COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 03. August 2009, 19.30 Uhr Irren ist menschlich - Fehlerkultur und Fehlermanagement in Deutschland Von Andrea und Justin Westhoff Regie: Musik, jeweils unter den O-Tönen 1-3 wegziehen und dazwischen hoch O-Ton 1: Es ist gar nicht so leicht, in den Spiegel zu schauen und zu sagen: ich habe Fehler gemacht, aber ich will die wieder gut machen. O-Ton 2: Das ist natürlich eine wichtige Aufgabe, Fehler bei den Schülern zu finden und das Ziel ist immer die Selektion: "Du bist gut, du bist nicht so gut, du gehörst hier nicht hin." Und solange das so funktioniert, hat die Schule eben ein schlechtes Vorbild für eine andere Art von Fehlerkultur. O-Ton 3: Ich glaube, dass man in Deutschland Fehler eben ernster nimmt und auch eher vorwirft. Regie: Musik, darüber Sprecher vom Dienst: Irren ist menschlich - Fehlerkultur und Fehlermanagement in Deutschland Eine Sendung von Andrea und Justin Westhoff Regie: Musik-Ende Sprecher: Michael Fuhrmann ist Spezialist für Flugsicherheit: O-Ton 4: Es ist ganz wichtig, eine offene Fehlerkultur zu haben, nicht die Arroganz zu haben, "ich bin unfehlbar", denn dann wäre das Gesamtsystem eigentlich gefährdeter. Sprecher: Keiner ist davor gefeit. Sachlich Falsches, kleiner Irrtum, großer Fehltritt oder Scheitern: Abweichungen vom "normalen" Verhalten mit entsprechenden Folgen kommen bei allen Menschen nahezu täglich vor, etwa: O-Ton 5: ... diese kleine Unterlassungssünde: Ich versuche irgendwie auf mein Fahrrad zu steigen und gleite mit dem linken Fuß ab und schlage mir die Nase blutig; eine andere Kategorie, das ist zum Beispiel der klassische Handlungsfehler: Ich tue etwas, was ich in dieser Situation nicht hätte tun sollen und es passiert etwas, was ich eigentlich gar nicht wollte. Sprecher: Psychologen wie Professor Stefan Strohschneider von der Universität Jena untersuchen die Gründe, aus denen Menschen Fehler machen. O-Ton 6: Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen Fehlern, die schlichtweg auf mangelndem Wissen beruhen: Sie sitzen in einem Flugzeug, und jetzt stirbt der Pilot, und Sie müssen jetzt auf einmal die Maschine fliegen, dann werden Sie dabei wahrscheinlich Fehler machen; eine andere Ursachenkategorie für Fehler ist die Tatsache, dass Menschen manchmal durch bestimmte Umweltbedingungen, vielleicht auch durch Müdigkeit einfach ihrer Umgebung nicht mehr genügend Aufmerksamkeit schenken , und sie übersehen irgendwelche Rahmenbedingungen, die dann diese an sich richtige Handlung möglicherweise zum Fehler werden lassen. Sprecher: "Irren ist menschlich", wusste schon der römische Philosoph Seneca. Perfektion ist nicht einmal wünschenswert, ohne Fehler ist kein Lernen, keine Entwicklung möglich. Oder wie Albert Einstein formulierte: Zitator: "Wer noch nie einen Fehler gemacht hat, hat sich noch nie an etwas Neuem versucht." Sprecher: Trotzdem kratzen Fehler am Selbstbewusstsein, sind ärgerlich und können manchmal katastrophale Folgen haben. Es kommt also auf den Umgang mit Fehlern an. Und der ist nicht nur individuell, sondern vor allem auch gesellschaftlich geprägt und kann sich folglich ändern. Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler sprechen von "Fehlerkultur". O-Ton 7: Was mir allerdings bisweilen prägnanter zu sein scheint, ist der Unterschied zwischen verschiedenen Berufskulturen. Hier haben sich in verschiedenen Branchen Stile des Umgangs mit Fehlern heraus entwickelt, die sich auch innerhalb einer Nationalkultur sehr deutlich unterscheiden. O-Ton 8: Sesamstraßenmusik Regie: Musik (am Anfang mit Vokals, dann instrumental) ? 0'20" bei 0'09" abblenden, darauf Zit. Zitator: Die Schule - Wiege unserer Fehlerkultur O-Ton 9: Fehler findet man natürlich im Lernprozess, und da gibt es fachliche Fehler, Rechtschreibfehler, Interpunktionsfehler, und dann gibt es Schwächen in der Ausdrucksfähigkeit und all diese Dinge, was eben alles nicht funktioniert. Sprecher: Jörg Freese ist Lehrer für Biologie, Geschichte und Ethik an einem Berliner Gymnasium. Fehler sind gewissermaßen sein Geschäft. Schon in der Grundschule wird daran nicht nur objektives Wissen gelehrt und gelernt, es soll auch soziale Kompetenz eingeübt werden, eine Aufgabe, die Schulen zum Teil vom Elternhaus übernehmen mussten. O-Ton 10: Da gibt es Schwächen im Kommunikationsverhalten, dass Schüler anderen nicht zuhören, Fehler finden sich im Sozialverhalten, dass Schüler sich gegenseitig fertig machen, dass sie sich nicht unterstützen gegenseitig, und umgekehrt auch begegnen uns auch eine ganze Reihe von Fehlern im Zusammenleben zwischen den Kollegen selbst, an denen man arbeiten müsste, aber dort ist das Selbstverständnis nicht ganz so im Vordergrund, dass es sich hier auch um Fehler handelt, sondern da geht es eher um gegenseitige Vorwürfe; und auch das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern. Sprecher: Freese hat zahlreiche Fortbildungen absolviert, unter anderem in Psychologie, fungiert mittlerweile als "pädagogischer Koordinator", und er macht sich folglich besonders Gedanken darum, dass junge Menschen auf ein System treffen, das selbst fehlerhaft ist. O-Ton 11: Ein großes Problem der heutigen Schule ist nach wie die Defizitorientierung, das heißt, dass Schule, also jedenfalls im Gymnasialbereich auch auf Selektion angelegt ist und damit sozusagen der Fehler eine Gewichtung bekommt, die er eigentlich von der Sache her nicht hat. Denn eigentlich ist ja Lernen ohne Fehler gar nicht möglich. Jedes Kind lernt vor allem durch Nachahmung und durch Fehlermachen: es probiert aus und verbessert sich. Und in der Schule werden diese Fehler natürlich auch gemacht, aber sie werden sofort sanktioniert. Und das ist ein Problem, was sozusagen Lernen verhindert. Sprecher: Sanktionieren bedeutet: schlechte Noten geben. Auf diese Art der Bewertung in der Schule gänzlich zu verzichten, wird immer wieder diskutiert. Sprecher: Da dies nicht isoliert von anderen Bereichen der Gesellschaft funktionieren kann, plädiert der Pädagoge zunächst für ein Umdenken in der Schule. O-Ton 12: Wenn es Lehrern gelingt, auch schwachen Schülern deutlich zu machen, dass sie nicht als Person, als Menschen fehlerhaft sind, sondern dass sie eben in bestimmten Qualifikationen Fehler machen. Viele Lehrer werfen das, glaub ich, in einen Topf, also das ist ja so die schwarze Pädagogik, dass Schüler eben nichts wert sind, weil sie eben nicht die Leistung bringen, die sich der Lehrer für sein Fach erhofft. Und damit entsteht auch so eine Fehlerkultur, die ich eben problematisch finde. Sprecher: Konkret könne dagegen helfen: O-Ton 13: Wenn im Bewusstsein der Lehrer stärker verankert ist, dass man zwischen Lern- und Leistungsphasen unterscheidet, und das vor allem auch gegenüber den Schülern transparent macht, dass man also deutlich sagt: Wir sind jetzt hier in einer Lernphase, hier sind Fehler erwünscht und erlaubt, und wir können hier aus unseren Fehlern gemeinsam lernen, ich mache Fehler, ihr macht Fehler, und wir entwickeln unseren Lernstoff anhand auch der Fehler. Wenn es aber nachher zu den Leistungsphasen kommt, also zu Klausuren, und zu Tests und so weiter, dass dann gezeigt werden kann und soll, was hab ich gelernt und das wird dann eben auch bewertet. Sprecher: Jörg Freese versucht selbst, Lern- und Leistungsphasen zu unterscheiden und Noten mitunter hintan zu stellen. Aber: O-Ton 14: Ich habe als Gymnasiallehrer 180, teilweise 240 Schüler in einem Schuljahr, und da ist es natürlich nicht immer erreichbar, was ich mir wünsche, nämlich eine individuelle Förderung, sondern da mach ich wahrscheinlich auch viele Fehler, wo Schüler vielleicht auch mal nicht den Lernerfolg haben, aber ich erlebe auch, wenn Schüler Referate halten, kleine Präsentationen machen, Extraaufgaben machen, dass sofort auch bei den Schülern der Wunsch nach der Note da ist. Sprecher: Der Zwang, bewertbare Leistung zu zeigen, scheint früh angelegt. Auch manche Eltern schauen häufig ausschließlich auf die Noten, wenn es um den schulischen Alltag ihrer Kinder geht. O-Ton 15: Das ist halt eine Fehlerkultur, die in unserer Kultur verankert ist, mit der wir groß geworden sind, und aus der es eben schwer ist auszusteigen. Sprecher: Hinzu kommt, dass Lehrer offenbar selbst oft Probleme im offenen Umgang mit Fehlern haben. O-Ton 16: Ich glaube, dass es eine Berufsdeformation ist, dass Lehrer, die ständig nach Fehlern suchen müssen, an sich selbst den Anspruch haben, fehlerfrei zu sein. Natürlich kann ich nicht alle Nase lang irgendwelche Fehler machen, ist doch ganz klar. Aber ich mache die Erfahrung, wenn ich unsicher bin im Lernstoff, wenn ich selber mich als Lernender darstelle, dann laufen Unterrichtsstunden oft viel, viel spannender und produktiver, als wenn ich so der Allwissende bin, der nur die Funktion des Korrektors hat. Sprecher: Nicht nur in der Schule: Fehler gehören zu jedem fruchtbaren Lernprozess im Alltag, meint Fehlerforscher Professor Stefan Strohschneider. O-Ton 17: Man macht bestimmte Dinge, man erreicht nicht das, was man will, man kriegt Gegendruck, dann merkt man, dass war ein Fehler. Woher soll ich das sonst wissen, insofern bergen sie Lernpotential in sich. Wenn ich jetzt von dieser Alltagswelt weggehe und ich betrachte jetzt den Bediener eines Kernkraftwerkes, würde ich es natürlich nicht so toll finden, wenn dieser aus Fehlern sehr viel lernt, der sollte das vorher wissen; Was den Umgang mit Fehlern in solchen Systemen betrifft, deutet sich in den letzten zehn Jahren ein ganz bemerkenswerter Wandel der Perspektive an. O-Ton 18: Atmo Flughafen Regie: (gesamt: 0'31") darauf Zitator bei 0'12" Zitator: Mensch und Technik - Fehlertoleranz und Fehlerfreundlichkeit Regie: Atmo abblenden, darauf: Sprecher: Menschen können eine Fehlentscheidung treffen oder den falschen Knopf drücken. Und auch technische Systeme sind nie perfekt. Modernes Fehlermanagement muss dafür die notwendige Offenheit aufbringen. Zum Beispiel, wenn gleichzeitig viele Flugzeuge auf Rollfeldern und in der Luft sicher unterwegs sein sollen. O-Ton 19: Reportage Flughafen-Tower (? 3'55") Funkverkehr: "Lufthansa ... short auf Mike" Reporterin: Flughafen-Tower Düsseldorf, Rundumsicht in 80 Metern Höhe. Michael Fuhrmann, gelernter Flugberater, jetzt Pressereferent der Deutschen Flugsicherung Nordrhein-Westfalen, über die Aufgaben der verschiedenen Lotsen hier oben. Fuhrmann: Hier hinten auf der Position haben wir den ersten Kollegen, das ist immer der Erstkontakt zum Tower, wenn der Pilot dann die Triebwerke anlassen möchte; steht die Maschine dann so auf dem Vorfeldbereich, meldet sie sich direkt hier nebenan bei dem zweiten Kollegen, er führt den Piloten jetzt bis vorne hin zum Startbahnkopf und übergibt dann die Maschine an den dritten Kollegen vorne, das ist der klassische Platzlotse - "clear for take off / clear to land" - der gibt also die Start- und Landefreigabe. Reporterin: Nach dem Start übernehmen wiederum andere, die Radarlotsen, die sich auf vier Kontrollzentren in Deutschland verteilen. Die Tower-Lotsen auf den einzelnen Flughäfen sind also vor allem für abfliegende und ankommende Flugzeuge zuständig, so wie hier in Düsseldorf Rolf Sugland, der seit 30 Jahren im Beruf ist. Funkverkehr Sugland: Das war die letzte Landung, die jetzt dem Rolllotsen übergeben wird, und als nächstes kommt der Start dran. Funkverkehr: ... clear for Take Off. Reporterin: Die Verantwortung ist groß, Fehler oder auch nur Missverständnisse könnten fatale Folgen haben. Sugland: Die Sprechcodes, die man für alles benutzt, sind sicherlich immer die gleichen und sollen es ja auch sein, und deshalb wirkt das vielleicht auch manchmal ein bisschen öde, wenn man immer und immer wieder das gleiche sagt, so lange, bis wir beide dasselbe gesagt haben. Funkverkehr: "Air Berlin ... take off." Sugland: Routine ist wichtig, sollte aber nicht zur Routine werden. Reporterin: Dazu dient auch die doppelte Besetzung. Direkt neben Rolf Sugland gibt eine Kollegin am Computer die aktuellen Flugdaten ein. Funkverkehr: 3 Minuten ... kriegen wir gerade hin" Fuhrmann: Sie hat zum Beispiel grade ein kurzes Koordinationsgespräch geführt mit dem zuständigen Kontrollzentrum in Langen bei Frankfurt, wo die Lotsen sitzen, die eben den Anflug nach Düsseldorf kontrollieren, und da werden eben dann auch immer Rücksprachen geführt, wenn irgendwas besonderes ungewöhnliches ist ... Funkverkehr Sugland: Wir überprüfen praktisch gegenseitig, ob wir auf dem gleichen Stand sind. Funkverkehr: Alles ... angekündigt ... ach so, gut ... Turkish ... two, three. Reporterin: Trotz mehrfacher Absicherung können Probleme auftreten, die aber sind so gut wie nie Folge eines einzigen gravierenden Fehlverhaltens oder Technikproblems. Sugland: Eine Summe von Kleinigkeiten, das ist das, was zu Fehlern führt, am meisten jedenfalls, es ist nicht eine dicke Sache, sondern viele Kleinigkeiten, die dann in irgendeinem Fehler kumulieren. Fuhrmann: Sie können halt nie sagen, das ist eine Fehlerquelle, wenn sie uns bekannt wäre, hätten wir sie ja ausgeschaltet grundsätzlich. Wenn Sie zum Beispiel Vorgaben haben, dass die Maschinen auf einer Ebene fünf Meilen auseinander zu halten sind, und wenn sie sich in der Höhe passieren, 1000 Fuß auseinander sind, sollte das eben nicht der Fall sein, dass man vielleicht eine Geschwindigkeit falsch eingeschätzt hat oder auch die Windgeschwindigkeit falsch eingeschätzt hat, und es sind dann eben nicht mehr fünf Meilen, sondern es sind dann nur noch 4.8 Meilen, dann ist das zwar nicht gefährlich, es ist aber trotzdem ein Unterschreiten dieser Sicherheitsminima, und das sind dann eben solche Fälle, die dann bei uns ausgewertet werden, dass man eben schaut, wie können wir das in Zukunft vermeiden; das ist eigentlich ein ständiger Lernprozess. Reporterin: Dieses Lernen beginnt selbstverständlich schon in der Ausbildung. Auch das Fehlerbewusstsein. Und wegen der intensiven Schulung fühlt sich auch die noch junge Fluglotsin Miriam weit gehend sicher. Miriam: Angst hat man eigentlich nicht, denn wenn man sich die ganze Zeit beim Arbeiten überlegt, da könnte jetzt was schief gehen, dann kann man nicht sicher und flüssig arbeiten. Man hat natürlich immer ein Plan B in der Tasche, dann gehört es ja auch dazu, bei anderen Kollegen drauf hinzuweisen, wenn man selber nicht weiß, ist das jetzt gesichert oder nicht; man ist sich des Risikos zwar bewusst, aber es ist nicht so gegenwärtig; es ist auch schön, wenn man sich immer wieder beweisen kann. Funkverkehr: "Schönen guten Morgen ... guten Tag gesagt." O-Ton 20: Atmo Flugzeug Regie: (? 0'14") leise unter letzen Funkverkehr (s.o.) ziehen, kurz frei stehen lassen und unter folgendem Spr. wegblenden Sprecher: Die intensive Beschäftigung mit dem Thema Fehler nicht nur im Flugverkehr verstärkte sich in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die AKW-Unfälle von Harrisburg und Tschernobyl etwa machten klar, dass für Hochrisiko-Techniken eine neue Fehlerkultur notwendig ist. Professor Stefan Strohschneider von der Universität Jena: O-Ton 21: Man hat in vielen Bereichen über lange Jahre und Jahrzehnte hinweg versucht, die Fehlerwahrscheinlichkeit dadurch zu reduzieren, dass man den Faktor Mensch aus der Steuerung dieser Systeme zunehmend raus genommen hat. Dass man also technische Systeme eingeführt hat, die man dann ohne weiteres auch einfach, zweifach, dreifach redundant gestalten konnte, damit der Mensch einfach keine Möglichkeit mehr hat, Fehler zu machen. Sprecher: Auf mehrfach abgesicherte, fehlertolerante Technik setzt man auch in der Deutschen Flugsicherung, wie Michael Fuhrmann schildert. O-Ton 22: Fuhrmann (0'16") Es gibt auch zum Beispiel sowohl in den Cockpits als auch bei uns an den Radargeräten Kollisionswarnsysteme, Systeme, die auf Staffelungsunterschreitungen hinweisen, so dass eine mögliche kleine Fehleinschätzung, die durchaus passieren kann, nicht eine direkte Auswirkung hat, sondern dass sie da eine Sicherung drin haben. Sprecher: Aber die "neue Fehlerkultur" beschränkt sich nicht auf technische Systeme allein. Das zeigt sich besonders in kritischen Situationen. O-Ton 23: Dann erweist sich nämlich, dass Menschen sehr häufig die Kapazität haben, ein bereits fehlerhaft funktionierendes System zu retten, also wieder auf die richtige Spur zu bringen, und das bedeutet, sie dürfen nicht komplett durch Technik ersetzt worden sein. Also haben wir hier die Herausforderung eine Balance zu finden zwischen der Ersetzung menschlicher Fehlerwahrscheinlichkeit durch technische Sicherheit und der Aufrechterhaltung der Widerstandfähigkeit eines solchen Systems durch den Beitrag des Menschen. Und wenn man das möchte, dann ist Voraussetzung dafür, nicht zu verhindern, dass Fehler überhaupt gemacht werden, sondern zu verhindern, dass Fehler, die selbstverständlich gemacht werden, schlimme Konsequenzen haben. Sprecher: Es war der politisch engagierte Naturwissenschaftler Ernst-Ulrich von Weizsäcker, der dafür den Begriff "Fehlerfreundlichkeit" geprägt hat. Mit dem "irrenden Menschen" muss gerechnet werden, aber ohne ihn zu verdammen, vielmehr durch systematische Auswertung seines Handelns. O-Ton 24: Dass man eben sagt, wir sind auch nur Menschen, Fehleinschätzungen können passieren, und deswegen werden diese Fälle ganz detailliert untersucht, allerdings eben nicht, dann zu sagen 'du warst schuld; Wenn Sie ein Bestrafungssystem einführen, laufen sie ganz einfach Gefahr, dass mögliche Fehler oder Fehleinschätzungen eben auch unterschlagen werden, und erhöhen damit die Gefahr, dass die Fehler irgendwann gravierende Auswirkungen haben können. Und deswegen ist es für uns wirklich essentiell wichtig, diese Fehlerkultur zu haben: es steckt kein Sanktionsprinzip dahinter, es wird analysiert, wie konnte es dazu kommen, und es wird dann aber auch in zukünftigen Schulungsmaßnahmen eingeführt. Sprecher: Genauso wichtig ist, von vornherein die geeigneten Menschen für solche Aufgaben zu finden. Michael Fuhrmann schildert das Auswahlverfahren: O-Ton 25: Da geht's um bestimmte Eigenschaften: Multitasking, räumliches Vorstellungsvermögen, Konzentration und Belastung, und nur wer die richtige Kombination hat, ist später nach der Ausbildung dann auch in der Lage diesen Beruf auszuführen, und ich denke, das sieht man eben auch: Man ist zunächst oft überrascht, wie scheinbar entspannt die Stimmung dort ist, das heißt, das sind eher bedachtere Leute, die eben auch in kniffligen Situationen einen kühlen Kopf bewahren, um dann eben ganz präzise ihre Entscheidungen zu treffen. O-Ton 26: Collage "Wirtschaftskrise" (0'16"+0'06" Atmo) Aktien also im Sinkflug ... von der Frankfurter Börse. Regie: Titel auf Collage nach 0'16" auf Atmo Münzen Zitator: Ökonomische Krisen: Scheitern und zweite Chance Sprecher: Fehlende Kontrollen im weltweiten Finanzsystem, gravierende Managementfehler, Pleiten von großen und auch kleinen Unternehmen - egal ob selbst verschuldet oder nicht, für Viele sieht das Leben plötzlich sehr anders aus. O-Ton 27: Als es so weit war, dass ich wirklich Insolvenz anmelden muss, da stellte sich die Frage für mich, wer ich bin. Sprecher: Die Engländerin Anne Koark lebt seit über 20 Jahren in der Bundes- republik. 1999 gründete sie eine Firma, um ausländische Unternehmen in Deutschland zu betreuen. Alles lief großartig - dann kam der 11. September 2001. Viele ihrer Kunden gingen Pleite, US-Investoren mieden Europa. 2003 kam das endgültige Aus für Koarks vorher hoch gelobtes Unternehmen. O-Ton 28: Wenn die Insolvenz tatsächlich da ist, dann ist es tagtäglich ein Kampf. Man muss ja mit dem Geld, das einem übrig bleibt nach den Pfändungen, zurecht kommen, es ist sehr schwierig zu lernen, dass man Menschen sagen muss: 'Das kann ich mir nicht leisten', aber vor allen Dingen wird man erdrückt von der Verantwortung, die Verantwortung gegenüber den Kindern - ich bin ja allein erziehende Mutter von zwei Kindern -, die Verantwortung gegenüber den Gläubigern, und die Verantwortung gegenüber den Mitarbeiterinnen. Sprecher: Eine Insolvenz gilt als drastischer Bruch in der Biographie. O-Ton 29: Also ich denke, ein Scheitern ist erst einmal ein Schock (lacht). Sprecher: ... erinnert sich Anne Koark. Und sie weiß um eigene Versäumnisse. O-Ton 30: Wir sind sehr schnell gewachsen, und ich hatte einen langfristigen Mietvertrag unterschrieben, ich hatte auch vergessen in der Euphorie des Startens, mich darum zu kümmern, was passiert, wenn es schief geht. Allerdings finde ich, dass es nicht wichtig ist, einen riesigen Schuldtopf aufzutun. Denn ich kann ja nicht zurückgehen, ich kann das nicht ändern. Es ist wichtig zu analysieren und die Lerneffekte mit zu nehmen für die Zukunft, zum eigenen Schutz. Sprecher: Ihre Analyse hat sie zu einem Buch verarbeitet und ist danach zu etlichen Vorträgen eingeladen worden. Aus Fehlern zu lernen, so stellte sie zunächst fest, fällt vielen Menschen schwer. O-Ton 31: Kaum ein Mensch will freiwillig sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Und ich finde das sehr merkwürdig, denn wir lernen immer voneinander, und es muss nicht sein, dass jeder den gleichen Fehler macht. Ich finde es erstaunlich, das man manchmal meint - jetzt das Thema Insolvenz als Beispiel für Scheitern - sei ansteckend. Sprecher: In die Insolvenz zu gehen, heißt - jedenfalls bei uns - oft nicht nur, einen Fehler gemacht haben, sondern bedeutet, ein Versager, als Mensch im Ganzen gescheitert zu sein. O-Ton 32: Bei uns in England ist das Scheitern kein Problem. Wir sagen: Der Versager ist nicht der, der scheitert, der Versager ist der, der danach nichts macht. Und ich denke, das ist ein kulturelles Problem in Deutschland dass man so fürchterlich Angst hat mit diesem Thema, dass man das ausblendet. Sprecher: Die Britin hat sich ihren Blick von Außen auf die deutsche Fehlerkultur auch nach 20 Jahren bewahrt. O-Ton 33: Ich denke, dass Deutschland auch geschichtlich sehr große Angst vor'm Scheitern gehabt hat. Wobei ich das als Engländerin überhaupt nicht nachvollziehen kann. Meine Oma hat immer gesagt: Wenn Du wissen willst, wie man mit Schwierigkeiten umgeht, schau' Dir Deutschland an. Die haben aus der größten Pleite aller Zeiten ein Wirtschaftswunder geschaffen; sie reißen Mauern runter, wenn es sein muss; die können das. Und ich finde es so schade, dass man in Deutschland vergessen hat, dass das Wiederaufstehen nach dem Scheitern eine uralte deutsche Tugend ist. Sprecher: Anne Koarks Buch mit dem Titel "Insolvent und trotzdem erfolgreich" ist aber gerade in Deutschland ein Bestseller geworden - womöglich doch ein Zeichen für den Wunsch, von der angelsächsischen Fehlerkultur zu lernen. Dort gelten Unternehmer nach Insolvenzen als besonders erfahren. Walt Disney etwa war pleite, bevor er mit Mickey Mouse groß heraus kam, der Gründer der Imbisskette McDonalds war zuvor ein völlig erfolgloser Immobilienmakler. Insgesamt aber ist das öffentliche Einräumen von Fehlern nicht nur in der Wirtschaft, sondern gerade auch in der Politik noch immer selten. O-Ton 34: Collage Politiker/Fehler Deshalb ist dieser Weg auch falsch ... (Clement / Bush / Merkel /Koehler / Obama / Ypsilanti / Korrespondenten) ... es wird nicht wieder vorkommen. Zitator: Zwischen Vertuschen und Verantwortung - Vom Umgang mit Fehlern in der Gesellschaft Sprecher: Menschen in der Öffentlichkeit werden häufig mit ihren Fehlern konfrontiert. Noch am ehesten sprechen ältere, erfahrene Politiker über eigene Irrtümer. O-Ton 35: Auch bei mir ist es natürlich immer wieder vorgekommen, dass ich nicht genügend Sachkunde eingeholt habe, um Fehler zu vermeiden. Sprecher: Christian Ströbele, von Hause aus Rechtsanwalt und seit langem Bundestagsabgeordneter für die Grünen, findet es besonders wichtig, Einschätzungen zu überprüfen und erinnert sich an ein eigenes Beispiel. O-Ton 36: Zu Anfang meiner politischen Sozialisation, als ich mich in der außerparlamentarischen Opposition engagiert habe, war ich dezidiert der Auffassung, dass die Atomkraft was sehr Fortschrittliches ist, weil die eine Energie, eine Kraft ist, die ganz neue Freiräume für die Zukunft erschließt. Ich habe dann zunächst mit einem gewissen Lächeln das Aufkommen der Anti-AKW-Bewegung registriert mich nicht näher damit beschäftigt, und dann aber einige Zeit später war ich dann auch überzeugt, das ist nicht der Weg der Zukunft, sondern das ist ein Irrweg, der die Menschheit insgesamt in Gefahr bringt. Und dann habe ich mich heftig auch dagegen engagiert und agiert. Sprecher: Meistens gelten Meinungsänderungen oder Kurswechsel in der Politik als falsch. Dem widerspricht Ströbele, grenzt Lernfähigkeit aber von opportunistischen Kurswechseln ab: O-Ton 37: ... dass man sich in bestimmten inhaltlichen Fragen festlegt, und dass man kurze Zeit später, wenn die Situation es zu erfordern scheint, davon abrückt, - und jetzt kommt das Schlimme - ohne sich überhaupt die Mühe zu machen, genau zu erklären, was sich inzwischen verändert hat, sondern man tut eigentlich so, als wenn man das immer so gesagt hat. Sprecher: Für offene Kommunikation tragen Volksvertreter ebenso Verantwortung wie für die Ergebnisse ihrer Arbeit - oder müssten es tun. O-Ton 38: Gerade am Umgang mit Fehlern zeigt sich, ob man bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, und kann sich auch die Bedeutung - oder ich will mal übertreiben - die Größe eines Politikers zeigen. Sprecher: Nicht nur Politikern fällt Verantwortungsübernahme schwer. Eingebürgert hat sich ein anderes Verhalten, das Stefan Strohschneider so beschreibt: O-Ton 39: Dann ist die erste Reaktion: "Oh hat das jemand mitgekriegt?" Dann werde ich rot, dann fange ich an zu stottern, und dann sage ich "oh Entschuldigung, war nicht so gemeint", und wenn das niemand mitgekriegt hat, dann spitze ich die Lippen zu einem fröhlichen Pfeifen und gehe davon. Sprecher: Laut internationalen Studien ist unsere Fehlerkultur vorwiegend von "blame-and- shame" geprägt: Wo Fehler nicht vertuscht werden, schiebt man die Schuld auf jemanden anderes und verurteilt diesen. Um der damit einhergehenden Lernunfähigkeit und Lähmung zu begegnen, wäre ein ganz anderer Umgang mit Irrtümern notwendig - angefangen in der Schule. Lehrer Jörg Freese schlägt vor: O-Ton 40: Ich mach ja auch Theaterarbeit mit Schülern, da geht's ja ganz stark darum Feedback zu geben, also was ist gelungen, was ist nicht gelungen. Und da gibt es immer Schüler, die sehr souverän mit so einem Feedback umgehen: und man sagt ihnen was, und sie probieren sofort was Neues aus, und entwickeln sich dadurch. Und dann gibt es andere Schüler, die fangen sofort an sich zu rechtfertigen. Und das kann man auch übertragen, dass man so eine Feedback-Kultur entwickelt: also: "Nimm's an, was ich beobachte und mach was draus." Sprecher: Auch die Unternehmerin und Autorin Anne Koark fordert einen offenen Umgang mit Misserfolgen, eine "Kultur der zweiten Chance". O-Ton 41: Ich finde, dass Kinder auch lernen müssen von den Eltern, wie geht man mit schwierigen Situationen um? Wir hemmen die Innovation mit der Angst vor dem Scheitern. Sehr viele Menschen mit guten Ideen trauen sich nicht, etwas zu machen, falls es schief geht. Und ich denke, dass das ein Erfolg ist für jeden Menschen, ein persönlicher Erfolg, wenn er wieder aufsteht in einer schwierigen Situation, weil Erfolg erfolgt aus den Erfahrungen, die man gemacht hat. Sprecher: Zwar wird die "offene Fehlerkultur" in der Wirtschaft viel beschworen, aber sie wird nur selten umgesetzt. Dahinter steht die Angst, damit dem Ruf des Unternehmens zu schaden. Hinzu kommt das Missverständnis, es handele sich um einen Freibrief für Schlamperei oder Unfähigkeit. Fehlerforscher Strohschneider plädiert hingegen für die Umsetzung des alter Grundsatzes: Nur aus Fehlern kann man lernen. O-Ton 42: Das ist ein Gedanke, der ja im Moment im Bereich der Medizin zum Beispiel ganz stark propagiert wird, dass die Vorrausetzung erfolgreichen Fehlermanagements darin besteht, vernünftige Fehlerberichtssysteme zu etablieren. Dazu gehört als ganz wesentliche Voraussetzung die Existenz von Vertrauen, also die Sicherheit, dass die mich nicht in die Pfanne hauen, sondern dass die mir dabei helfen, so was zu vermeiden, dass die das auch als Chance für sich selbst begreifen, und ich denke, dass das viel weiter hilft beim Umgang mit Fehlern. Sprecher vom Dienst: Irren ist menschlich - Fehlerkultur und Fehlermanagement in Deutschland Eine Sendung von Andrea und Justin Westhoff Es sprachen: Joachim Schönfeld und Helmut Gaus Ton: Bernd Friebel Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2009 1