. 3 Edith Piaf: Non, je ne regrette rien; Bis 0´56 Dieser eine Refrain umfasst ein Leben, das Leben von Edith Piaf. Die lieblose Kindheit in den Straßen von Paris. Die Liebessucht und die Männerflucht bis zum nächsten Liebhaber, wieder bei Null neu anfangen. Die Begierde und das Aufbegehren. 1960, drei Jahre vor ihrem Tod, hat Piaf, haben vielmehr der Textdichter Michel Vaucaire und der Komponist Charles Dumont diesen Refrain Piaf auf den Leib geschrieben. - "Ich bedaure nichts". - Aber das Entscheidende hat Edith Piaf mitgebracht: die Stimme und das Gefühl. 4 Edith Piaf: Les momes de la cloche; CD1 tr.13 0´34 - 1´06 Sprecher 3 "Ihre raue Stimme, vibrierend, von unnachahmlicher Ergriffenheit, die wie eine Klage tönt, anschwillt und wieder schwächer wird, schluchzt, stöhnt oder schreit. Die unkontrollierte Glut der Straßengöre" Sprecher 1 Schreibt eine ihrer Biographinnen (Joelle Monserrat). ((((Piafs Vater war Säufer, die Mutter ließ sie allein bei diesem Vater, mit 15 haute sie ab, sang tatsächlich auf den Straßen von Paris, bis sie an einer Ecke entdeckt wurde von einem älteren Herrn fürs cabaret. Sie stellte sich vor mit"Edith Gassion". Er benannte sie gleich um in "La mome Piaf", die Göre Piaf. )))) 5 Edith Piaf: "Je m´en fous pas mal" CD 1, tr. 7 ab 0´36-0´52 Diese "Straßengöre" sollte alle Facetten des französischen Chansons durchspielen in kurzen Balladen und Träumen vom kleinen und großen Glück. Piaf beherrschte alle Register vom Melodrama der enttäuschten Liebe bis zum populären Straßenwalzer, der Java im 3/4 Takt - die beim " Bal Musette" getanzt wurde . In ihre Aufnahmen werden erstmals Alltagsgeräusche integriert. Im Lied von dem armen Straßenmädchen, das mit einem flüchtigen Liebhaber von der Rue Pigalle bis zum Montmartre zieht und nach kurzem Glück wieder zurückkehren muss. 5b Edith Piaf "Elle fréquentait la rue Pigalle" 3´00 bis ende; Geräusche bereits unter den Text legen; die Aussage am Ende frei stehen lassen) Sprecher 1 Edith Piaf sang sich hoch vom niedrigen Straßenelend bis hin zum Pathos im Soldatenlied und zur revolutionären Hymne: 6 Edith Piaf: "ca ira" CD2 tr.13 Sprecher 1 Die Melodie von "ca ira" gefiel zuerst Marie-Antoinette, der letzten Königin von Frankreich. Der Gehalt des Liedes wurde ihr Schicksal. Sie bekam den Hass des Volkes zu spüren, auf der Guillotine. Wichtiger als die Melodie dieses revolutionären Gesanges ist das Pathos, mit dem es gesungen wird, ein spezifisch französisches Pathos. Wenn französische Fischer heute gegen die Benzinpreise demonstrieren, fühlen sie sich als direkte Nachfahren der Jakobiner. Wenn sie ihre Leuchtraketen anzünden in den Straßen von Paris, dann spürt man noch immer den Hauch der großen Revolution von 1789. Der Groll gegen die Ordnung verbrüdert sich mit dem Glauben an die eigene Macht und Kraft. Diese Leidenschaft für die Verbrüderung auf der Straße ist gleichsam historisch immer wieder getestet worden und damit verbrieft und verbürgt. 1789, 1848, 1871, 1968 sind Eckdaten der Pathospflege. Jeder Franzose erinnert sich daran, als wäre er selbst dabei gewesen, als führte er wie der kleine Gavroche die Dame Liberté persönlich an der Hand, wie im Bild von Delacroix und im Roman "Die Elenden" von Victor Hugo. Auch wenn die Siegesstimmung jeweils nur kurz anhält, man erinnert sich an die Barrikaden und weniger an die je folgende Depression. Darin liegt der wesentliche Unterschied zur deutschen Mentalität, die von Kleinmut, aber auch von Wachsamkeit geprägt ist. Seit Goebbels die Diktion des hehren Dichters Stefan George und des Schauspielers Heinrich George eingeübt hat - und seit diese Rhetorik nach der Niederlage des Nazismus entlarvt worden ist, ist der pathetische und hymnische Ton in Deutschland verdächtig. In Frankreich ist dagegen Pathos allseits erlaubt, ja erwünscht. Besonders im Theater und im französischen Chanson. Die politische Grundierung dieses Überschwangs scheint kaum mehr durch, wenn etwa Juliette Gréco zu singen anfängt. Das Politische wird privat und nur noch als ein fernes Grollen hörbar: 7 Julliete Gréco: Je hais les dimanches 0´7 - 0´48 Bei dieser Aufnahme von 1951 spürt man noch Juliette Grécos Akzent des Midi, des Südens. Sie ist 1927 in Montpellier geboren. Der Vater ist abwesend, wie Edith Piafs Vater. Nach der Scheidung der Eltern wächst sie bei den Großeltern auf. Schließlich zieht sie mit der Mutter nach Paris. Die wird als Widerstandskämpferin von den Nazis verhaftet. Wie Juliette selbst, die als 15-Jährige das Gefängnis von Fresnes kennen lernt. Juliette Gréco ist zum Inbegriff des Bürgerschrecks geworden. "Das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren, der schwarzen Kleidung und der blassen Haut" wurde über Nacht berühmt durch ein Zeitungsfoto aus dem Künstlerclub "Tabou" in Saint- Germain des Prés. Dort traf sie sich mit Albert Camus, Boris Vian, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, der für sie den Chanson-Text zu Les Blancs Manteaux schreibt. Eine Straße von Paris, in der zur Zeit der Französischen Revolution die Guillotine stand und die Hocharistokratie geköpft wurde. 8 Juliette Gréco: Les Blancs Manteaux (2. Strophe) Sprecher 2 In der Straße der Weißen Mäntel Ist der Henker früh aufgestanden Denn er musste malochen Musste die Generäle, Die Admirale, die Bischöfe köpfen In der Straße der Weißen Mäntel Sprecher 1 Dieses Loblied auf die revolutionäre Gewalt hielt der Dichter dieses Chansons sein Leben lang durch. Köpfe müssen rollen, Blut muss fließen. Sartre sagt nichts Ungewöhnliches in einer Republik, die auf dem Aufstand ihrer Bürger beruht. Juliette Gréco ist diesem Enthusiasmus für die Revolution treu geblieben, auch wenn sie vor kurzem in einem Radiointerview die Idee etwas weichspülte: Sprecher 3 "Eine gute, tief greifende Revolution ohne Blutvergießen scheint mir heute notwendig zu sein." Sprecher 1 Und in ihren Erinnerungen erzählt Gréco, wie sie mit dem schwarzen Jazzmusiker Miles Davies liiert war und in einem Hotel vom Chef schief angeschaut wurde. Nur ihr allein reicht er die Hand zur Begrüßung: Sprecher 3 "Da nahm ich die Hand des Chefs und spuckte rein." Sprecher 1 Dieser Geist der Revolte prägt das französische Chanson von seinen Anfängen bis heute, von den Spottliedern des frühen Mittelalters über den Bänkeldichter Francois Villon bis hin zu Marc Lavoine, der 1996 sein Chanson " C´est ca la France" - "So ist nun mal Frankreich" auf den Markt brachte: 9 Marc Lavoine: C´est ca la France 1. Und letzte Strophe plus Refrain am Ende Sprecher 2 "So ist nun mal Frankreich. Das trinkt den kleinen Mokka oder Weißwein Das sucht das Gerangel und häufig Arbeit Das erhebt die Faust, das bewegt sich, das bleibt in der Demo stecken Das geht jeden Samstag shoppen. Die Bullen sind trotzdem nicht schlecht, das haut auf die Rübe, Das heizt ein beim Tanz, ich gehe zurück in die Kasbah, So ist nun mal Frankreich Wir sind alle Brüder nach der Erklärung Schließlich denk ich, man darf nie vergessen, Die drei Wörter, die mit Te enden." Sprecher 1 Mit den 3 Wörtern meint Marc Lavoine "Liberte, égalité, fraternité" - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", den Kitt der Nation oder zumindest den Glauben daran, die Inschrift über jedem Rathaus, das Pathos in der Diktion des französischen Präsidenten, das jeden 14. Juli aufgewärmt wird, das man in jedem Herbst spürt, wenn die Gewerkschaften in Paris zwischen place de la Bastille und place de la République ihre Messe halten und den Verkehr lahm legen. Das Erhabene, das so leicht ins Lächerliche abrutscht und wiederum Zielscheibe des Chansons wird. Am Schluß seines Spottlieds "Fernande" geht Georges Brassens, nachdem er eine Reihe von alten geilen Männern an sich vorbeiziehen ließ, über die champs Elyees hoch zur place de l´Etoile, wo am Nationalfeiertag, am 14. Juli, am Grab des Unbekannten Soldaten ein Kranz niedergelegt wird und wo das ewige Licht der Franzosen leuchtet: 10 Georges Brassens: Fernande Tr.14 ab 2´26- 3´02 Sprecher 2 Am Etoile, wo ich hinging Um die Flamme wiederzubeleben Hörte ich, unter Tränen Die Stimme des Unbekannten Soldaten, wie er sang: "Denke ich an Fernande, Krieg ich einen Steifen, Einen Steifen, einen Steifen, Denk ich an Felici, Dann wird er auch steif, Denk ich an Léonore, Bleibt er immer noch steif, Aber denk ich an Lulu, Dann ist der Steife wieder weg, Denn das Steifwerden, Papa, Das kann man nicht befehlen!" Sprecher 1 Dieser abschwellende Bocksgesang von Georges Brassens auf das französisch Erhabene wurde in Frankreich nie verboten, auch nicht in den finsteren fünfziger Jahren, als man die erotischen Schriften eines de Sade oder Jean Genet nur unter der Ladentheke handelte. In Frankreich goutiert man nämlich seit den Trinkliedern des Mittelalters und seit Villon das Zotige und Obszöne, wenn es am richtigen Ort erscheint und in die richtige Form gefasst wird, wie im Chanson. Das Derbe, Deftige, Direkte, das Saftige, mit einem Wort, das Gallische, wird seit dem Auftauchen der "nouvelle cuisine" so verdünnt und neutralisiert, dass man sich schon gar nicht mehr vorstellen kann, dass es in der französischen "Zivilisation" einmal einen Zyniker wie Voltaire oder einen Esser wie De Gaulle oder eben einen Sänger wie Georges Brassens gab. Politisch bekannte sich Brassens zum Anarchismus. Sprecher 2 "Jeder trägt in seiner Brust eine schlummernde Revolte, man muß sie nur wecken" Sprecher 1 Sagte er. Mit seinem Auftreten mit Meerschaumpfeife, Moustache und Baskenmütze verkörperte Brassens indessen das populäre Frankreich schlechthin, die untersetzte Gutmütigkeit, das Leben und Leben lassen, eine gewisse Nonchalance sowie die Sehnsucht nach dem Garten aus Voltaires Erzählung "Candide" und dem Dorf der Heimat. 11 Georges Brassens: Auprés de mon arbre Tr. 8 2´46 - Schluß Sprecher 1 Georges Brassens wurde 1923 in Sète geboren. Dort, am Mittelmeer, wollte er auch begraben werden. Unter den Nazis war er Zwangsarbeiter bei BMW. Sein Erfolg ließ lange auf sich warten, bis er wie Edith Piaf und Juliette Gréco in den Weihestätten des Chansons aufgenommen wurde, bis er im "Olympia" und im "Bobino" auftreten durfte. 12 Georges Brassens: Chanson pour l´Auvergnat Tr.6 bis ca 0´40 Brassens war ein Gesamtkunstwerk. Er dichtete und komponierte seine Chansons selbst, er sang sie allein und begleitete sich selbst auf der Gitarre. Zuweilen zupfte im Hintergrund ein Kontrabassist, als Rhythmusmaschine, zur weiteren Beruhigung der Seele. Seine Verse sind raffiniert. Er legt es auf das Wortspiel an, die bei der Übersetzung leider ihren Wortwitz verlieren. Z.B. Sprecher 2 Ne jetez pas la pierre Sur l´adultère Je suis derrière. Werft nicht den Stein Auf die Ehebrecherin Ich stehe dahinter. Sprecher 1 Brassens´ Geschichten bieten überraschende Wendungen. Sie sind sehr literarisch mit Alexandrinern und Achtsilbern und genau kalkulierten Strophen und Rhythmen. Aber sie spielen irgendwie in einer archaisch anmutenden, vormodernen Welt des Märchens und der Mythen. Zu den Chansonniers der Großstadt, d.h. von Paris wurden eher Yves Montand, Moulodji und auch Jacques Dutronc mit seinem Lied über das erwachende Paris: 13 Jacques Dutronc: Paris s´éveille Tr.10 Anfang bis 0´30 besser bis 0´58 Sprecher 1 Die "Story" des Lieds klingt gerade noch zeitgenössisch. Mit den Lastwagenfahrern, Straßenkehrern und Transvestiten und Stripteasetänzerinnen. Auch wenn Paris heute viel später als 5 Uhr aufsteht. Die Geschichte dieses Chansons geht indessen auf das Jahr 1802 zurück. Da schrieb schon einmal ein heute völlig unbekannter Autor ein Lied mit demselben Titel "Il est cinq heures". Genau dieser Hit schlug etwa 50 Jahre später beim Dichter Charles Baudelaire ein. Sein Lyrikband "Fleurs du Mal" war gerade verboten worden. Da besann er sich auf neue Gedichte über das Alltagsleben in der Großstadt Paris, seine "Tableaux Parisiens", seine Pariser Bilder. Das Gedicht heißt bei Baudelaire "Le crépuscule du matin" und in der Übersetzung von Walter Benjamin: Das Morgengrauen Sprecher 2 Es war die Stunde wo sich unter Träumen Im Bett die braunen Knabenleiber bäumen Die Dirnen lagen farblos ihre Lider Ihr Mund geöffnet, stumpf im Schlaf danieder Ganz langsam zog im rosiggrünem Flore Am Seinequai herauf die frierende Aurore Und mürrisch nahm Paris, das sich dem Schlaf entwand In seiner Fron ergraut das Werkzeug in die Hand." Sprecher 1 Jacques Dutronc singt sein Chanson über das erwachende Paris im Mai 1968. Es bildet das doppelte Echo auf das Chanson von 1802 und das Gedicht von Baudelaire. Mit Baudelaire zog der Alltag der Großstadt in die moderne Lyrik ein. Und auch im Chanson kehrt das Straßenleben der großen Stadt immer wieder zurück, poetisiert wie bei Jean Gabin: 14 Jean Gabin et Léo Ferré 4. Track Sprecher 2 (über dem Gesang) blenden ab ca 0´42 Ach die Straße, das war schöner als ein Breitwandfilm. (Pause) Das Volk stellte sich an den Schaufenstern der Geschäfte auf. Die Farben vom zarten Grün bis zum Jakobinerrot bildeten eine Kette und erzählten sich als Musik Sprecher 1 So verklärt es Jean Gabin in einem musikalischen Hörspiel von Léo Ferré, 1951 aufgenommen für Radio Diffusion Francaise. Gabin erzählt im nostalgischen Ton von der Vergangenheit, als das Kino noch nicht die Straßen leer fegte und es noch eine Musik des Volkes gab. Gabin meint damit die dreißiger Jahre, die glorreichen Anfänge einer Edith Piaf. Seine Wehmut verfehlt jedoch die Weiterentwicklung des Chansons in Frankreich. Gerade in jüngster Zeit hat die Popularität des französischen Chansons deutlich zugenommen. In der Plattenindustrie lag der Anteil der auf französisch gesungenen Titel 1993 bei 44,7 %, 2001 schon bei 58 %. In den letzten Jahren soll der Anteil der Französischsprachigen Alben sogar noch weiter gestiegen sein. Das liegt sicherlich auch an den staatlich verordneten Quoten für die Radio- und Fernsehprogramme, für die ein hoher Anteil an französischen Produkten vorgeschrieben wird. Fernsehsendungen wie "Taratata" auf "France quatre" haben hohe Einschaltquoten und erstaunlicherweise auch ein hohes Niveau. Internationale Künstler treten dort zusammen mit französischen auf und - eine schöne Erfindung - singen gar live im Duett. Es liegt aber auch an der Kreativität der französischen Szene, an der literarischen Qualität der Chanson-Texte und am Publikum, das die zahlreichen literarischen Anspielungen als Ansporn versteht. Für die Gattung dieses anspruchvollen Songs gibt es im Französischen einen eigenen Ausdruck: "Chanson à texte". Die Gattung wird von Generation zu Generation weitergereicht, verändert, anders gepflegt. Der 1946 geborene Bernard Lavilliers legte 2005 ein Album vor, das auf ein Gedicht von Baudelaire Bezug nimmt. Da taucht die "Vorübergehende" aus Baudelaires Pariser Bildern bei Lavilliers als "Prinzessin der Straße" wieder auf. Baudelaires elegante Witwe mit dem majestätischen Gang inmitten der lärmenden Großstadtmenge ist bei Lavilliers tätowiert: 15 Bernard Lavilliers: L´été Carnets de Bord Tr. 3 Anfang bis ca 48" E: un Amour marginal Sprecher 1 Charles Baudelaire wird zur Referenz in diesem Sommerschlager von Bernard Lavilliers, einem ehemals rebellischen Chansonnier, der vor 20 Jahren noch den Untergang von Paris in dunklen und tristen Tönen besungen hat. Lavilliers beweist: Das Chanson ist performativ, flexibel, anpassungsfähig. Das heutige Publikum akzeptiert Hinweise auf die großen Namen der lyrischen Tradition. Bei genauerer Betrachtung erweist sich dann, dass Baudelaire in diesem Chanson lediglich wie eine Marke aufgerufen wird. Der Bezug zur Masse der Großstadt, aus der Baudelaires Vorübergehende auftaucht, geht völlig verloren. Lavilliers Szene spielt am Strand, im Sommer. Dennoch bewahrt Lavilliers eine gewisse literarische Qualität und Komplexität. Seine Prinzessin wird zur femme fatale, wenn der Mann, der ihr begegnet, sie nicht so akzeptiert, wie sie ist. Das wird in prägnanten Bildern ausgedrückt, wie sie dem Gedicht eigen sind. Am Beispiel von Lavilliers kann man hören, wie fließend die Grenzen zwischen Chanson und Schlager sind. Entscheidend für den Unterschied bleibt der literarische Anspruch. Im Chanson wird eine Geschichte erzählt, in der es auf jedes einzelne Wort ankommt. Im Schlager dagegen zählt weniger der Text als die Eingängigkeit der Melodie. In der Baudelaire-Bearbeitung origineller als Lavilliers war da vor Zeiten Léo Ferré, . 16 Léo Ferré: Le vin de l´assassin Anfang bis 14" ab 1´20-1´39 Sprecher 2 "Mein Weib ist tot, jetzt bin ich frei! Nun sauf ich mich um den Verstand Kam ich nach Haus mit leerer Hand, Zerriß den Nerv mir ihr Geschrei. Ich warf sie in ein Brunnenloch Und stieß ihr noch ins tiefe Grab Das Steingemäuer mit hinab Könnt ich sie nur vergessen doch." (Üb: W.R. Berger) Sprecher 1 Mit diesem Gedicht, das Elemente des Bänkellieds aufgreift, wurde Charles Baudelaire berühmt und berüchtigt. Es bot einen der Anlässe für das Verbot seines Gedichtbandes die "Blumen des Bösen" 1857. Léo Ferré adaptierte, vertonte und sang Gedichte von Baudelaire seit 1957. Ferré war mit den surrealistischen Dichtern Louis Aragon und André Breton befreundet. Wie die Surrealisten reizte ihn an Baudelaire das Diabolische, das Verfemte, der Geist des Aufbegehrens, wobei Ferré den Stoff der Gedichte frei interpretierte und umformte. 17 Léo Ferré: damnation Bei 18" blenden? Oder später Die Zeitgenossen von Baudelaire empfanden seine Anspielungen auf die lesbische Liebe als unmoralisch und krankhaft. Gerade dieser Aspekt faszinierte Ferré. Er wollte noch den Kleinbürger schocken. Ferré gehört zu den Vorbildern von Lavilliers und auch der jüngeren französischen Liedsänger. Die Mischung aus lyrischem Protest und derber Gossensprache bleibt bis heute attraktiv, wird jedoch nicht mehr so aggressiv vorgetragen wie bei Ferré. In der Generationenfolge ist interessant, wie und wo die Staffel übergeben wird. Die Generation von Ferré liebte den Protest, den Skandal und das Pathos. Sie wollte populär sein und pflegte einen sozialen Realismus. Ihre bevorzugten Orte waren Arbeiterviertel von Paris wie Belleville, die "faubourgs" von Baudelaire, wo der Wein billiger war. Die Generation der 70er und 80er Jahre war rauer und rockiger. Maxime Le Forestier oder Jacques Higelin wollten sich durch ihre harte Musik von der Angst des Alltags befreien. Sie siedelten über in die "banlieue", in die trostlosen Satellitenstädte von Paris. Sÿe bleÿben rebellisch, werden aber am Ende wie etwa Higelin, der sich damals über den Beicht- und Bekenntniszwang der Szene lustig machte, humorvoller: Sprecher 2 "In Gottes Namen, leere deinen Abfall woanders aus als in meinem Kopf oder in meinem Bauch! Man kippt seinen Dreck bei den anderen aus anstatt Verantwortung zu übernehmen. Ich bin kein Held, aber ich habe seit meiner Kindheit eine solide Dosis an Lebensfreude mitbekommen". Sprecher 1 Und die läßt sich Higelin durch keine Verbote nehmen: 18 Higelin: cigarette Bis bis 1´08 Sprecher 1 Nach Higelin, Renaud und Lavilliers kommt in Frankreich die Generation der Rapper in den 90er Jahren. Der "Hass" wird zum Kampfruf der Ausgegrenzten und Chancenlosen, der Enkel der Einwanderer aus dem "Maghreb", also aus Nordafrika. In den weiter abgelegenen Vorstädten von Paris, la Zone genannt, brennen die Autos. "Bei lebendem Leib die Haut abgezogen", so fühlen sich die Protagonisten der Gruppe "Noir Désir", "Schwarze Begierde". Doch Nor désir pflegt auch leisere Töne des Fernwehs. 19 Noir désir: Le vent Ca 1´00 Sprecher 1 Direkt anschließend an diese heiteren Schwingungen von Noir Désir verschaffen die Liedertexter der so genannten "Nouvelle Scène francaise" dem Chanson seit der Jahrtausendwende einen immer noch andauernden Aufschwung. Benjamin Biolay, Vincent Delerm, Jeanne Cherhal, Bénabar heißen ihre Stars. Benjamin Biolay ist wohl der Fleißigste in dieser Nouvelle Scène. Gerne mischt er in seine Stücke O-töne aus Hollywoodfilmen. Er liefert auch Texte für andere der Gang. Biolay gehört zur Generation Golf. Er langweilt sich und verliert sich in schlechter Melancholie, genauer in Wehleidigkeit. Wortspiele bilden bei ihm nur Geplänkel. Sein schwacher Minimalismus ist ein Produkt des falsch verstandenen Strukturalismus, der nur auf gute Formen achtete, jedoch keinen Inhalt, bzw. Gehalt zu bieten hat. Eine strikte Abfolge von Generationen gibt es in Wirklichkeit nicht. Die Alten oder wenigstens einige Alte leben noch weiter. Wie z.B Renaud, der sich über diese Benjamin Biolays und Vincent Delerms und ihre Generation lustig macht, diese Bohemiens bourgeois, die Bürgerbohemiens, Bobos: 20 Ab 1´15 Sprecher 2 Die Bobos, die Bobos, Sie lesen Houellebecq oder Philippe Djian, Auf ihrem Nachttisch liegt Cioran Neben dem Ikea-Katalog Sie lieben japanische Restaurants Und das koreanische Kino Sie verbringen ihre Ferien in Cap Ferrat Die Cote d´Azur, die zieht runter Sie schauen vor allem Arte Canal Plus ist für die Prolls Außer für die Spiele von Paris Saint-Germain Und gelegentlich für einen kleinen Porno Sprecher 1 So genau kann nur einer beschreiben, der selbst irgendwie zur Szene der Bobos gehört, wie Renaud am Ende des Chansons freimütig und selbstironisch bekennt. Die Vertreter der "Nouvelle scène" oder "Nouvelle vague" oder eben "Nouvelle Chanson", wie sie auch noch bezeichnet werden, die Hauptsache "neu" ist dabei - beziehen sich nicht mehr auf die großen Dichter und das Pathos der hehren Ideen. Sie sind im Alltag angekommen. Vincent Delerm z.B. erzählt wie er seine Abende mit der Filmschauspielerin Fanny Ardant verbringt. Am Ende stellt sich heraus, er trägt ihr Foto immer bei sich. 21 Vincent Delerm Tr. 1 "Fanny Ardant et moi" Sprecher 1 Vincent Delerm nimmt triviale Alltagsgegenstände in seine Chansons auf, wie hier ein Foto von Fanny Ardant. Das Beiläufige und Banale steht im Mittelpunkt. Floskeln werden zu tragenden Elementen des Strophenbaus, wie bei Jeanne Cherhal, die an anderer Stelle ihr Publikum mit den jüngsten Erfahrungen ihrer Monatsblutung unterhält. 22 Jeanne Cherhal Generation francaise Tr. 5 Ab 1´36 (et voila, voila, voila) Ca 7 " Sprecher 1 Die Repräsentanten dieser "Nouvelle vague" oder "scène" verbindet neben der Vorliebe für die kleinen Dinge des Alltags ein Hang zu schönen Melodien, geschlagenen Gitarrenakkorden, leichten, eingängigen Rhythmen. Sie haben nichts gegen die Traditionen, im Gegenteil, sie setzen am Realismus der 50er Jahre an und pflegen im besten Fall auch die Lässigkeit und Sorglosigkeit eines Charles Trenet, wie Bénabar. Er ist 1969 in einer südlichen Vorstadt von Paris geboren. Sein Spitzname Benabar ist ein Wortdreher des Vornamens Barnabe. Eine Verdrehung der Wörter, das "Verlan", das Pariser Jugendliche mögen. Benabar ist drollig und verspielt. Seine Musik nimmt die Traditionen der Bälle zum 14. Juli auf den kleinen Plätzen der faubourgs von Paris wieder auf. 23 Bénabar: Quatre murs et un toit Wo/Numerierung Tr. 6 1. Strophe Sprecher 1 Unter den jüngsten Phänomen des französischen Chansons fällt eine Stimme besonders auf, die von Carla Bruni. Für ihr Album "Quelqu´un m´a dit", das 2002 herausgekommen ist, hat sie alle Titel selbst geschrieben und komponiert. Sie beherrscht die Regeln der französischen Metrik, selbst die Schwierigkeiten des Alexandriners machen ihr nicht zu schaffen. Sie kann reimen und sie kann vor allem singen. Die Tochter eines Komponisten und einer Klavierspielerin verfügt über eine suggestive, feine Stimme. Manches wirkt zu glatt und geölt, zu epigonenhaft. Anderes wieder frech und herausfordernd: 24 Carla Bruni "Je suis excessif" Tr. 10 ab ca 2´15 Sprecher 1 Carla Bruni hat nur dieses eine Album "Quelqu´un m´a dit" auf französisch realisiert. Danach noch eines auf englisch. Und dann war leider Schluß. Carla Brunis Wortwitz bildet das letzte Glied in einer langen Kette der französischen Traditionen. Durch die Freude am Wortspiel werden Begebenheiten des Alltags zu kleinen Gedichten umgeformt. Das ist ein Kennzeichen des klassischen Chansons. Wie in diesem Spiel von Claude Nougaro aus dem Jahr 1981 mit den verschiedenen Bedeutungen von sous/Saoul. Also von "unter" und "betrunken", von con als Blödmann und Möse. 25 Nougaro Wo Numerierung Je suis sous Sprecher 1 Claude Nougaro ist 1929 in Toulouse geboren und dort 2001 gestorben. (((Er liebte seine Heimatstadt mit dem Fluss der Garonne und ihren Kieselsteinen, die so rollen wie das r in seiner Stimme.))) Nougaro verstand sich selbst als Gesamtkunstwerker und als Dichter. In der Tat, manche seiner Chansons besitzen die Dichte und die Aussagekraft eines Gedichts. Andere sind leichter und eingängiger. Nougaro spielte gerne mit anderen Musikern zusammen. Er scheute weder das Pathos noch das Gegenteil, die Ironie. Wie in seiner Hymne auf die Heimatstadt, eine Sehnsucht nach Heimat, die man sonst eher den Deutschen zutraut, die im französischen Chanson aber stets auftaucht. In Formeln wie "C´est ca la France", so ist nun mal Frankreich oder in dem Sehnsuchsidyll von "douce France, Cher pays de mon enfance", "sanftes Frankreich, liebe Heimat meiner Kindheit" oder eben auch in einem Stadtbild wie dem von Nougaro.: 26 Nougaro Wo/Numerierung O Toulouse Sprecher 1 Was hält ein Chanson zusammen: Der Reim und das Versmaß geben ihm Rhythmus und leichte Merkbarkeit. In der Kürze liegt seine Würze: viel länger als drei Minuten ist es selten. Dennoch ist der Text wichtig. Das Publikum achtet auf die literarische Qualität des Gesungenen. Ein Vergleich mit der aktuellen Theaterpraxis in Deutschland und Frankreich verdeutlicht es. Das deutsche Theater beruht auf Gesten. Es ist körperbetont. Das französische Theater - und auch der Film - beruht auf Wörtern. Der Wortwitz, das Spiel mit Wörtern und Bedeutungen, die Aussage, eben das Literarische, machen den Gehalt eines Chansons aus. Dann kommt die Leidenschaft hinzu. Aber das Pathos ist leicht zerbrechlich. Fehlt noch die rebellische Geste, die heitere Respektlosigkeit gegenüber den Institutionen. Und dann die markante Stimme. Etwas Erotisches sollte sie haben oder vermitteln. Schliesslich aber bleibt das Entscheidende: Die Grazie, mit der es vorgetragen wird, die Freude am Gesang. Wenn endlich noch etwas Sehnsuchtsschmelz dazugegeben wird - etwa durch Violinen oder Orchesterklänge - dann ergibt sich moeglicherweise der Glueckstreffer, der Charles Trenet gelungen ist: Wenig Worte, viel Wind, der das Herz in Wallung bringt 27 Charles Trenet: La mer Bonjour la France, CD2, tr.7 Anfang bereits unter die letzten Worte von Sprecher 1 legen; ab 10" frei stehen Oder ab 1´46 bis Schluß 1 1