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Birgit Hoffmann hat Milch warm gemacht, Äpfel geschnitten und einen ganzen Stapel von Schulbroten geschmiert. Ihr Mann sitzt schon im Zug zur Arbeit, sie weckt jetzt die Kinder. Regie: O-Ton 1 (23s) Mutter: Noel! Guten Morgen! Noel: Ahhhm. M: Hast Du die Anziehsachen mit hochgenommen oder brauchst Du was? Sonst noch was? T-Shirt? N: Ja, habe ich. M: Unterwäsche auch nicht? (Treppen) Ist die Mama auch noch dafür gut. Autorin darüber: Noel, der zweitälteste, greift schnell nach dem Kapuzenpulli. Celine, die Jüngste, ist schon wach. Nächste Tür: Regie: O-Ton 2 (5s) Leon! L: Mhhh! M: Guten morgen, Beine aus dem Bett! Autorin darüber : Ihr Ältester erhebt sich widerwillig, letzte Tür: Regie: O-Ton 2 (5s) Julian!... Autorin: Von Julian, dem jüngsten Sohn, kommt keine Reaktion. Sie fährt das Rollo hoch. Regie: O-Ton 2 (3s) Werd bitte wach, Julian! Aufstehen. Beine aus dem Bett.. Autorin darüber: Als auch er die Beine über die Kante des Hochbettes hängt, zieht die Mutter zufrieden ab. Regie: O-Ton 2 (6s) J: Jaa! M: Der schläft nämlich sonst wieder ein. (schnaufen, Treppen hoch,) Autorin darüber: Wieder oben am Frühstückstisch, auf dem Plastikteller mit Toastscheiben und Obst stehen, wartet sie auf die vier Kinder. Als erste trudelt die Kleinste ein. Celine besucht seit diesem Jahr wie ihre Brüder das Schalker Gymnasium in Gelsenkirchen. Regie : Atmo 2 am Tisch (1:15) Regie: O-Ton 3 Mutter/Celine (3s Vorlauf, 30s) LANG Mutter: Bisschen mufflig, so, dein Tornister schon gepackt? Fit? Celine schreibt nämlich heute eine Mathearbeit. Celine: Ich habe gestern noch gelernt dafür, vielleicht so ne Stunde, aber länger geht dann auch nicht mehr. Dann reicht die Konzentration nicht mehr. M: Wobei gestern war entspannt, da ist Ballett ausgefallen, da war dann ein bisschen Freiraum, ohne Hektik, ohne dass man auf die Uhr gucken musste. Autorin: Birgit Hoffmann kennt die Stundepläne all ihrer Kinder, sie weiß, wann sie Celine zum Ballett fahren muss, Julian zum Tennis und die beiden ältesten zu Keyboard und Fußball. Auch in Sachen Schulreformen hat sie den vollen Durchblick. Schließlich haben die Hoffmanns mit ihren vier Kindern schon jede Menge mitgemacht: Als Leon, der Älteste, aufs Gymnasium kommt, führt Nordrhein-Westfalen das Zentralabitur ein, bei Noel dann die G8- Reform, dass heißt, dass er statt nach neun Jahren bereits nach acht Jahren sein Abitur ablegt. Und ganz aktuell diskutiert ihre Schule, ob sie nicht wieder zum neunjährigen Modell zurückkehrt. Obwohl die vier Geschwister auf dasselbe Gymnasium gehen, kann keiner dem anderen wirklich helfen. Denn fast alle lernen unterschiedlich schnell und aus anderen Büchern: Regie: O-Ton 4 (25s) Mein zweiter Sohn war zweiter Jahrgang G8. Und es lief eine ganze Menge durcheinander, wo ich früher sagen konnte, frag mal deinen Bruder, das ging nicht, weil die einen ganz anderen Stoff haben. Es ist auch heute so, dass der in Stufe 11 Sachen macht, die der andere schon in Stufe 9 durchnimmt. Autorin: Birgit Hoffmann, eine rundliche Frau mit braunem Pagenschnitt, rührt Zucker in den Tee. Ihre Armbanduhr zeigt 7:25 Uhr, spätestens in zehn Minuten müssen die Kinder das Haus verlassen - trotzdem bleibt sie entspannt. Sobald sie aber über G8 redet, regt sie sich auf - denn das verkürzte Abitur nach acht Jahren Gymnasialzeit überfordert nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern. Regie: O-Ton 5 (23s) Mutter: Bei G8 ist es oftmals jetzt so, dass die Sachen einfach nur angeschnitten werden. Das kommt einmal in den Unterricht rein, und die Kinder müssen es dann gepackt haben, mit viel Glück erklärt die Lehrerin das noch einmal. Aber ansonsten bleibt das an den Eltern hängen. Hatten wir letzten auch wieder im Deutschunterricht... Autorin: Sie guckt Celine an, die wegen Müdigkeit und Zahnspange nur am Toastbrot herumknabbert. Das blonde Mädchen geht in die 5. Klasse: Regie: O-Ton 6 (22s) Celine: Ja, ich habe das nicht richtig verstanden. Und dann wusste ich erst gar nicht, was ich da machen sollte und wir schrieben am nächsten Tag die Deutscharbeit. Und dann hat mir meine Mutter auf Karteikarten noch mal die Sachen geschrieben, die ich dann vor der Arbeit üben soll. Und dann verlief die Arbeit eigentlich recht gut. Autorin: Explodierende Stundenpläne, kaum Freizeit und zu hoher Leistungsdruck für die Kinder - so lautet zusammengefasst nicht nur Birgit Hoffmanns Kritik am Turbo-Abitur, bei dem zwar ein ganzes Schuljahr aber kaum Unterrichtstoff gekürzt wurde. Inzwischen ist G8 in allen Bundesländern eingeführt. Und von Hamburg bis München kämpfen Elterinitiativen und Lehrerverbände gegen die Reform, die ihrer Meinung nach zu schnell und schlampig gemacht wurde. Studien, wie sich das verkürzte Abitur auf die Entwicklung der Kinder und das Familienleben auswirkt, gibt es noch nicht. Dabei wären die Hoffmanns ein gutes Fallbeispiel. Bei ihnen verläuft der Vergleich innerhalb der Familie: Celine und Julian, die beiden jüngeren, sind G8. Auch ihr älterer Bruder Noel wird nach nur acht Jahren sein Abi machen. Doch weil er zu den Einführungsjahrgängen zählt, unterscheidet sich sein Lehrplan, viele Schulbücher waren anfangs noch gar nicht gedruckt. Nur Leon, der Älteste, hat Glück. Er ist der Letzte, der das Abitur wie früher nach neun Jahren ablegt. Wenn er fertig ist, konkurrieren allerdings zwei Jahrgänge um Studienplätze. Dem 16jährigen hängen die langen blonden Haare übers Gesicht, die Schule nimmt er ganz entspannt. Regie: O-Ton 7 (22s) Mutter: Der hatte überhaupt keinen Stress. Beim Noel war der Stress in den ersten zwei Jahren, dann sind auch Tränen geflossen, weil der ein oder andere Tag war dann wirklich bis 7 Uhr Hausaufgaben, weil die Umstellung von Grundschule zu Gymnasium müssen die ja auch erst mal meistern. Autorin: Die Mutter wünscht sich, dass auch die anderen Kinder wieder neun Jahre Zeit haben. Die neue rot-grüne Landesregierung erlaubt nun einigen Schulen, zum neunjährigen Modell zurückzukehren. Birgit Hoffmann engagiert sich als Elternvertreterin dafür, dass das Gymnasium ihrer Kinder diesen Versuch mitmacht. Regie: Atmo 3: Zimmer gehen, Tasche packen (35s) Autorin: Leon ist als erster mit dem Toastbrot fertig, steht schnell auf, als sie davon erzählt. Dass seine Mutter jetzt mehrmals wöchentlich an der Schule aufkreuzt, um all das zu organisieren, nervt ihn. Sein jüngerer Bruder Noel wirft ein paar Bücher in eine Sporttasche, er findet es gut: Regie: O-Ton 8 (20s) Bin leider schon G8, ist ziemlich viel Stress. Es wird jetzt auch dieses Jahr ein paar geben, die die Schule wechseln werden, weil die schaffen es einfach nicht mehr. Wenn die 5en und 6en schreiben, da kommen sie einfach nicht mehr mit klar. Besonders in unserer Nachbarklasse kann das gut sein, da sind bereits acht Stück oder mehr gegangen. Regie: Atmo 4 Kinder im Aufbruch (40s) Autorin: Noch zwei Minuten - sonst ist der Bus an der Straßenecke weg. Alle vier Kinder drängeln sich im kleinen Flur, wo die Mutter für alle sichtbar die Stundenpläne aufgehängt hat. Regie: O-Ton 9 (20s, dann Atmo ca 50s) Mutter: Meist fragen sie Mama, was habe ich, was für Fächer. Hast du dein Buch drin? Celine: Ja habe ich. M: So könnt ihr gehen. So viel Spaß, viel Erfolg. Julian hast du Schlüssel mit? (Aufbruch, alle reden) Autorin darüber: Laut Plan wird das erste Kind heute kurz vor zwei wieder zu Hause auftauchen, das letzte um 5 Uhr, obwohl das Schalker Gymnasium keine Ganztagsschule ist. Birgit Hoffmann geht zuerst einkaufen, dann zur Schule, um sich mit der Direktorin zu besprechen. Ihren Beruf als Vermessungstechnikerin hat sie aufgegeben. Sonst würden die Kinder die Schule längst nicht so gut schaffen, sagt sie. Regie: Atmo 5 Treppengetrampel, Hundegebell, Straße (1min) Autorin darüber: Draußen hellt der graue Himmel gerade auf. Vor den Einfamilienhäusern parken neuere Kombis. Die Hoffmanns wohnen in einem der besseren Viertel von Gelsenkirchen. Bis zur Schule sind es acht Stationen mit dem Bus. Das Gymnasium ist eines von vier in der Innenstadt und liegt in Schalke - einem Bezirk, der wegen seiner Arbeitslosenquote von 20 % und einem hohen Migrantenanteil als problematisch gilt. Die vier liegen heute perfekt in der Zeit: Regie: Atmo 6 Bus kommt Celine: Oh ja, jetzt geht das Gequetsche los, wird eng, wie man sieht, wenn es voll ist macht er nur noch hinten auf und dann muss man sich hinten reinquetschen (Einsteigen, Piepton, Türen zu, Bus fahren) Regie : Atmo 7: Blende in Schlüssel klimpern, Tür aufsperren (40s) Autorin: Die Kinder verschwinden im Bus, müssen stehen. Zur selben Zeit schließt Anja Nostadt die Tür zu ihrer Praxis auf. Die Psychotherapeutin hat sich direkt neben dem Bonner Hauptbahnhof niedergelassen. Sie ist spezialisiert auf Eltern-Kind Therapie. Gelsenkirchen und Bonn trennen etwa 100 km Bahnlinie, die Probleme der Kinder mit der Schulreform sind überall dramatisch, sagt Nostadt: Regie: O-Ton 10 (15s) Es ist in der Tat so, dass seit Einführung von G8 es Kinder gibt, die ab der Altersklasse 5. Klasse, also 10 -11jährige Kinder, in meine Praxis kommen. Das ist eine Klientel, die ich vorher noch nie hatte. Regie: Atmo 8 Blättern, Rascheln, bei 15s Stifte (1:30) Autorin: Nostadt spricht von bis zu fünf neuen Anfragen pro Woche, dafür ist es sehr ruhig. Sie schlüpft in lila Filzpantoffeln, dann holt sie einen großen Zeichenblock und Holzstifte und verteilt sie auf dem ebenfalls lilafarbenen Verlourteppich des Behandlungszimmers. Überall liegen Kissen und Kuscheldecken auf dem Boden. Regie: O-Ton 11 (24s) Jetzt kommt Lilian, die malt sehr gerne (Rascheln). Lilian hat immer Bauchschmerzen seit dem sie ungefähr vier Wochen an der Schule war. Und auch mit dem Einschlafen, das haben eigentlich ganz viele, das hat sie auch. Und Angst. Sie war halt immer eine gute Schülerin, und jetzt hat sie öfter schon mal eine vier geschrieben. Autorin: Gerade Kinder, die es gut machen wollen, kommen mit Symptomen wie Schlafstörungen, aggressiven Verhalten bis hin zur totalen Verweigerung zu ihr, sagt Nostadt. Stehen dahinter aber nicht oft Eltern, die zu hohe Erwartungen an Ihr Kind stellen? Regie: O-Ton 12 (37s) Ich habe auch festgestellt, dass bei Eltern, die vielleicht wirklich in diese Kategorie hineinpassen des zu hohen Leistungsdrucks, dass dieser kleine Teil der Eltern, die wirklich auch existieren, auch ihre Erfolge mit mir gemacht haben in der Therapie. Nur am Ende einer solchen gut verlaufenden Therapie musste ich feststellen, dass die Symptome doch nicht weggehen, weil sich das System nicht verändert. Also der Input an Stofffülle und das engmaschige Zeitkonzept ist ja trotzdem geblieben. (Und das muss sich ändern.) Regie: Atmo 9 Regal kramen, CD einlegen (15s) Autorin: Nostadt arbeitet mit Entspannungstechniken und körperlicher Bewegung, sie legt eine CD ein. Regie: O-Ton 13 (15s, dann Musik 1:30) So das benutze ich manchmal, um die Kinder ein bisschen zum Ausruhen oder zum Bewegen zu bekommen, ein leichtes Tänzchen oder so, irgendwas, was aus dem Körper heraushallt...MUSIK Autorin darüber: G8 war eine Reaktion auf den Pisa-Schock 2001 und darauf, dass deutsche Abiturienten im europäischen Vergleich zu spät mit dem Studium beginnen. Die Therapeutin wiegt verneinend den Kopf zur Musik. Hinter der Idee, Kinder schneller zum Abitur zu bringen, vermutet sie Sparmaßnahmen in der Bildung und wirtschaftliche Interessen. Regie: O-Ton 14: (18s) RAUS Sehr viel früher sollen Kinder auch auf den Arbeitsmarkt geschickt werden, um das Bruttosozialprodukt weiter mit zu erhöhen. Jetzt sollen sie früher in den Arbeitsmarkt und mit 67 erst aufhören. Autorin: Erschwerend hinzu kommt für sie, dass das gekürzte Schuljahr in die völlig falsche Entwicklungsphase der Kinder fällt. Die gymnasiale Oberstufe dauert bei G8 nach wie vor drei Jahre. Gerafft wurde die Mittelstufe - also genau dann, wenn Teenager in der Pubertät sind. Regie: O-Ton 15 (18s) Und wenn die gesund ist, dann müssen Kinder auch mal Durchhänger haben dürfen. Die müssen auch wirklich mal nicht kapieren dürfen. Und das können die sich schon gar nicht mehr erlauben. Das geht gar nicht, die müssen funktionieren. Regie: Atmo 10: Akte blättern, Notizen machen (1:30) Autorin: Nostadt hat hunderte Presseberichte gegen G8 gesammelt und sie in Klarsichtfolien abgeheftet. Zusammen mit anderen hat sie die Bürgerinitiative "Familiengerechte Bildung und Schule" in NRW gegründet. Dabei gibt es auch jetzt schon Alternativen, um Kindern mehr Zeit zum Lernen zu geben: Etwa die von rot-grün geförderte Gemeinschaftsschule, auf der es Kindern ermöglicht wird nach 13 Jahren Abitur zu machen. Oder die Ganztagschule, an der sich das hohe Lernpensum von G8 besser auf den Tag verteilt: Regie O-Ton 16 (15s) Die Ganztagsschule ist eine Alternative, aber die ist auch nicht von allen gewünscht. Und man kann nicht hergehen, dass man mit einer Reform G8 eine andere Schulform, nämlich die Ganztagsschule herbeizwingt. Autorin: Sie blättert eine Statistik auf, die ihre Bürgerinitiative in einer Online- Befragung zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung gemacht hat: 95 % aller Eltern sind komplett unzufrieden mit G8. Aber nur 52 % von ihnen wünschen eine Übermittagsbetreuung. Es sind also gerade Bildungsbürger wie Nostadt und die Hoffmanns, die für ihre Kinder das leistungsorientierte Gymnasium, aber auch das gemeinsame Mittagessen und Zeit in den Nachmittagsstunden wollen. Diejenigen, deren Kinder unter der Reform am meisten leiden, kämpfen jedoch kaum gegen G8: Sozial schwache Familien und Eltern, die beide arbeiten. Sie haben oft nicht die Zeit, das Geld und die Motivation, ihre Kinder durchs Turbo-Abi zu begleiten. Regie: Atmo 11 Ankunft Bus, Türen zu, Schritte zur Schule (30s) Autorin: Die vier Hoffmann-Kinder sind inzwischen an der Schule angekommen. Bis zur Glastür des grauen, einstöckigen Flachbaus aus den 60ern überqueren sie den betonierten Schulhof. Die Brüder hängen Celina schnell ab. Drinnen, in den schmalen Gängen stehen Schaukästen mit selbstgefertigten Igeln aus Nägeln, Drahtmännchen und Mobiles, überall drängeln sich Schüler. Regie: Atmo 12 Gang zum Klassenzimmer (40s, bei 25s Celine) Celine: Dann müssen wir uns hier durchdrängeln. Also das da, die sind unsere Nebenklasse und die 129 das ist unsere Klasse... Autorin: Im Zimmer der 5b setzt sich Celine hinten in die Bankreihe. Als die Deutschlehrerin kommt, wird es still, alle stehen auf. Regie: O-Ton 17 (35s) Klasse: Guten Morgen, Frau Helmich-Molitor (Setzen). Lehrerin: Jetzt machen wir Deutsch. Ihr schlagt jetzt erst mal eine neue Seite in eurem Schreibheft auf (Geraschel). Und das halten wir diesmal vom Titel ganz schlicht: Nämlich einfach nur Märchen. Regie: Atmo 13 Stilles Arbeiten, Gemurmel (2:30) Autorin: 26 Kinder gehen in Celines Klasse. Ihre Freunde heißen Moussa, Julia und Joshua. Die Schüler müssen jetzt still arbeiten, Auszüge aus Märchen lesen und sie den richtigen Bildern und Titeln zuordnen. Nicht alle sprechen als Muttersprache Deutsch. Sie lernen zudem bereits Englisch, und ab der nächsten Klasse kommt seit der Reform die zweite Fremdsprache dazu - entweder Latein oder Französisch. Die Deutschlehrerin hat sich vorne ans Pult gesetzt, eine Lehrerin wie aus dem Bilderbuch: grau-melierte Hochsteckfrisur, Nickelbrille. Von G8 hält sie rein gar nichts. Die Schulreform ist für sie ein undurchdachter Schnellschuss, die Gymnasien personalmäßig dafür nicht ausgestattet. Regie: O-Ton 18 (26s) In dem Moment, wo ich kleinere Lerngruppen habe, kann ich auch viel besser fördern. Aber ich sehe jetzt schon, ich habe da Schüler sitzen, da müsste ich mich jetzt schon zehn Minuten neben setzen, und die habe ich jetzt nicht. Da kann man wirklich nur sagen, es kommen die Leute durch, die entweder die intellektuellen Voraussetzungen haben und/oder vom Elternhaus gefördert werden. Und der Rest bleibt auf der Strecke. Das muss man einfach so sehen. Autorin: Weil seit der Reform fast die ganze Unterrichtszeit für neuen Stoff draufgeht, müssen die Schüler ihn zu Hause einüben. Dafür gibt es Zusatzmaterialien en masse zu kaufen. Viele Eltern aus dem Bezirk Schalke können sich die jedoch nicht leisten, und auch keinen Nachhilfeunterricht - eine Branche, die seit der Reform boomt. Der Deutschlehrerin macht das Sorgen, deshalb möchten sie und ihre Kolleginnen zur neunjährigen Gymnasialzeit zurückkehren und bei der Schulbehörde einen entsprechenden Antrag stellen. Regie: O-Ton 19 (27s) Wir haben uns, wenn ich das Abstimmungsergebnis jetzt richtig im Kopf habe, bis auf eine Enthaltung und eine Gegenstimme, alle dafür entschieden. Das wird mit Arbeit verbunden sein, das wird wissenschaftlich begleitet werden, also von Jemanden von der Uni Dortmund, und da werden konzeptionell Dinge noch entschieden werden. Autorin: Vier Türen den Gang weiter begrüßt die Schulleiterin Angelika Philipp soeben Birgit Hoffmann und Gudrun Wiesweg, die zweite Elternvertreterin. Regie: O-Ton 20 (20s plus Nachlauf ins 1:50) (Tür) Guten Tag Frau Wiesweg, Frau Hoffmann, nehmen Sie doch Platz. Wiesweg: Haben Sie sich von Samstag erholt, vom Tag der offenen Tür? Philipp: Von positiven Stress erholt man sich schnell...(Gespräch geht weiter). Autorin darüber: Auch sie macht sich dafür stark, das alte Modell mit neun Jahren wiedereinzuführen. Die Landesregierung in NRW erlaubt nur 10 % der Schulen an dem Versuch teilzunehmen. (Regie: Atmo 14 Tee trinken; einschenken, umrühren (1:15) Autorin: Die Direktorin, eine große gepflegte Frau, gibt Kaffee und Apfelkuchen aus - als Dank, weil die beiden Elternvertreter seit einigen Monaten 15-20 Stunden ihrer wöchentlichen Zeit in die Schule stecken. Philipp, seit über 30 Jahren im Schuldienst, sieht dennoch besorgt aus. Zuletzt gab es Gerüchte, dass ihre Schule schließen soll. Denn in Gelsenkirchen gibt es neben dem Schalker noch drei weitere Gymnasien. Und die Zahl der Kinder geht wegen der niedrigen Geburtenrate seit Jahren zurück. Auch deswegen hat sie den Antrag bei der Schulbehörde eingereicht, zu neun Jahren Abitur zurückzukehren. Als einziges Gymnasium in Gelsenkirchen: Regie: O-Ton 21 Philipp neu (40s) Wir sind die einzige Schule, wobei ich nicht wusste, wie sich die anderen Kollegen entscheiden. Also wir hatten hier die Diskussion schon über längere Zeit geführt, dass wir da sehr viele Vorteile drin sehen auf G9 zurückzugehen. Und viele Kollegen sagen natürlich, jetzt haben wir mit G8 sehr viel Zeit investiert, und das möchten wir jetzt nicht wieder rückwärts abspulen. Autorin: Ob sich dann mehr Jugendliche anmelden, ist jedoch fraglich. Denn für die Schüler eines neunjährigen Gymnasiums wird es schwer werden, zwischen den Gymnasien und den Bundesländern zu wechseln. Auch viele Eltern wollen nicht schon wieder neue Lehrpläne. Regie: O-Ton 22 Wiesweg neu (22s) Es gab zu meiner Zeit schon diese Schulreformen, so dass meine Eltern schon die Hände überm Kopf zusammengeschlagen haben und gesagt haben: Können die nicht mal das Schulsystem in Ruhe lassen. Irgendwie zieht sich das durch mein ganzes Leben und auch das meiner Kinder und wahrscheinlich meiner Enkelkinder. (lacht) Das also die Politik immer wieder daran rumschraubt und macht und tut. Autorin: Gisela Wiesweg fächelt sich Luft zu. Die Elternvertreterin hat die Nase voll vom Reformtheater, das das Bildungssystem immer unübersichtlicher macht. Trotzdem will sie unbedingt das G9-Gymnasium. Denn die Alternative, die von Rot-Grün geförderte chancengerechtere Gemeinschaftsschule, behagt ihr nicht - obwohl dort der hohe Druck und das Pauken von viel Stoff in kurzer Zeit entfällt. Auf der Gemeinschaftsschule lernen Kinder aller Bildungsschichten von der Einschulung an möglichst lange gemeinsam. Und die Leistungsstarken unter ihnen können dann nach 13 Jahren das Abitur ablegen. Regie: O-Ton 23 (37s) Wiesweg: Ich möchte einfach, dass eine gymnasiale Ausbildung in Deutschland möglich ist und nicht dass wir nachher nur noch eine Schule haben, weil mit einer Gemeinschaftsschule wie es ursprünglich angedacht war, werden wir keinem Kind gerecht. Wir haben klamme Kassen, das wird nie so sein, dass man allen Schülern in einer Klasse gerecht habe - das gibt es nicht. Das gibt Unfrieden, Neid. Und das kann vermieden werden, wenn ich von vornherein unterschiedliche Bildungswege anbiete, wo aber alle Kinder von vornherein die Chancen haben, ein Abitur zu machen. Regie: Atmo 15 Lehrerzimmer, Schließfach, Bücher, dann Gespräche, Notizen (3min) Autorin: Im angrenzenden Lehrerzimmer holt Annette Büning gerade einen Stapel roter Hefte aus dem Schließfach und packt sie in die Ledertasche für den Matheunterricht. Nicht alles an G8 ist schlecht, sagt sie. Regie: O-Ton 24 (30s) Die Art und Weise zu lernen, hat sich verändert, was sich sehr positiv als Nebeneffekt des G8 entwickelt hat. Dass eben nicht nur reines Wissen gelehrt wird, sondern Kompetenzen trainiert werden. D.H die Kompetenz zum Beispiel, Probleme zu lösen. In der Mathematik speziell haben wir früher ein ganzes Jahr Bruchrechnen gehabt, mittlerweile hat der Taschenrechner Einzug gehalten, und es wäre Blödsinn da wer weiß wie lange Bruchrechnung zu betreiben. Autorin: Dennoch befürwortet sie die Initiative der Schule, wieder neun Jahre bis zum Abitur anzubieten. Neben Mathe unterrichtet sie auch Sport. Die Kinder werden immer unsportlicher - und das nicht aus Faulheit: Regie: O-Ton 25 Neu (28s) Die Kinder, die dann in irgendeinem Sportverein sind, die haben schon Probleme ihre Trainingstermine wahrzunehmen. Reihenweise gehen die aus Fußballvereinen oder anderen Vereinen raus. Auch das AG-Angebot, wir haben ein riesiges AG-Angebot durch ausgebildete Sporthelfer bei uns an der Schule. Und mittlerweile müssen wir das total einschränken, und dadurch wird dieses AG-Angebot immer kleiner, fällt immer mehr flach. Regie Atmo 16 Kopierer (1min gut ab 0:15) Autorin: Am Kopierer lässt ihre Kollegin Annette Ernst, mit 29 Jahren die jüngste, Grammatik-Übungsblätter für Deutsch durchlaufen. Auch sie wünscht sich mehr Zeit, damit die Schüler wieder beim Chor und der Theater AG mitmachen oder auch mal für ein Jahr ins Ausland gehen können. Regie: O-Ton 27 (27s) Ja, ich werde noch länger unterrichten, das hoffe ich zumindest. Ideale Schule ist für mich ein Ort, an dem man sich wohlfühlen sollte, nicht nur ein Lernort, sondern auch ein Ort, an dem man gerne lebt. Und momentan ist es doch so, dass wir vor allem pauken, Stoff reinkriegen müssen und die wenige Freizeit, die Schüler noch haben außerhalb der Schule verbringen. Regie: Atmo 17 Läuten der Schulglocke blenden mit Atmo 18 Schule, Lachen der Kinder (2:20) Autorin: Celine Hoffmann rennt lachend aus dem Klassenzimmer. Die Mathearbeit lief gut. Am Ende des Ganges wartet ihre Mutter, bringt ihr die Gitarre für die zusätzliche Musikstunde. Danach wird Birgit Hoffmann Celine zum Ballett fahren und ihr abends bei den Hausaufgaben helfen. Viele andere Schüler im Gang haben keine Mutter, die sie auf dem Weg zum Turbo-Abitur begleitet. Sie müssen sich alleine durchbeißen - oder bleiben auf der Strecke. ENDE 24 000 19 Atmo extra am Tisch mit Gespräch 1