COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport 1.10.2012, 13.07 Uhr Berliner Wegmarken (2/5) Die aufstrebende Stadt Autor Treusch, Wolf-Sören Redaktion H. Wimmersberg / J. Stucke Sendung 01.10.12 - 13.07 Uhr ___________________________________________________________________ ATMO 01 (Trubel am Brandenburger Tor) kurz frei, dann drunter AUTOR 01 Rund ums Brandenburger Tor einen ruhigen Ort zu finden, ist unmöglich. Es wimmelt von Menschen. Kleindarsteller in Militär- oder Polizeiuniform der verschiedenen historischen Epochen Berlins stehen herum. Lautstark und in allen Sprachen bieten einige ihre Dienste als Fotomotiv feil. Wer will, stellt sich dazu, lässt sich mit ihnen fotografieren und wirft ein Geldstück in Helm oder Mütze. TAKE 01 (Kleindarsteller) 0'08 Darum wenn Touristen machen Fotos, dann lieber Tor, manche Touristen machen ohne Pferde, ja, nur die Tor. AUTOR 02 Nirgendwo in Berlin wird mehr fotografiert als hier. Kein Wahrzeichen ist so symbolträchtig wie das Brandenburger Tor. Es ist das einzige noch erhaltene Stadttor Berlins. (ATMO 01 weg) SPRECHERIN 01 1734 wird eine erste Version erbaut, eine rustikale Holzvariante mit zwei Wachhäusern rechts und links. Das Tor dient als Zollstation, genügt den Ansprüchen der Machthaber aber bald nicht mehr. Geld ist genug da: seit dem Ende des Sieben- jährigen Krieges erwirtschaftet Preußen jährliche Handelsüberschüsse in Höhe von 4 Millionen Talern. Der Architekt Carl Gotthard Langhans wird beauftragt, etwas Pompöseres, Glanzvolleres zu schaffen. Die Baukosten liegen bei 111.000 Talern. Am 6. August 1791 wird das noch nicht ganz fertige neue Brandenburger Tor eröffnet. TAKE 02 (Wernicke) 0'17 Ja, je bedeutender Berlin nun wurde, es war ja dann nach 1763 die Residenz einer europäischen Großmacht, wenn auch einer der kleinsten, aber immerhin: es war einer der european players, dann musste natürlich auch ein bisschen was für die Verschönerung getan werden. AUTOR 03 Der Historiker Kurt Wernicke TAKE 03 (Wernicke) 0'24 Das Brandenburger Tor, das war natürlich insofern von Wichtigkeit, weil das offensichtlich als ein repräsentativer Ort, als Empfangssalon für das königliche Schloss angesehen wurde. Der ganze Platz, aber im Hintergrund immer das Tor. Das war ja eine Prachtstraße, es lag am Ende der Straße, die vom Schloss ausging, Unter den Linden, und führte nach Charlottenburg, und Charlottenburg war eine Nebenresidenz. SPRECHERIN 02 Als architektonisches Vorbild dient der monumentale Eingangsbereich zur Akropolis in Athen. Zwei Jahre später, 1793, folgt - nach einem Entwurf des Hofbildhauers Johann Gottfried Schadow - die Quadriga, das bronzene Viergespann mit der Friedensgöttin obenauf. TAKE 04 (Wernicke) 0'30 Es ist die Eirene, die Friedensgöttin. Die Friedensgöttin reitet in die preußische Residenz ein. Das war der Grundgedanke. Es war ein Bekenntnis zur Friedenspolitik. Wie es in der Politik so oft ist: man bekennt sich zur Nicht-Einmischung und betreibt sie trotzdem. SPRECHERIN 03 Mit dem Bau des Brandenburger Tors ist der Ausbau Berlins zur "Haupt- und Residenzstadt" der europäischen Großmacht Preußen im Wesentlichen abgeschlossen. Berlin um 1800 ist der Mittelpunkt eines Staates, der nach den Teilungen Polens bis weit in den Osten hinein ragt. Berlin ist Zentrale des preußischen Rechtsstaates, des damals modernsten Staates in Europa, und Hauptstadt der Aufklärung. Etwa 170.000 Menschen leben hier, damit gehört Berlin zu den zehn größten Metropolen des Kontinents. Reisende sind jedes Mal beeindruckt, wenn sie die Stadt erreichen. In einer Schrift aus Amsterdam von 1788 heißt es: ZITATOR 0'23 Welch eine Perspektive, wenn man zum Potsdamer, zum Brandenburger oder zum Halleschen Tor hereinkommt! Breite Gassen, deren Länge das Auge kaum absehen kann; Häuser, die nach den besten Rissen der größten Baumeister Italiens erbaut sind, hohe Lindenalleen, Paläste, öffentliche Plätze, Denkmäler und Gebäude versetzen den neuen Ankömmling in ein angenehmes Erstaunen. AUTOR 04 Bis heute prägen die Gebäude jener Zeit das Stadtbild entlang der Straße Unter den Linden: das Zeughaus, heute Deutsches Historisches Museum, das Kronprinzenpalais, das Opernpalais, die Staatsoper, das Prinz-Heinrich-Palais, darin seit 1810 die Humboldt-Universität, die St. Hedwigs-Kathedrale und die Alte, heutige Staats-Bibliothek. MUSIKAKZENT SPRECHERIN 04 Berlin ist - schon damals - grün, überall stehen Bäume, auch in der Innenstadt. Der Grund: ein Edikt aus dem Jahre 1685 weist die Pfarrer an, den Segen zur Eheschließung erst dann zu erteilen, wenn das Brautpaar sechs Obstbäume und sechs Eichen gepflanzt hat. Das Berlin des ausgehenden 18. Jahrhunderts blüht, wächst und gedeiht - doch der wirtschaftliche Aufschwung hat auch seine Schattenseiten. Die Kluft zwischen arm und reich wächst. Im Jahre 1788 zählt die Königlich-Berlinische Armendirektion 13.992 Bedürftige - fast jeder zehnte Einwohner Berlins ist auf ein Almosen angewiesen. ZITATOR 0'36 Man zählt in Paris 50.000 Menschen, die des Morgens noch nicht wissen, wo sie das Mittagessen hernehmen sollen. Im Verhältnis dazu ist die Armut in Berlin noch größer, weil nur ein sehr kleiner Teil des Staatsvermögens im Umlauf ist und sich der Nationalreichtum in den Händen weniger befindet, die sich der preußischen Sparsamkeit auch noch besonders verpflichtet fühlten. SPRECHERIN 05 Die Stadt hat dunkle Ecken. Wer nicht durch eines der repräsentativen Tore im Westen der Stadt hinein kommt, landet schnell in der Kloake. ZITATOR 0'25 Elende Gassen, wie man sie nur immer in einer Landstadt finden kann - finster, eng, dass, wenn ein Wagen durchfährt, die Fußgänger so lange haltmachen müssen, und dann so schmutzig, dass man eine schlechte Idee von der großen Königstadt bekommt. Man findet elende, gestützte Häuser, wüste unbebaute Plätze, große Misthaufen vor den Türen, und die Bewohner tragen das Zeichen der äußersten Dürftigkeit auf ihrer Stirn. MUSIKAKZENT aus Oratorium von Haydn, die Schöpfung AUTOR 05 Kulturell blüht Berlin in jenen Jahren auf. Und gibt den Wissenschaftlern bis heute genug zu tun. ,Berliner Klassik' nennt sich ihr Untersuchungsgegenstand. TAKE 05 (Motschmann) 0'22 Bisher war der Begriff Klassik in der Literatur, in der Philosophie, in der Architektur immer mit Weimar verbunden. Mit der Weimarer Klassik: Goethe, Schiller, Herder, Wieland. Dass es aber fast zeitgleich in Berlin eine ähnliche Kulturblüte gegeben hat, ist im gesellschaftlichen Bewusstsein untergegangen. AUTOR 06 Uta Motschmann und Klaus Gerlach gehören zu einer Arbeitsgruppe an der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die sich seit einem Jahrzehnt mit der ,Berliner Klassik' beschäftigt. TAKE 06 (Motschmann) 0'35 Das ist die große Stadt Berlin. Mit 172.000 Einwohnern, die eine Vielfältigkeit und eine Freiheit bot, die in so einer kleinen Residenzstadt wie Weimar undenkbar war. Es gab eine Fülle von Salons, von Vereinen, Klubs, Ressourcen, wo dieser Gedankenaustausch in ganz anderer Weise möglich war als in einer kleinen Stadt. Es gab das berühmte Nationaltheater, ... TAKE 07 (Gerlach) 0'30 ... das damals bedeutendste Theater in Deutschland und in ganz Europa überhaupt, weil es einfach das modernste Theater ist, es ist das größte, 2.000 Zuschauer finden in dem Theater Platz, und außerdem gibt es einen Musiksaal, das ist auch sehr ungewöhnlich, das ist der erste Konzertsaal Berlins, der erste öffentliche Konzertsaal, in dem auch 1.000 Leute untergebracht werden können, zur gleichen Zeit können sich also 3.000 Leute in dem Theater aufhalten. MUSIKAKZENT aus Oratorium von Haydn, die Schöpfung SPRECHERIN 06 König Friedrich Wilhelm der Dritte Höchstselbst eröffnet 1802 den Neubau am Berliner Gendarmenmarkt. Das Nationaltheater als solches existiert bereits seit 1786. Es erhält viel Geld vom preußischen Staat. Deutschsprachige Stücke werden aufgeführt, die Zeit Friedrichs des Großen, in der die frankophone Kultur vorherrschte, ist endgültig vorbei. TAKE 08 (Gerlach) 0'34 In diesem Nationaltheater, das Iffland leitet seit 1796, werden Opern, Sprechtheater, Ballette, Singspiele aufgeführt, hier wurden die meisten Stücke auch von Goethe und Schiller aufgeführt, eigentlich kann man sagen, dass in Berlin die Weimarer Klassik durchgedrückt worden ist, also "die Jungfrau von Orléans" war der Renner, das ist das meist aufgeführte Stück überhaupt. SPRECHERIN 07 Das Gebäude bildet nicht nur kulturell, sondern auch räumlich den neuen Mittelpunkt der Stadt. In seinen "Streifzügen durch Berlin" schwärmt der Dichter Joseph von Eichendorff: ZITATOR 0'25 Um 6 Uhr ins königliche Nationaltheater, das in der Mitte des herrlichen Gendarmen- Platzes in einem länglichen Viereck mit rundem Dach und großen Säulenfassaden erbaut ist. Himmlische, überraschende Einrichtung und Malerei des Auditoriums mit fünf Etagen. Hinten die schön erleuchtete Nischenloge. Meine Überraschung und Freude, zum ersten Male durchaus vollkommene Schauspieler zu sehen. AUTOR 07 1817 brennt das Nationaltheater ab. Heute bildet an gleicher Stelle das Konzerthaus Berlin den Mittelpunkt des Gendarmenmarktes. Ein klassizistischer Bau - als Königliches Schauspielhaus 1821 fertig gestellt, nach den Plänen Karl Friedrich Schinkels. MUSIKAKZENT aus einem Mitschnitt der "Singakademie zu Berlin" SPRECHERIN 08 Berlin um 1800 ist die Hauptstadt der Aufklärung und ein Hort urbaner Geselligkeit. Schriftsteller, Literaten und Künstler, Intellektuelle, Wissenschaftler, Architekten, hohe Beamte und Adlige, aber auch Vertreter des Bürgertums: sie alle treffen sich regelmäßig in Salons, in Klubs und Vereinigungen. AUTOR 08 Eine dieser Vereinigungen existiert heute noch: die "Sing-Akademie zu Berlin", der älteste gemischte Chor der Welt - zum ersten Mal überhaupt singen Frauen in einem Chor mit, mehr noch: sie sitzen zu gleichen Teilen wie Männer im Vereinsvorstand. MUSIKAKZENT aus einem Mitschnitt der "Singakademie zu Berlin" TAKE 09 (Motschmann) 0'40 Man kann um 1800 von mehr als 100 Vereinigungen mit einer festen Organisationsstruktur ausgehen. Also keine Salons. Das ist wieder etwas anderes, da traf man sich unregelmäßig in den Wohnhäusern, meist bei einer Saloniere, bei einer Frau, die im Mittelpunkt stand, und dann waren alle möglichen Gäste zugelassen. Aber Vereinigungen mit einer festen Organisationsstruktur, das heißt mit einem Gründungsdatum, mit Gesetzen, Statuten, die sie sich gegeben haben, mit einem gewählten Mitgliederensemble, gab es etwa 100, 120. SPRECHERIN 09 Sie heißen Montagsklub, Donnerstagklub, Mittwochsgesellschaft, Gesetzlose Gesellschaft, Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin, Gesellschaft der Freunde der Humanität. TAKE 10 (Motschmann) Der Mitgliederstamm in diesen Vereinigungen ist ziemlich homogen. Man trifft immer wieder auf die gleichen Namen. Es gab sehr viele Parallel-Mitgliedschaften. Und man hatte die Möglichkeit, am Montag diesen Verein zu besuchen, am Mittwoch diesen, am Sonntag diesen. Und genau das wurde auch praktiziert. Also Schadow war wahrscheinlich sehr häufig von Montag bis Sonnabend ständig am Abend in irgendwelchen Vereinigungen präsent. SPRECHERIN 10 Nicht jedem passt der neue Trend. Der Schriftsteller Jean Paul, anfangs verzaubert von Berlin, weil er in ihr "mehr ein Weltteil als eine Stadt" sieht, ist nach einigen Monaten genervt ob so viel urbaner Geselligkeit. ZITATOR 0'31 Hier bleib ich nicht. - Der Ton hier übertrifft an Unbefangenheit weit den Weimar'schen. Der Adel vermengt sich hier mit dem Bürger, nicht wie Fet mit Wasser, auf welchem dieses immer oben schwimt und äugelt, sondern sie sind innig vereinigt wie diese durch Laugensalz, woraus Saife entsteht. Gelehrte, Juden, Offiziere, Geheime Räthe, Edelleute, kurz alles was sich an andern Orten (Weimar ausgenommen) die Hälse bricht, fället einander um diese, und lebt wenigstens freundlich an The- und Estischen beisammen. MUSIKAKZENT AKZENT ZITATOR 0'08 Wenn die Soldaten und Offiziere außer Dienst durch die Straßen gehen, marschieren sie in der gleichen Manier, die sie im geschlossenen Bataillon gewöhnt sind. TAKE 11 (Wernicke) 0'08 Sie müssen immer sehen: Berlin war im Grunde genommen geprägt durch das Militär. Um 1791, das war immer noch 20 Prozent der Bevölkerung. ZITATOR 0'09 Und sogar die, die nicht aus dem Krieg einen Beruf machen, haben sich samt und sonders daran gewöhnt, wie die Soldaten im Gleichschritt und Stechschritt zu marschieren. TAKE 12 (Wernicke) 0'27 Um 1790 waren in Berlin fünf Infanterie-Regimenter, drei Kavallerie-Regimenter und vier Artillerie-Regimenter stationiert. Also drei Feldartillerie- und dann gab es ja die so genannte reitende Artillerie, die die Fußtruppe begleitet hat mit leichteren Kanonen, und dann gab es noch ein Pionierbataillon. Wo man lang geht, sind Soldaten. Das war für Reisende, die aus Sachsen kamen, also völlig unverständlich. ZITATOR 0'14 Kurz, Berlin gleicht nicht einer Residenz, sondern einem Heerlager an der Grenze, wo die Stärke der Bewohner in der Garnison besteht und wo der Rest der Ansiedler, Männer wie Weiber, nur dazu da ist, die Soldaten zu bedienen. SPRECHERIN 11 Bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts werden die Soldaten, teilweise mit Frau und Kind, in Privathäusern einquartiert. Für die Bürger ist das oftmals eine lästige Pflicht, von der sich die Wohlhabenden unter ihnen gern freikaufen. Die Situation entspannt sich erst, als Kasernen gebaut werden. Nicht nur Soldaten, auch Prostituierte spielen im Stadtbild eine wichtige Rolle. Nicht heimlich und versteckt, sondern offen und in geselliger Umgebung - sogar Musik- und Tanzveranstaltungen werden in Freudenhäusern geboten. Ein Reisender aus Frankreich ist fasziniert von der Berliner Bordellkultur. ZITATOR Auch Leute, die über dem Pöbel sind, machen öfters Lustpartien in die vornehmeren unter denselben, nicht eben um auszuschweifen, sondern bloß eine Bouteille Wein oder einen Kaffee in Gesellschaft mutwilliger Mädchen zu trinken. Die Sache hat hier gar nichts Anstößiges, und ich habe junge Herren sogar in Gesellschaften von Damen von ihren Expeditionen in diesen Häusern ohne alle Scheu sprechen hören. SPRECHERIN 12 Von 1795 bis 1805 erlebt Europa eine kurze Phase friedlichen Zusammenlebens. Die Zahl der Soldaten in Berlin geht leicht zurück, die Zahl der Einwohner steigt. Kinder und Jugendliche machen im Jahr 1801 ein gutes Drittel der Berliner Gesamtbevölkerung aus. MUSIKAKZENT Trommelwirbel SPRECHERIN 13 Preußen und damit auch seine "Haupt- und Residenzstadt" Berlin ist jedoch pleite. König Friedrich Wilhelm der Dritte kann den Großmachtgelüsten des französischen Kaisers nichts mehr entgegensetzen. Am Nachmittag des 27. Oktober 1806 zieht Napoleon Bonaparte triumphierend durchs Brandenburger Tor und ins Stadtschloss ein. Der König und etliche wohlhabende Familien fliehen. MUSIKAKZENT SPRECHERIN 14 Die Berliner empfangen Napoleon wohlwollend, sie erhoffen sich von ihm mehr bürgerliche Freiheiten. In den Wirtshäusern fließt der Alkohol in Strömen, draußen staunt das Volk über die französischen Besatzer, weil sie keine Perücken tragen und auf offener Straße rauchen. Die Stimmung schlägt um, als die ersten Kontributionsleistungen fällig werden, um sich von drohenden Plünderungen freizukaufen. Lebensmittelpreise schießen in die Höhe, Beamte müssen Gehaltskürzungen hinnehmen, für Witwen und Waisen gibt es kein Geld mehr. AUTOR 09 Zwei Jahre und zwei Monate dauert die Besatzungszeit. Am Ende ist Berlins Schuldenberg um weitere viereinhalb Millionen Taler angewachsen, und das Volk ist empört über Napoleon, weil er es gewagt hat, die Quadriga vom Brandenburger Tor zu holen und in fünfzehn Kisten verpackt nach Paris zu schaffen. Napoleon, der "Pferdedieb", heißt es fortan im Volksmund. Der Druck der Französischen Fremdherrschaft bewirkt jedoch auch eine politische Erneuerung Preußens. Der Weg ist frei für Reformen, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. Berlin zum Beispiel bekommt eine neue Städteordnung. Die Stadt darf sich selbst verwalten und einen eigenen Bürgermeister wählen, sie regelt autonom Haushalts- und Steuerangelegenheiten, sie kümmert sich um die soziale Fürsorge bei den Armen, ein funktionsfähiges Schulwesen und die Geschäfte der Polizei. TAKE 13 (Wernicke) 0'20 So kommt es dann auch, dass nun erstmals die Stadt von sich aus sagt: ,na ja, vor jedem Grundstück muss auch die Straße gefegt werden bis zur Mitte'. So dass das natürlich auch zur Verbesserung der urbanen Infrastruktur führt in Ansätzen. In Ansätzen, aber immerhin. AUTOR 10 Auch die Quadriga thront wieder stolz auf dem Brandenburger Tor. Begleitet von Glockengeläut und Segenssprüchen kehrt sie 1815 heim nach Berlin. Ihre Einzelteile hatte man in Paris noch nicht einmal ausgepackt - so der Historiker Kurt Wernicke. TAKE 14 (Wernicke) 0'39 Dann kamen sie im Triumphzug nach Berlin und wurde dann also dort wieder aufgebaut. Aber in derselben Richtung. Damals hat sich verbreitet das Gerücht: ,nein, die haben sie jetzt umgedreht, weil es jetzt die Göttin des Sieges ist'. Es wurde ja nun auch das Eiserne Kreuz in ihren Lorbeerkranz rein gemacht, also jetzt wurde sie umfunktioniert von der Göttin des Friedens zur Göttin des Sieges. Und die reitet nun mit der preußischen Armee siegreich von Frankreich kommend nach Berlin ein, und vorher sei sie andersrum gestellt gewesen. Das stimmt einfach nicht. ATMO 01 (Rummel Brandenburger Tor) kurz frei, dann drunter AUTOR 11 Bis heute hat das Brandenburger Tor von seinem ursprünglichen Symbolgehalt nichts eingebüßt. Es steht für die aufstrebende Metropole Berlin. Dass es ganz nebenbei das beliebteste Fotomotiv der Stadt geworden ist: sei's drum. (ATMO 01 weg) 1