COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. DEUTSCHLANDRADIO KULTUR, NACHSPIEL, 09.01.2011 Ein Eskimo kennt keinen Schmerz Die Ureinwohner von Alaska haben ihre eigenen Olympischen Spiele Autor: Jürgen Kalwa Redaktion: Hanns Ostermann SPRECHER: Eine Veranstaltung, die etwas auf sich hält, braucht zur feierlichen Eröffnung eine besondere Einstimmung. Ein bisschen Pomp. Ein bisschen Show. In Amerika heißt das: eine Ehrengarde von Soldaten und alten Kriegsteilnehmern tritt an. Sie pflanzen die mitgebrachten Flaggen vor sich auf. Und dann singt jemand "The Star Spangled Banner." Hoch oben im abgelegenen Nordwesten der USA würde den Menschen jedoch etwas fehlen, wenn danach nicht noch ein weiteres Lied angestimmt würde. Eine Hymne, die das Leben in der rauen Landschaft am Polarkreis romantisiert. Der "Alaska Flag Song". Der offizielle Text ist in Englisch. Aber oft, so wie an diesem Tag beim Auftakt der Eskimo Olympics, werden die Zeilen in einer Sprache gesungen, die man nur hier kennt: Inupiaq. 01:00 MUSIK: Letzter Teil "Alaska Flag Song" freistehend, klingt aus und geht in Applaus über 01:20 SPRECHER: Die ureigene Sprache ist Teil der Tradition. Genauso wie diese rhythmische Musik aus Chorgesang und herben perkussiven Trommelschlägen. Hiermit feiern die Sänger die wenigen Freuden an dem harschen Leben in der Arktis, wo die Menschen seit tausenden von Jahren vom rohen Fleisch und dem Tran von Walen und Seehunden leben. Und wo die Beute bis auf den letzten Rest - bis auf Haut und Knochen - ausgeweidet wird. Ab 01:30 MUSIK "Dance Musik anonym 3 - erster Clip" (die ersten 10 Sekunden freistehend, danach im Hintergrund unter dem Sprecher weitere 44 Sekunden bis zum Ende des Applaus) 01:40 SPRECHER: Auch sportlicher Wettkampf gehört zur Tradition. Aber auch der gleicht nicht dem Menü, das man im Abendland verspeist. Typisch für das Sportverständnis ist der "Ear Pull". Dabei sitzen sich zwei Personen auf dem Boden gegenüber und ziehen gleichzeitig an einem hinter ihren Ohren angebrachten Lederband in ihre Richtung. Dabei fließt meistens Blut. Die Wettbewerbe fanden ursprünglich nicht in Form einer großen zentralen Veranstaltung statt, sondern wurden auf kleinen Dorffesten in den Küstenorten ausgetragen. Das änderte sich allerdings im Jahr 1961. Da organisierte man in Fairbanks am Ufer des Chena River, zum ersten Mal die Eskimo Olympics mit Teilnehmern aus allen Regionen Alaskas. Aus bescheidenen Anfängen ist mittlerweile ein viertägiges Event geworden, das jeden Sommer tausende von Menschen zusammenbringt und in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen feiern kann. (ENDE der untergelegten MUSIK-ATMO mit Applaus) Die Teilnehmer und Besucher fliegen oft mehr als tausend Kilometer weit, um dabei zu sein, wenn ihr Kulturerbe zelebriert wird. Ein Ereignis, bei dem man an die Sätze des dänischen Polarforschers Peter Freuchen aus dem Jahr 1928 in seinem Buch "Der Eskimo" denken muss. Der hatte als einer der ersten das Lebensgefühl der Menschen in diesen Breitengraden beschrieben: 02:30 SPRECHERSTIMME für PETER FREUCHEN: "Alles an den Eskimos am Polarkreis, wie sie aussehen, wie sie leben und selbst wie sie denken und fühlen wird im Großen und Ganzen von den extremen arktischen Verhältnissen bestimmt, in denen sie leben. Eskimos sind stark. Es kann keine Weichlinge unter den Menschen geben, deren Nachbar der Nordpol ist. Und weil, wie sie selbst sagen, "in der Stärke Schönheit" liegt, sind sie ansehnlich, frei und anmutig." 02:55 MUSIK: "Dance Musik anonym 3 - zweiter Clip" (die ersten 5 Sekunden freistehend, danach im Hintergrund unter dem Sprecher weitere 43 Sekunden bis Ende Applaus) 03:00 SPRECHER: Der Ort, am dem sie sich jedes Jahr einfinden - das Carlson Center außerhalb des Stadtzentrums von Fairbanks - wirkt selbst im Juli, wenn draußen alles blüht und die Natur vor Energie strotzt, seltsam schmucklos und bieder. Ein Zweckbau. An dem Bild können auch die bunten Banner der Sponsoren und das Emblem der Veranstaltung - ein Eisbär mit sechs verschiedenfarbigen, ineinanderverschränkten Ringen - nichts ändern. Trotzdem herrscht eine angenehme Atmosphäre. Denn viele der Teilnehmer haben ihre traditionellen farbenprächtigen pelzbesetzten Lederjacken, Schuhe und Kappen angezogen und signalisieren auf diese Weise, dass man im kurzen Sommer von Alaska den Winter nie ganz vergessen kann. (ENDE der untergelegten MUSIK-ATMO mit Applaus) Aber weil dies eine eigenwillige Mischung aus Traditionsbewusstsein, aus Athletik und eine Anlehnung an die alte olympische Kernidee ist, kann diese Veranstaltung erst beginnen, nachdem zwei Teenager in legerer Sportbekleidung hereinspaziert sind und eine batteriebetriebene elektrische Fackel mitgebracht haben. Sport nach hellenischem Brauch braucht Licht. 03:50 O-Ton Eskimo Gesangs- und Tanzgruppe - dritter Clip (Original- Datei: "Dance Music anonym 2") (die ersten 10 Sekunden freistehend, danach im Hintergrund unter dem Sprecher weitere 31 Sekunden bis Ende Applaus) 03:55 SPRECHER: Weiße Amerikaner und Touristen aus der Ferne, die sich für die World Eskimo Indian Olympics interessieren, wie sie ganz offiziell genannt werden, gibt es nur wenige. Was gewiss nicht an den Organisatoren liegt. Sie heißen jeden Fremden mit einem freundlichen Lächeln willkommen. Jeder Teilnehmer hat Zeit für Gespräche und Small-Talk. (ENDE der untergelegten MUSIK-ATMO mit Applaus) Umso überraschender ist es, wenn jemand wie der gebürtige Essener Hans Schniedermeier in Fairbanks vorbeischaut. Das hat allerdings seinen speziellen Grund: Schniedermeier ist vor Jahrzehnten in die USA ausgewandert und hat sich in seiner zweiten Heimat Nebraska mit der Tradition der Indianer beschäftigt, den ethnischen Verwandten der Eskimos, die im offiziellen Titel der Veranstaltung aus gutem Grund miterwähnt werden. Amerikas Ureinwohner, bedrängt vom Einfluss der westlichen Zivilisation, üben auf einer solchen Ebene so etwas wie stille Solidarität. 04:45 O-TON HANS SCHNIEDERMEIER: "Ich bin aufs Internet gegangen und habe gesehen, dass hier die Olympischen Spiele sind von den Eskimo-Indianern. Und das war einer der Gründe, warum ich hier heraufkam. Ich habe es noch nie gesehen und es hat mich sehr interessiert. Ich wollte mal die Eskimo-Indianer-Tradition mit der Tradition von den Amerikanern in den unteren 48 Staaten vergleichen." 05:15 SPRECHER: Dabei erkannte Hans Schniedermeier, dass abgesehen von den unterschiedlichen Themen die Tänze und Musik durchaus artverwandt sind. Denn in beiden Kulturbereichen wird gejagt, in beiden dominiert die Natur als Motiv der Identitätsfindung und in beiden wird gefeiert. Im rein sportlichen Teil jedoch zeigen Eskimos ihre Eigenheiten. Es geht um Ausdauer, Geschicklichkeit und Kraft. Und um die Bereitschaft, sich dabei auch noch gegenseitig anzufeuern und zu unterstützen. Keiner kämpft gegen den anderen und für einen Platz in der Sonne, auch wenn es, wie bei den großen Olympischen Spielen eine Medaillenzeremonie und ein klassisches Podium gibt. Jeder kämpft gegen die eigene Schwäche. Ob beim "High Kick", bei dem man vom Boden abspringt, um einen an einer Leine hängenden Lederball zu treffen. Oder beim "Knuckle Hop", bei dem man auf seinen Knöcheln und Fußspitzen in einem Liegestütz über längere Distanzen auf dem Hallenboden unterwegs ist. Oder beim Ohrengewichtheben, bei dem man sieben Kilo schwere Bleigewichte an einem Lederband über einen Parcours trägt. Hans Schniedermeier, dem nach so vielen Jahren in den USA hin und wieder ein paar Anglizismen herausrutschen: 06:25 O-TON HANS SCHNIEDERMEIER: "Die brauchen nicht wie in Deutschland in die Turnhalle zu gehen oder auf ein Sportfeld. Die können diese Sachen zuhause machen. Ist mehr oder weniger Konzentration, solange man die Konzentration nicht hat, kann da alles falsch gehen und man kann sich einigermaßen weh tun." 06:55 ATMO: RUFE UND SCHMERZENSSCHREIE vom Ear Pull- Wettbewerb ("Ready...Pull...") 07:05 SPRECHER: Tatsächlich gehört bei einigen Disziplinen Wehtun schlichtweg zum Kern der Sache. Wahrscheinlich wäre es besser zu sagen: Es geht darum, den Schmerz zu unterdrücken oder ihn zu ignorieren, wie Leroy Shangin, der Matador des Ohrenziehens das nach seinem Sieg im Sommer 2010 beschreibt. Er hatte wie am Spieß gebrüllt, mit der Hand heftig auf den Boden geschlagen. Er war immer wieder aufgesprungen und demonstrativ durch die Halle gelaufen, während er sich jeweils mit einer Hand die tiefroten blutunterlaufenen Ohrmuscheln hielt. Runde um Runde wurde der Schmerz größer, weil die Haut hinter den Ohren aufgerissen war. 07:40 O-TON LEROY SHANGIN: "What I do is I pick something on the wall like sign. I focus on that first. When they say "ready, pull" I just take a deep breath and I just lean back. Through the years years of commercial fishing I have done, I have done at least 20 years of commercial fishing, I had to withstand a lot of pain. Because you got to deal with broken fingers, sprain ankles, broken ribs. You have to deal with all of that. "If you can't withstand that pain, like a sprain finger you are off my boat." You got a lot of pain to deal with." VOICEOVER: "Ich suche mir einen Punkt an der Wand und fixiere den. Dann hole ich tief Luft und lehne mich zurück. Ich habe auf hoher See in der Fischerei gearbeitet und musste sehr viele Schmerzen ertragen. Gebrochene Finger, verstauchte Knöchel, gebrochene Rippen. Damit musst du fertig werden, sonst wirft dich der Bootsbesitzer raus. Du musst mit einer Menge Schmerzen fertig werden." 08:25 SPRECHER: Einer seiner Gegner im Juli war Austin Sumdum, dessen Ohr nach zahllosen Duellen so stark verletzt war, dass er ins Krankenhaus musste. Hinterher klang er so, als habe er das Erlebnis bereits verdrängt. Und auch die Sorgen, die sich die mitgereiste Mutter gemacht hatte. Austin ist der jüngste Sohn in der Familie und erst 18 Jahre alt: 08:40 O-TON AUSTIN SUMDUM: "Since it opened it got ripped far enough to where you could see the cartillage. The dermatologist numbed it up and stitched it up. It is just a painful event." VOICEOVER: "Es war aufgerissen. Man konnte den Knorpel sehen. Der Hautarzt hat es genäht. Es ist eine schmerzhafte Disziplin." 08:55 SPRECHER: Schmerzhaft gewiss. Aber für Fremde, die sich nicht besonders gründlich mit der Geschichte Alaskas und der Arktis beschäftigen, ist es vor allem einfach nur fremd und mysteriös. Dabei gibt es einen ziemlich einfachen historischen Hintergrund, sagt Austin Sumdum, ein Angehöriger der Tlingit aus dem Südosten Alaskas, der sich als Schüler intensiv in das Thema eingelesen hat. Ein junger Mensch mit großen, offenen Augen und einer sanften, fast monotonen Stimme: 09:05 O-TON Austin SUMDUM: "They did this to keep fit during the winter time, because during the winter time they had about 80 or 85 days when the son was not rising above the horizon. You wanted to stay inside when it was so dark and cold. And just keep being occupied and dancing. That's what they did to keep them occupied." VOICEOVER: "Auf diese Weise ist man im Winter fit geblieben, wenn die Sonne an 80 oder 85 Tagen nicht über den Horizont hochkam. Es war dunkel und kalt. Da wollte man sich beschäftigen. Und das haben sie getan." 09:25 SPRECHER: Schon gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts entdeckten Forscher beim Betrachten von kunstvollen Schnitzereien, die Eskimos in Walross-Zähnen eingeritzt hatten, unter anderem Abbildungen von sportlichen Szenen. Das Buch "The Graphic Art of the Eskimos" vom James Walter Hoffman, das 1897 erschien, enthält zum Beispiel stilisierte kleine Bilder, die Menschen beim Ringkampf und beim Fußball zeigen. Diejenigen, die allerdings an ihren Traditionssportarten festhalten, wirken heute in anderen Teilen der Welt schnell schon mal skurril. Sonst wäre auch sicher nicht vor ein paar Jahren die deutsche Talk-Show-Gastgeberin Margarethe Schreinemakers auf die Idee gekommen, erfolgreiche Teilnehmer der Eskimo Olympics ins Studio einzuladen und im auf die Quote schielenden Sender RTL zu präsentieren. Die besondere Note: Die Eskimos traten im Wettkampf gegen eine Auswahl von deutschen Spitzensportlern an. Darunter befand sich auch ein mehrfacher Meister im Fingerhakeln. O-Ton "Schreinemakers TV", anno 1997: 10:25 O-TON ATMO MARGARETHE SCHREINEMAKERS (erster Teil 20 Sekunden freigestellt) "Wir haben irre Disziplinen. Ich würde vorschlagen: Jetzt reden wir gar nicht mehr länger darüber, sondern wir fangen an mit der ersten Disziplin: das Ohrgewichttragen. Da gibt es Gewichte, die sind drei Kilogramm schwer und hängt man sich ans Ohrläppchen. Stellen Sie sich vor, sie hauen sich da drei Milchtüten drauf. Nur mal so zur plastischen Vorstellung. Ich würde allen Beteiligten vorschlagen, mal darüber zu gehen. SPRECHER (über den weiterlaufenden O-Ton): Dann ging sie zu einer kleinen Frau. O-TON SCHREINEMAKERS: "So, in der Disziplin Ohrgewichttragen treten an: Carol Pickett und Alexander Leipold. Kommt jetzt mal zu mir. Carol, wie weh tut so etwas, drei Kilo am Ohr zu haben? CAROL: Quite painful. SIMULTANÜBERSETZERIN: "Das ist ziemlich schmerzhaft und der Knorpel wird ein bisschen verletzt, wenn man das eine ganze Weile durchhält. Aber insgesamt dauert es gar nicht so lange." 11:20 SPRECHER: Mehr als zehn Jahre später kommt dieselbe Carol noch immer nach Fairbanks. Jeden Sommer. Inzwischen heißt sie mit Nachnamen Hull - nach ihrem zweiten Ehemann - und ist Vorstandsmitglied der Organisation, die die Veranstaltung ausrichtet. Sie erwähnt gern mit einigem Stolz, dass sie seit 1979 keine der Olympics versäumt hat. Weshalb sie die Frage, ob es nicht ungewöhnlich sei, dass Frauen in diesen Sportarten eine gleichberechtigte Rolle spielen, ohne lange nachzudenken, verneint. In dieser Sache haben die Eskimos eindeutig mit der Tradition gebrochen: 11:50 O-TON CAROL HULL: "I think I was about 15 or 16 years old in High School in Anchorage. We have what we call our Indian-Ed councellors. They promote cultural activities for the native students in the schools. He was trying to get me involved. I was always involved in other sports such as softball and baseball and that type of thing. So he made me a bet wether I could do toe-kick or not. And that was the wrong thing to do. I said: "Sure, I can do it." And I was hooked from there." VOICEOVER: "Ich war 15 oder 16 Jahre alt und in der Schule. Da hat ein Fachlehrer für Indianer-Kunde versucht, mich anzuwerben. Ich habe Baseball und Softball gespielt. Er hat mit mir gewettet, dass ich nicht den Zehentritt mit dem kleinen Holzstab schaffe. Das war ein Fehler. Ich sagte: 'Natürlich kann ich das.' Von da ab war ich förmlich süchtig." 12:25 SPRECHER: Carol Hull ist inzwischen Ende vierzig. Sie hält aber noch immer die absolute Bestleistung bei den Frauen im High-Kick, bei dem man einen an einer Leine hängenden Ball bei einem Sprung mit einem Fuß treffen muss. Ihre Marke steht bei 2,13 Meter. Carol gehört zu einer jüngeren Generation von Eskimos, die gelernt hat, sich in der Welt der Weißen zurecht zu finden. 12:45 O-TON CAROL HULL "Most of the games were male oriented games to prove their strength, their agility. And the women did play games, you know. They did contests. Balancing contests. In Canada, in the Inuit area, they do tea boiling contests, which basically they race out, get some wood, come back, build a fire, boil a tea. The women were going on the blanket toss a lot. Because the blanket toss is a celebration event. What they used to traditionally do was they would throw candy or toys out as part of the celebration. It was in the early seventies that the women started to competing more. So actually I competed in a good portion of the 25 games we have. I am not very good at some. I am very good at some other ones." VOICEOVER: "Die meisten Disziplinen waren auf die Männer ausgerichtet, die ihre Kraft und Geschicklichkeit beweisen wollten. Die Frauen haben such Wettbewerbe gehabt. In Kanada bei den Inuit zum Beispiel einen Teekoch-Wettbewerb. Da rennst du raus, holst Holz, machst ein Feuer an und kochst Tee. Die Frauen haben auch beim Deckenwurf oft mitgemacht. Dabei haben sie gewöhnlich Süßigkeiten oder Spielzeug unter die Zuschauer geworfen. In den frühen siebziger Jahren öffnete sich das. Ich habe im Laufe der Zeit in fast allen der 25 Disziplinen mitgemacht, die wir haben. Ich bin in einigen nicht sehr gut. Aber in einigen sogar sehr gut." 13:45 ATMO: Sound aus der Halle - Blanket Toss (22 Sekunden freigestellt) Erste Stimme: "Pick something out at the second floor." Zweite Stimme: "Maintain your balance." Erste Stimme: "Keep on the blanket, because she's very light. Atausiq, maRluuk, pingasut, gi." Applaus 14:05 SPRECHER: Schon bei den ersten Eskimo Olympics 1961 gehörte das Blanket Toss - eine Art Trampolinspringen - dazu. Das Sportgerät ähnelt einem großen Sprungtuch, wie es die Feuerwehr aufspannt, um Menschen aufzufangen, die aus einem brennenden Haus herausspringen müssen. In Alaska umspannt die kreisrunde, aus vielen Seehund- oder Walrosshäuten zusammengenähte Decke am Rand ein dickes Tau, das von mehr als fünfzig, dicht nebeneinander aufgereihten Personen festgehalten wird. Die Kunst dieser Träger besteht darin, dass sie zunächst gleichmäßig die Decke in alle Richtungen nach außen ziehen, um sie vom Boden zu lupfen, und dann in ein fein abgestimmtes Tempo einfallen, um die Decke zum Schwingen zu bringen. Nach Möglichkeit bewegt sich die Gruppe währenddessen nicht vom Fleck. 14:50 ATMO: Sound aus der Halle, Blanket Toss Kommando Die ersten Sekunden des Clips unter den letzten Wörtern des Sprechers, dann freigestellt: Stimme: "Atausiq, maRluuk, pingasut, gi." Lauter Applaus (unter den folgenden Sprechertext unterlegt) 15:00 SPRECHER: Roy Katoiriak ist der Mann, der beim Blanket Toss während der Eskimo Olympics die Kommandos gibt. Ein schwergewichtiger älterer Herr mit Bart, der am Ende jedes Abschnitts des Wettbewerbs ziemlich außer Atem ist: 15:15 O-TON RAY KATORIAK: "We need to keep tension in the blanket and when they lean back they need to keep temperament on the blanket. And when they jump try not to leave the feet. Let the feet leave the skin and keep balance. And then you give them a "one, two, three" and then they jump. And you give to them "atausiq, maRluuk, pingasut, gi". "Gi" means "go" or "give it to go". The one who has practice they are more limber. And knows when to tighten up. You got to be in good shape to be on that blanket. And if you don't keep the temperament of the blanket and the rhythm, you can throw somebody off the blanket onto the hard floor. They are limb. The limbs, the back. You could hurt somebody severely, from the neck down or from the neck up." VOICEOVER: "Wir müssen die Decke unter Spannung halten und ein Gefühl für den Schwung haben. Und die Teilnehmer müssen die Balance finden. Dann gibst du ihnen vor - eins, zwei, drei - und dann springen sie hoch. Du rufst "atausiq, maRluuk, pingasut, gi. "Gi" heißt "geh" oder "versuch es". Wer Übung hat, der ist lockerer und weiß, wann er Körperspannung aufbauen muss. Auf der Decke musst du in Form sein. Die Träger müssen den Rhythmus halten, sonst landet jemand auf dem harten Hallenboden. Dabei kann man sich schwer verletzen. Vom Nacken abwärts. Und vom Nacken aufwärts." 16:30 SPRECHER: Es klingt nach Anglerlatein, wenn Leute erzählen, dass man einst auf Booten draußen auf dem Beringmeer auf diese Weise Menschen in die Höhe katapultiert hat, um Wale zu erspähen. 16:40 O-TON RAY KATORIAK "Some people used to say they used it to look around. It can be done that way. But it was never done for that. The Inupiat made it for celebration. And it's like back in Top of the World, in Barrow, Wainwright people used to do do somersaults and native figurines and spin around like that little girl you saw. Like a little Brody." VOICEOVER: "Einige sagen, man hat das früher gemacht, um in die Ferne zu schauen. Das stimmt nicht. Für die Inupiat war das Teil ihrer Feste. In Barrow, in Wainwright haben die Leute beim Springen Saltos geschlagen und Tanzfiguren probiert. So wie das Mädchen, dass Sie gesehen haben. Wie ein Brummkreisel." 16:55 SPRECHER: Es gibt ein altes Schwarz-Weiß-Foto in amerikanischen Archiven aus den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts, das eine Blanket- Toss-Szene in Barrow eher zufällig festgehalten hat. Der Titel lautet: "Eskimo Sport". Man sieht darauf viele Menschen, die scheinbar grundlos in ihren dicken Pelzmänteln auf dem nackten Boden sitzen. Im starken Wind flattern weiße Wimpel. Im Hintergrund schwebt ein kleiner Mensch in diesem Bruchteil einer Sekunde in der Luft. Bilder aus jener Zeit, als Goldsucher und Trapper und Abenteurer in die Wildnis von Alaska aufbrachen, es aber noch keine Straßen durch die undurchdringliche Tundra gab, sind echte Raritäten. Zu den aktivsten Fotografen gehörten damals die Brüder Lomen in Nome. Sie waren es, die die beschriebene Aufnahme in Barrow machten. Und sie machten 1918 eine weitere in ihrem Heimatort, die von hunderten von westlich gekleideten Zuschauern in Hüten, Sakkos und Filzmänteln bevölkert wird. Im Hintergrund sieht man die Gestade des Beringmeers und Eisschollen, die übers Wasser treiben. Bei der Eskimo-Olympiade sitzen die Zuschauer auf den Rängen. Und eine Gruppe von Sprungrichtern verteilt Noten. Was bei den Eskimos Zeitvertreib und Vergnügen war, erhielt in anderen Kulturen einen sehr viel stärkeren Bedeutungsakzent. Man sieht es nicht nur am Blanket Toss, der in seiner westlichen Form - beim Trampolinspringen - zu einem Wettbewerb für durchtrainierte Athleten wurde. Man kann es auch bei anderen Eskimo-Erfindungen erkennen. Was sie aufgrund der harten Lebensumstände am Polarkreis erfanden - den Hundeschlitten und das Kajak - mutierte woanders zum Sportgerät. Das Kajak schaffte es sogar bis ins Olympische Programm. Die ersten Medaillen wurden 1936 in Berlin vergeben. Noch zu Lebzeiten von Baron de Coubertin übrigens, dem Vater und Philosophen einer modernen Sportbewegung, dessen Inspirationsquelle das viktorianische England war und der dort lernte, dass der "organisierte Sport moralische und soziale Stärke schaffen kann". Eine ähnliche Idee existiert in der Sport-Philosophie der Eskimos. William Iggiaruk Hensley beschreibt sie in seinen 2009 erschienenen Memoiren "Fifty Miles From Tomorrow" - auf Deutsch: "Fünfzig Meilen von Morgen" ziemlich deutlich. Hensley wurde 1941 nördlich des Polarkreises geboren und war einer der Vorkämpfer für die Rechte der Ureinwohner Alaskas. Im Kapitel "We Play" - "Wir spielen" erzählt er, um was es jungen Eskimos bei ihren Wettkämpfen ging: 19:25 SPRECHERSTIMME HENSLEY "Meine Freunde und ich wussten alle, dass Stärke, Ausdauer, Geschwindigkeit, Genauigkeit, Kontrolle und Durchhaltevermögen in unserer Kultur hoch angesehen waren. Sehkraft, Stärke, Hörvermögen, Urteilskraft und ein gutes Gedächtnis waren allesamt unentbehrlich fürs Überleben. Wir hatten keine Ahnung, dass unsere Generation die letzte war, die von der Kraft und Gewandheit von Menschen und ihren Hunden abhängig waren, dass Schneekettenfahrzeuge und Außenbordmotoren diese alten Qualitäten überflüssig machen würden. Es gab eine Vielfalt von Wettbewerben, bei denen man zeigen konnte, wie viel Kraft man in den Fingern, Handgelenken, Armen, Beinen, im Nacken und in den Knöcheln hatte. Bei anderen knieten zwei Beteiligte in Reichweite nieder und stießen einander solange ihre Stirn gegen den Kopf des anderen, bis einer von beiden die Schmerzen nicht mehr aushalten konnte. 20:45 SPRECHER: Hensley mochte den High-Kick und war darin einer der Besten. Dabei war das Ziel, in die Luft zu springen und dabei mit der Fußspitze gegen einen Ball aus Seehundhaut zu treten, der in größtmöglicher Höhe von einem Gerüst herunterbaumelte. Es gab ein paar Variationen: den beidfüßigen Kick, den einbeinigen Kick, den Tritt nach dem Ball aus einer Position heraus, bei der man mit beiden Händen auf dem Boden das Körpergewicht balancierte und sich abstützte. Aber hinter allem steckte noch etwas mehr, schreibt Hensley. 21:05 SPRECHERSTIMME HENSLEY: Ich denke, teilweise gaben diese Sportarten jungen Frauen die Möglichkeit zu ermitteln, mit welchem jungen Mann sie sich einlassen wollten. Schließlich war jemand, der offensichtlich körperlich stark war, ein guter Fang - in einer Zeit, als man noch ganz viel Kraft brauchte, um eine Familie zu versorgen. Die Sieger bekamen kleine Schleifen und geringe Geldbeträge. Ein Offizieller rief den Namen des Gewinners aus und der musste vor der gesamten Dorfbevölkerung antreten. Der Offizielle lief dann durch die Zuschauerreihen und bestimmte eine Person des anderen Geschlechts, die er für geeignet hielt, dem Sieger die Schleife anzuheften. Mitunter entstand so ein ungleiches Paar - ein sehr unattraktiver Typ und eine wirklich hübsche Frau oder jemand sehr Fettes mit jemanden sehr Dünnem, jemand wirklich groß und jemand, der sehr kurz geraten war. Es gab dann immer ein ziemliches Grölen - "Hai! Hai!" - und das Paar lief rot an und grinste, bis sich beide hinsetzten." 21:55 SPRECHER: Der Unterschied zu heute: Nun findet alles in einer größeren Öffentlichkeit statt. Live-Fernsehkameras gibt es - noch - keine. Doch immerhin ein Mittelwellen-Radiosender, der Sportkanal KCBF hat einen Reporter geschickt, der live aus der Halle berichtet: 22:05 O-TON PJ SIMON, RADIOREPORTER KCBF als ATMO ohne Übersetzung: (20 Sekunden) "You're listenting to KCBF 820 Sports also on the world wide web. 820sports.com. PJ Simon along with Brian Walker bringing you a live rundown of today's events of the World Eskimo Indian Olympics." 22:25 ATMO: Applaus und Übergang zu T-TON ALANNA GIBSON, Miss WEIO 2009: (10 Sekunden) "They were just clapping for a young man in the two foot high- kick. He missed it. But this is a great game." VOICEOVER: "Sie haben einem Jungen applaudiert, der den Ball nicht getroffen hat. Aber das ist eine tolle Disziplin. 22:35 SPRECHER: Alanna Gibson aus der kleinen Ortschaft Minto, die zwischen den Sommern 2009 und 2010 ein Jahr lang eine besondere Aufgabe erfüllte. Sie hatte den Miss-Wettbewerb der Eskimo Olympics gewonnen und war in dieser Rolle das attraktive Aushängeschild der Organisation. Jetzt saß sie kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit auf dem den Zuschauerrang und sah den Athleten zu. Darunter einem, der soeben beim beidbeinigen High-Kick mit seinem Sprung den herunterhängenden Ball nicht getroffen hatte. Das Echo aus dem Publikum und der Umgangston der Sportler untereinander, so sagt sie, sei etwas ganz Besonderes: 23:05 O-TON ALANNA GIBSON, MISS WEIO (im Hintergrund geht der Wettbewerb aus der Atmo weiter): "That's what they do: they encourage the competitor. That's our tradition. We encourage each other, even when competing against each other. To Kick the ball. He just did. Yeah. That's kind of WEIO stands for." VOICEOVER: "Sie machen das immer so: Sie muntern ihren Gegner auf. Das ist unsere Tradition. Wir ermutigen uns gegenseitig, selbst wenn wir gegeneinander antreten.. (Pause) Er hat den Ball getroffen. Gut." 23:25 SPRECHER: Darryl Lewis, ein groß gewachsener Afro-Amerikaner, der vor vielen Jahren aufgrund eines Basketballstipendiums aus Ohio nach Alaska kam und seit Jahren als Reporter für die Fernsehnachrichten in Fairbanks arbeitet, weiß, wovon Gibson spricht: 23:35 O-TON DARRYL LEWIS: (22 Sekunden) "What I find what is so unique: There is no "I did this. I did this." and the beating on the chest that I am accustomed to when I am down in places like Ohio. A look at me, look-at-me type of thing. Never about that with these games. At first I had to get used to, but it is pretty customary to me now. Their culture is not built around "me first". VOICEOVER: "Was so einzigartig ist: Es gibt nicht diesen Egoismus, den ich aus Ohio kenne. Nicht dieses Sich-auf-die-Brust-Schlagen. Ich musste mich erst daran gewöhnen. In ihrer Kultur kennt man diese 'Hoppla-jetzt-komm-ich-'Art nicht." 24:00 SPRECHER: Wenn es einen Menschen gibt, der für die Eskimo Olympics steht - und zwar mit seiner gesamten Leibesfülle - dann ist es "Big Bob", mit bürgerlichem Namen Robert Aiken, ein schwergewichtiger Mann von 57 Jahren, der in seiner besten Zeit bei vielen Wettbewerben unüberwindbar war. Heute arbeitet er als Trainer. "Wir sind nicht hier, um andere zu besiegen, sagt er. "Wir sind hier, um unsere Fähigkeiten zu testen." Jemand wie er tut sich leicht, so etwas zu sagen. 24:25 O-TON Robert Aiken, Spitzname "Big Bob" "I used to be 500 pounds, mostly muscle. And I am 6 foot 4. That made me the tallest of the Inupiat nation. The tallest Eskimo. My great-great-grand-pa was tall. He was part Irish. I think, that's why I am tall." VOICEOVER: "Ich habe 220 Kilo gewogen, das meiste waren Muskeln. Ich bin 1,93 Meter groß. Der größte Eskimo. Mein Ur-Ur-Großvater war schon groß. Er war teilweise irischer Abstammung. Deshalb bin ich so groß." 24:50 SPRECHER: Das Emblem der Eskimo Olympics sieht dem Symbol des Internationalen Olympischen Komitees erstaunlich ähnlich. Statt fünf hat man sechs Ringe. Die sechs stehen für die sechs großen ethnischen Gruppen unter den Ureinwohnern von Alaska. Das wirtschaftliche Fundament ist ein steuerbefreites gemeinnütziges Unternehmen, das von den Eintrittsgeldern und den Teilnahmegebühren von 25 Dollar pro Sportler allein nicht leben kann. Werbepartner sind nötig, um das jährliche Budget von 150.000 Dollar aufzubringen. Darunter auch eine Firma wie der Ölkonzern BP, der in Alaska ein bedeutender Arbeitgeber ist, aber anderswo nicht in dem Ruf steht, mit den natürlichen Ressourcen vorsichtig umzugehen, wie die Ölpest im Golf von Mexico 2010 zeigte. Zu derartigen potentiellen Imagekonflikten nimmt Perry Ahsogeak (Aussprache: AH'SOGEAK), der Cheforganisator, nach Möglichkeit keine Stellung. Da ist er ganz Diplomat. Als freiwilliger Helfer hat er ohnehin genug zu tun, um die Veranstaltung auf die Beine zu stellen und durchzuführen. Aber das Risiko anderer möglicher Konflikte geht er mit einer selbstbewussten Haltung an. Der größte wäre sicherlich ein Streit mit dem Internationalen Olympischen Komitee und seiner amerikanischen Gliederung über die Verwendung des Wortes Olympic und die Ähnlichkeit des Emblems. Das IOC und seine Mitgliedsorganisationen haben in der Vergangenheit oft genug Anwälte von der Kette gelassen, um den exklusiven Anspruch auf Wort- und Markenzeichen durchzusetzen. Schon Gründer Pierre de Coubertin ging höchstpersönlich gegen eine Verwendung des Namens vor. 26:45 O-TON PERRY AHSOGEAK: "They have not notified us that we are doing something improper or something like that. We would say that all we are doing is a cultural event. This the way of our people. This is what we have been doing for hundreds of years. Even before the Olympics we were doing these games. We will ready for any kind of attack. We recognize the IOC. We recognize their trademark on the Olympics. We recognize that we can't recognize ourselves as part of the IOC. And we have no intention of doing so. We just want to be able to honor our games. Honor our traditions. Honor our culture. It's the native Olympics, it's the tribal Olympics, it's the village Olympics. It's a way to recognize who we are." VOICEOVER: "Sie haben uns nicht benachrichtigt, dass wir irgendetwas Unangemessenes tun. Wir organisieren nichts anderes als eine Kulturveranstaltung. So wie unsere Leute seit über hundert Jahren. Lange ehe es Olympische Spiele gab. Wir sind auf jeden Angriff vorbereitet. Wir erkennen das IOC und ihr Markenzeichen an. Wir wollen nur unsere Sportarten durchführen. Unsere Traditionen ehren. Unsere Kultur ehren. Mit der Olympiade der Eingeborenen, der Stämme und der Dörfer. Es ist eine Art, wie wir uns selbst gegenüber Anerkennung zeigen. Und zeigen, wer wir sind." 27:35 ATMO/MUSIK (bei Bedarf als Puffer): Wiederholung von "Dance Musik anonym 3 - erster Clip" vom Anfang bis zum Ende der 28 Minuten Sendezeit. 28:00 MUSIK "Down the Chena River" (Komponist und Produzent: Jürgen Kalwa, GEMA frei) Aufnahme beginnt mit 12 Sekunden ATMO: PJ Simon, Radiosprecher: "...bringing you a live rundown of today's event of the World Eskimo Indian Olympics. And now back to Tyler at the station for a word from our sponsors." 29:55 Fade out 1