COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 18. Oktober 2007 Redaktion: Peter Kirsten Ein alltägliches Leiden Neue Theorien über das Stottern Von Godehard Weyerer CUT 01: 2-A) 345-347 0:05 (Spitz) Also ich glaube, das Peinliche mit dem Stottern, das habe ich einigermaßen hinter mir. SPR. 1: Elisabeth Spitz, 54 Jahre alt, stottert seit ihrer Kindheit, arbeitet in der IT-Branche. Viele Therapien hat sie hinter sich. Die letzte endete vor drei Monaten. Weiche Stimmeinsätze, die Silben miteinander verbinden, den Taktfehler in der Sprechmotorik überlisten. Am Arbeitsplatz maild sie lieber, statt zu telefonieren. Das soll sich jetzt ändern. CUT 02: 2-A) 244-251 0:29 (Spitz) Aber ich will jetzt auch nicht behaupten, dass nun diese Therapie das A und O für alle Stotterer ist. Jeder muss seine individuelle Therapie haben. Ich habe Freunde, die in der gleichen Therapiegruppe sind, ein 16jähriges Mädchen, das rief mich kürzlich an und sagte, in der Schule hätte sie ordentliche Probleme. CUT 03: 1-B) 509-513 0:18 (Ohm) In der Familie stottere ich ziemlich wenig. Das Stottern, was ich jetzt habe, ist Mittelmaß ungefähr. Es ist nicht so stark. Es geht. SPR. 1: Friedrich Ohm aus Berlin, 21 Jahre alt, stottert, seitdem er spricht, ist vor einem halben Jahr nach Hamburg gezogen, studiert dort Medizin. Als Arzt muss er jeden Tag mit seinen Patienten reden. CUT 04: 1-B) 395-404 0:30 (Ohm) Ja, ich habe darüber nachgedacht. Könnte manchmal ein bisschen schwieriger sein, aber ich denke, generell kommt es nicht so sehr darauf an, ob man stottert oder nicht, sondern dass man ein guter Arzt. Ich kann mir vorstellen, dass es manchmal Probleme am Anfang gibt CUT 05: 1-A) 556-559 0:20 Wulf) Also für mich war diese eher tiefenpsychologische Betrachtungsweise hilfreich. Ich will das andere nicht bewerten, ob das gut oder schlecht ist. Aber, ich find das andere besser, weil es war mir klarer dadurch, was ich da tue. SPR. 1: Herbert Wulf, 54 Jahre. In der Familie seiner Mutter waren sieben Kinder an Scharlach gestorben. Als der Zweieinhalbjärhige daran erkrankte, war die Aufregung groß. Scharlach bedeutete damals, 1955, Quarantäne, Krankenhaus, Isolierstation. CUT 06: 1-B) 350-369 1:02 (Wulf) Das heißt, es gab keinen Kontakt. Das hat man mir nachträglich erzählt, insgesamt war ich acht oder zehn Wochen da. Ich kann mich daran erinnern, dass meine Eltern mich durch so eine Scheibe gesehen habe, die konnten mal gucken. Und ich habe nicht verstanden, warum kommen die nicht. Das muss auch ein traumatisches Erlebnis gewesen sein. Heute erkläre ich mir das, dass ich mich mit dieser Erfahrung von der Kontaktzuverlässigkeit verabschiedet habe. Sieh zu, dass du auf dich gestellt bist und dann gibt es keine Probleme, habe keine Erwartungen. Diese Überlebensstrategie, hab keine Erwartungen, erwarte nichts, am besten auch nicht an andere glauben. weil die Kontakte je nicht stabil sind, das widerstrebt eigentlich der Sprachentwicklung, die eigentlich genau entgegengesetzt immer mehr das Kontaktmedium hofiert. Dass in dieser Phase irgendetwas schief läuft und blockiert wird, ist mir im Nachhinein ganz logisch. SPR. 1: Als Herbert Wulf wieder nach Hause kam, stotterte er. Die Eltern, voller Sorge, gaben ihr Bestes. Aber der Sprachfehler, erinnert er sich, wuchs sich trotzdem zu einem handfesten Symptom aus - oder gerade deswegen. SPR. 2: Stottern tut weh. Gesichtsmuskeln verkrampfen, Arme rudern, der Kopf wackelt hin und her, der Oberkörper neigt sich vor und zurück. 800.000 Menschen stottern in Deutschland ? ein Prozent der Bevölkerung. Wer stottert, den überkommt eine Flut negativer Gefühle. Angst, Scham, Peinlichkeit, Minderwertigkeitsgefühle. Das Verhängnisvollste ist wohl die Wut auf sich selbst. Katrin Neumann, Humangenetikerin und Neurowissenschaftlerin an der Universität Frankfurt am Main, erinnert an Demosthenes, den berühmten griechische Redner, der als junger Mann unter Sprachproblemen litt und der Legende nach mit Kieselsteinen im Mund gegen den Lärm der Meeresbrandung angesprochen und das Stottern überwunden haben soll. CUT 07: B) 14?41 1:16 (Neumann) Stottern ist eine Störung des Sprechablaufes, die schon sehr lange die Menschheit interessiert. Man hat sich schon um Ursachen des Stotterns gekümmert in der griechischen Antike und noch früher, weil es so eine Sprechstörung war, die einen so sehr weit neben die übrigens Gesellschaft stellt. Man hatte die verschiedensten Erklärungsmuster, warum diese Kontrolle nicht möglich ist. Zum Beispiel dachte man lange Zeit, es wäre ein Problem der Zunge oder der Sprechwerkzeuge. Anfang diesen Jahrhunderts, vor allem im europäischen und deutschsprachigen Raum, hat man dann sehr an eine Persönlichkeitsstörung geglaubt, auch später in den 50er Jahre mehr an so etwas wie eine Art Überforderungsauswirkung der Kinder durch ungünstige Erziehung insbesondere durch ihre Eltern. Das alles scheint sich aber nicht zu bewahrheiten. Sondern es scheint eine Störung der Kontrolle der Sprechbewegungen durch das Gehirn zu sein, insbesondere eine Störung der Kontrolle der zeitlichen Abstimmung von ganz kurzen Schritten in der Sprachproduktion durch das Gehirn. SPR. 2: Als Folge einer organisch bedingten Störung stuft die Frankfurter Professorin das Stottern ein; ein Defekt in der Hirnstruktur bedingt den Sprachfehler. Diese strukturellen Anomalien hat die Wissenschaftlerin kürzlich in Untersuchungen mit 16 stotternden und 16 nicht- stotternden Versuchspersonen nachgewiesen. Aber ist damit auch schon die Frage beantwortet, wie es zu diesem neuronalen Verschaltungsfehler gekommen ist ? und warum? CUT 08: B) 44?50 0:22 (Neumann) Doch, man ist sich eigentlich ziemlich sicher. Man hat ein Gefüge, was zusammenpasst aus den Ursachen. Nur wissen wir eben, dass es doch eine multifaktorielle Ursachenkonstellation ist. Man weiß zum Beispiel, dass der Hauptanteil der Ursachen des Stotterns genetisch bedingt ist ? über 70 Prozent. SPR. 2: Katrin Neumann verweist auf Zwillingsstudien aus den USA. Die Wahrscheinlichkeit, dass eineiige Zwillinge stottern, liegt demnach vier bis fünf Mal so hoch wie das gleichzeitige Auftreten des Stotterns bei zweieiigen Zwillingen oder bei gleichgeschlechtlichen Geschwistern. CUT 09: B) 50-94 0:59 (Neumann) In stotternde Familien liegt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Kind Stottern entwickelt, etwa bei 15 Prozent - verglichen mit Kindern aus nicht-stotternden Familien. Das scheint also eine der Ursachen zu sein. Eine andere Ursache, die möglicherweise durch diese genetischen Andersartigkeiten bedingt sind, liegt in bestimmten hirnmorphologischen Abweichungen der Gehirne von Stotterern verglichen mit Nicht-Stotterern. Das sind zum Beispiel veränderte oder mehr Hirnwindungen, die auftreten, oder eine abgeschwächte Asymmetrie zwischen den Hirnhemisphären, diese Asymmetrie ist etwas aufgehoben bei Stotterern. Und dann gibt es eben noch eine fehlerhafte Verbindung zu tieferliegenden Hirnstrukturen, die für schnelle zeitliche Abläufe von Bewegungsprogrammen zuständig sind. SPR. 2: Neuro-radiologische Techniken wie Computer- oder Kernspintomographie haben in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht und liefern immer schärfere Bilder mit kräftigen Konturen und klaren Kontrasten zwischen den verschiedenen Gewebesorten im menschlichen Hirn. Das Sprachzentrum liegt in der linken Gehirnregion. Stotterer weichen in die rechte Hälfte aus. Lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen Stotter-Stärke und Art und Umfang des Verschaltungsfehlers im Hirn? CUT 10: B) 278-284 0:32 (Neumann) Den Umfang des Verschaltungsfehler können wir noch nicht recht abschätzen. Aber wir wissen, dass starke Stotterer viel weniger Aktivierung im Hirn zeigen als schwache Stotterer. Das heißt schwache Stotterer greifen offenbar erfolgreicher zu mehr Gehirnregionen, die sie noch in die Sprechprozesse und Sprechflüssigkeit mit einbeziehen können. Bei starken Stotterern funktioniert das offenbar nicht richtig. SPR. 2: Auch andere Fragen bleiben offen: Warum stottern fünfmal soviel Männer wie Frauen? Wieso verlernen manche das Stottern, andere nicht? Andererseits weiß man mittlerweile, dass sich psychische Erkrankungen in körperliche Symptome niederschlagen. Bei Depressionen etwa kommt es zu Störungen im Neurotransmittersystem. Neurotransmitter sind biochemische Stoffe, die Informationen von einer Nervenzelle zu nächsten weitergeben. Impulsunterbrechungen lassen sich radiologisch sichtbar machen, womit trotz allem technischen Fortschritts noch nichts über die Ursache und den Auslöser der Depression gesagt wäre. Kann es sich beim Stottern ähnlich verhalten? Können Eltern das Stottern ihres Kindes verursacht haben? Ist Stottern vielleicht doch ein psychisches Problem? CUT 11: 2-A) 97-100 0:02 (Heap) Nein, ganz klar ein ganz großes Nein. SPR. 2: Ruth Heap, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Stotterer- Selbsthilfe. Das A und O ist ihrer Ansicht nach die Enttabuisierung. CUT 12: 2-A) 97-113 0:52 (Heap) Stottern ist ursächlich einfach ausgedrückt körperlich bedingt, das heißt, dass es eine motorische Störung ist. Wir wissen aus neueren Forschungsuntersuchungen, dass ganz bestimmte Nervenimpulse im Sprachzentrum nicht richtig ankommen. Das heißt auch, dass Stottern wirklich eine körperliche Ursache hat. Alles andere, was man dann erlebt, dass ein Kind sich zurückzieht, diese psychosoziale Seite des Stotterns, die verursachen wir halt mit durch unseren falschen Umgang mit Kindern, die halt mal holpern, bei denen die Wörter mal hüpfen, die einfach stecken bleiben. SPR. 2: Die Bundesvereinigung gründete sich 1979. Erste Selbsthilfegruppen gab es bereits seit 1970. Das Stottern bzw. der Wunsch, es zu vermeiden, beherrscht das Leben. Spott und Ablehnung, Mitleid und Verlegenheit führen zum Rückzug. CUT 13: 2-A) 148-167 1:04 (Heap) Wenn einfach Menschen, wir alle, mit stotternden Kindern so normal umgehen lernen wie es ist, wenn Kinder laufen lernen, dann muss Stottern keine lebenslange Behinderung werden. Mit laufen lernen meine ich, wir sollten uns erinnern, wie reagieren wir, wenn Kinder laufen lernen und es hinfällt. Wir trösten, wir machen Mut, wir zeigen einfach Verständnis. Das sollte man mit stotternden Kinder auch tun. Das, was Stottern wirklich so schlimm macht, ist für die Eltern die Angst, wenn sie merken, dass ihr Kind stottert.. Mit der Enttabuisierung meine ich einfach wirklich den offenen Umgang damit. Und Eltern sollten dann nicht mehr davor Angst haben, dass ihr Kind gehänselt wird in der Schule, dass es benachteiligt wird. Aber das ist aktuell noch der Fall, weil das Wissen über das Stottern in unserer Gesellschaft einfach falsch und schlecht ist. CUT 14:.1-A) 98-100 0:17 (Wulf) Früher mal zeitweise ja, da habe ich gedacht, die haben alles falsch gemacht, aber das war so die pubertäre Zeit. Aber ich denke, dass kein Elternteil etwas bewusst falsch macht. Sie haben es so, wie sie es machen können, und haben es nicht anders gewusst. CUT 15:. 1-B) 542-547 0:26 (Ohm) Also, meine Eltern waren auf jeden Fall nicht panisch oder so. Sie haben sich natürlich schon Gedanken darüber gemacht und haben auch Hilfe geholt. Ich war von der ersten bis zur vierten Klasse auch in der Sprachheilschule, was mir aber nicht geholfen hat. Also es war eine schöne Zeit, die Schule war in Ordnung, aber mit dem Stottern hat es mir, glaube ich, nicht geholfen. SPR. 1: An regulären Schulen fallen stotternde Schüler häufig gar nicht auf ? nicht den Mitschülern und auch nicht den Lehrkräften. Sie verbergen ihr Sprechproblem, sie schweigen, beteiligen sich nicht am Unterricht, erhalten schlechte Noten in der mündlichen Mitarbeit. CUT 16:. 1-A) 112-118 0:08 (Wulf) Ob es mir an diesem Tag in der Schule gefallen hat, hing immer davon ab, ob ich dran gekommen war oder nicht dran gekommen bin, ob ich das hab sagen können, was ich hab sagen wollen. CUT 17:. 2-A) 440-448 0:44 (Spitz) Da hatten wir zum Beispiel eine Chemielehrerin, die hörte mich auf dem Schulhof reden, wenn ich mit meinen meine Freundinnen geredet habe, gerufen habe, gerade wenn man ruft, bin ich ziemlich fließend, weil ich dann viel Atem habe, viel Power. Die hatte mich da beobachtet und hatte eben kein Stottern bemerkt und fragte sich dann, wieso ich denn in ihrem Unterricht so stottere. Und hat mir dann vor den Kopf gesagt, Du spielst nur Theater. SPR. 1: Viele Lehrer wissen zu wenig oder gar nichts über das Stottern. Dabei könnten einfache Maßnahmen die Situation im Klassenzimmer entlasten. Die Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe fordert einen Nachteilsausgleich. Der Lehrer könnte das Wissen ohne Beisein der Klasse abfragen. Das Referat ließe sich zuhause auf Band oder Video aufnehmen. Absprachen könnten getroffen werden: Möchte der Schüler aufgerufen werden oder nur sprechen, wenn er sich selbst meldet, weil er sich vor versammelter Mannschaft schämt. CUT 18: 1-A) 165-174 0:22 (Wulf) Ich sage mal so, da geht die persönliche Befindlichkeit von 100 schlagartig auf null, das ist wie, als ob einer plötzlich den Stöpsel in der Badewanne rauszieht. Alles ist weg sofort. Das ganze Wertgefühl, die Achtung vor sich selber, natürlich auch mit einer großen Scham bedeckt, ist klar . Da bleibt nichts über. Da geht alles weg. CUT 19: 2-A) 290-300 0:18 (Spitz) Ja, ich habe diese Therapien zweimal mitgemacht. Mir haben sie sicherlich auch was gebracht, ich habe mein Stottern kennengelernt, ich habe kapiert, was da abläuft, aber ich bin nie so flüssig geworden, wie ich werden wollte. CUT 20: 1-A) 377-379 0:42 (Wulf) Ich denke, dass jeder Stotterer stottert bei seinem Namen stottert ? auf jeden Fall. Das ist für mich auch schon ein Hinweis, dass das sozusagen die Beziehung zu sich selber. Ich habe mal im Alter von 25,26 eine Sprachheiltherapie da mitgemacht. Diese Sprachheiltherapie war tiefenpsychologisch orientiert. Und da sind mir diese Erkenntnisse dann auch so gekommen. Das heißt, es gab schon früher Erkenntnisse, aber es ist immer die Frage, welche kann ich zulassen oder wo habe ich das Gefühl, das ist stimmig für mich. Das war für mich das erstemal stimmig diese Art und Weise des Herangehens daran. SPR. 1: Herbert Wulf ist vom Betroffenen zum Experten geworden; heute arbeitet er selbst als Psychotherapeut, der auch immer wieder ins Stottern zurückfällt. Rückfälle gehören zum Alltag. Völlige Stotterfreiheit bleibt für die meisten ein Traum, der sich nie erfüllt. Dabei wäre der Teufelskreis durchbrochen, wenn die Angst vor dem Stottern nicht mehr in der Kehle sitzt und einen blockiert und überwältigt. Herbert Wulf hat der Blick zurück in die eigene Vergangenheit geholfen; verletzte Gefühle, abgewiesene Wünsche nach Geborgenheit, Nähe und Anerkennung schmerzen. Je mehr sie einen lähmen und gefangen halten, desto eher werden sie verdrängt; vergessen sind sie damit nicht. CUT 21:. 1-A) 149-157 1:18 (Wulf) Ich denke, zuerst ist die Beziehung zu mir selbst gestört und weil die gestört wird, wird auch mein Kontakt bzw. meine Beziehungsfähigkeit zu den Eltern, zur Umwelt oder wie auch immer, zu Freunden und zu Gleichaltrigen auch irgendwann beeinträchtigt. Ich habe es auch daran gemerkt, dass in dem Maß, wie sich die Beziehung zu mir selbst verbessert hat, dann auch das Sprachsymptom nachließ. In der Regel können alle Stotterer hervorragend ein Lied singen, können alle gut singen. Das heißt, die Organe, Sprechorgane, die Artikulationsorgane, die natürlich beim Singen, das geht nicht mit Stottern, das geht einfach, weil der Atemfluss einfach fließt und Stimmbildung in einer gewissen Weise funktioniert. Das heißt, organisch sind diese Menschen alle gesund. Wenn man diese Vererbungslehre zugrunde legen würde, hätten die einen organischen Defekt. Jeder Stotterer hat Phasen, die können für jeden anders aussehen, wo er wunderbar spricht. Ich kenne ich aus eigener Erfahrung, wenn ich oft ganz alleine für mich bin und rede, habe ich früher gemacht als Kind. Mensch, du kannst ja toll reden ? allein, da ist ja auch das Kontaktelement schon raus. SPR. 1: Nur in der Schule oder unter Freunden klappte es nicht mit dem flüssigen Sprechen. Eine beklemmende Angst beschlich ihn; er fühlte sich beobachtet, setzte sich unter Druck, schämte sich für sich, verlor den Kontakt zu sich selbst. Und mied die Nähe zu den anderen. Nach dem Hauptschul-Abschluss ging Herbert Wulf in eine Schlosserlehre; da hat er nicht so viel reden müssen, erinnert er sich. Zufrieden war er nicht. Er machte das Abitur nach, studierte und fing 1975 mit der ersten tiefenpsychologisch orientierten Sprachtherapie. Je mehr er mit sich selbst ins Klare kam, um so weniger stotterte er. CUT 22: 1-B) 99-116 1:00 (Wulf) Dann ist es wichtig, aus der sogenannten kausalen Betrachtungsweise - der stottert, weil ? herauszukommen in eine Betrachtungsweise des Ziels ? der stottert, um zu, um etwas zu erreichen, um sich zu schonen, um die Leute auf Distanz zu halten. An der kausalen Betrachtungsweise kann ich in der Regel wenig verändern, wenn ich weiß, dass ich von meinem Vater geschlagen wurde und es war alles so schlimm zuhause, darum habe ich angefangen zu stottern, ist das schlimm und traurig. Wenn ich aber final drangehe und sage, ich habe angefangen zu stottern, um mich zu schützen, um sie auf Distanz zu halten, dann bin ich bei den Themen, die damit erreicht werden. Und dann kann ich auch daran was verändern, wenn ich es will. SPR.2: Stottern ist für Herbert Wulf ein Stellvertreterkampf, eine Strategie zur Konfliktverdrängung. Stottern soll ablenken vor dem eigentlichen Problem, der Angst vor der Nähe. Diese tiefenpsychologische Erklärung Freudscher Prägung hat in Zeiten evidenzgestützter Medizin einen schweren Stand. Statt das Unbewusste zu bearbeiten und nicht zu wissen, worauf man sich einlässt, greift man eher zu neurophysiologische Erklärungsmodellen mit exakten und nachprüfbaren Versuchsbeschreibungen. Der bei stotternden Probanten auf dem Computer-Monitor sichtbar gemachte Verschaltungsfehler in der menschlichen Hirnstruktur lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auf alle Stotterer übertragen. Man kann das Symptom bearbeiten, abschwächen und vielleicht überlisten, in den Griff bekommt man das Stottern so kaum. SPR. 1: Der größte anzunehmende Unfall im Leben eines Sprechbehinderten ist wohl die gestotterte Liebeserklärung. Männer, die stottern, gelten als unsicher, gehemmt, sexuell unattraktiv. Stotterer ? männliche wie weibliche ? überkommen Gefühle von Schwäche und Unsicherheit; der Boden wird unter den Füßen weggezogen; das Herz rast; das Blut schießt in den Kopf. Das Ziel ist es, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Über den Weg, dieses Ziel zu erreichen, streiten sich die Gelehrten. Eine Beziehungsstörung ist das Stottern für Katrin Neumann, die Frankfurter Neurologie-Professorin, auf keinen Fall. CUT 25:. B) 237-244 0:23 (Neumann) Ich habe ja gesagt, dass beim Stottern die zeitliche Feinabstimmung zwischen Sprachproduktionsschritten gestört ist. Wenn wir einen äußeren Taktgeber einführen, dann nimmt das Gehirn sich das erst einmal zur Hilfe und führt dann offensichtlich einen veränderten, inneren Zeitmechanismus ein. SPR. 2: Katrin Neumann beschreibt die sogenannte Fluency-shaping-Therapie als ein weltweit angewendetes Verfahren, in dem veränderte Sprechmuster eingeübt werden. Jede Silbe wird in die Länge gezogen - verbunden mit weichen Sprechmelodien und einer bewusst-ruhigen Atemtechnik. Andere Therapiekonzepte setzen auf absichtliches Stottern oder auf Hypnose. Es sei nicht immer leicht, die Grenze zwischen seriösen und unseriösen Stottertherapien zu ziehen, sagt Ruth Heap. Die Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe führt in ihrem Verzeichnis nur Logopäden, Therapeuten und Ärzte mit einer nachgewiesenen Zusatzqualifikation und bietet Pädagogen beim Umgang mit stotternden Schülern Hilfe an. CUT 27: 2-A) 212-221 0:32 (Heap) Wir haben es jetzt geschafft., dass jetzt auf dem Bildungsserver von NRW, gefolgt jetzt auch von Rheinland-Pfalz, Saarland und demnächst auch in Baden- Württemberg, dass es Informationen für Lehrer gibt zur Problematik Stottern und Schule. Das ist ganz wichtig, weil, Sie können es sich vorstellen, wir als Selbsthilfeorganisation für die Problematik stotternder Menschen haben nicht so viel Einfluss oder Autorität, wie es zum Beispiel ein Kultusministerium für einen Lehrer hat. SPR. 2: Stottern ist eine Behinderung. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe plädiert für einen offenen und offensiven Umgang mit der Störung des Redeflusses. Neurologen wie die Frankfurter Professorin Katrin Neumann können mittlerweile die Steuerungsfehler in der Sprechmotorik abbilden. Ließe sich der Fehler korrigieren? CUT 28. B) 199-205 0:31 (Neumann) Ja, das ist irgendwie unsere Hoffnung für die Stotter-Therapie. Wir wissen, das Stotter-Therapien wirklich Stottern heilen können, wenn es wirklich sehr früh in der Kindheit angewendet wird. Das heißt, so richtig geheilt werden Stotterer offensichtlich nie, denn man hat diese schwachen Faserverbindungen auch bei Kindern gefunden, die sich vollständig vom Stottern erholt haben, aber es wirkt sich offenbar nicht mehr so schwer aus, dass noch gestottert wird. SPR. 2: Das menschliche Gehirn entzieht sich einer vollständigen wissenschaftlichen Erkundung. Entsprechend steht es um die Therapiekontrolle. Krankenkassen zahlen schon lange nicht mehr alles. Der Nutzen muss nachgewiesen werden, ansonsten ist es der Solidargemeinschaft nicht zu zumuten, die Kosten zu tragen. Wie lange hält ein Therapieerfolg an? Ein halbes Jahr, zwei Jahre, drei Jahre? CUT 29:.2-A) 339-341 0:38 (Spitz) Das ist mir gestern so gegangen. Ich war gestern in Frankfurt. Da hatte ich zwischendurch plötzlich Symptomatik. Ich habe mich richtig erschrocken und ich denke, wie kann das denn jetzt passieren und wie bist du in der Lage, jetzt auf die Methode umzuschalten. Es waren ein, zwei Wörter oder Satzteile, wo ich hängen blieb und hinterher war ich wieder flüssiger. Also ich denke, ich komme mit einiger Wahrscheinlichkeit in eine Symptomatik bei einer Auseinandersetzung. SPR. 1: Stotterer wissen, was sie sagen wollen, sind aber außerstande, es störungsfrei und fließend zu tun. Mitleid ist Gift für das Selbstbewusstsein. Stottern spiegelt die seelische Verfassung wider: Geht es mir gut, spreche ich gut, geht es mir schlecht, spreche ich miserabel. CUT 30:.1-B) 500-509 0:46 (Ohm) Also direkt nach der Therapie habe ich natürlich in mehr Situationen wenig gestottert und nicht so hart gestottert. Heute ist es, dass ich in vielen Situationen auch entspannt reden und entspannt stottern kann. In manchen da stottere ich halt auch noch immer so unkontrolliert. Das Typische ist, was man so kennt, wenn man aufgeregt ist oder jetzt bei neuen Leuten so. Es ist verschieden, manchmal auch wenn man schlecht drauf ist oder so. SPR. 1: Friedrich Ohm, der 21jährige Medizinstudent, hat seine Sprechbehinderung akzeptiert und redet ohne Scheu darüber. Die, die ihn kennen, hätten sich an sein Stottern gewöhnt. Im Seminar oder in einer Vorstellungsrunde rät er den Kommilitonen, sich nicht zu wundern, das sei bei ihm ganz normal. Schwieriger wird es hin und wieder in Diskussionen und beim Plausch in der Kneipe. . CUT 31:. 2-A) 57-68 0:34 (Ohm) Es wäre, glaube ich, schön gewesen, wenn ich von Anfang an Kontakt gehabt hätte zu anderen Stotterern. Was halt bei dieser Therapie, die ich vor vier Jahren gemacht habe, echt schön war, war, dass wir eine Gruppe, dass man sich supergut austauschen konnte mit anderen Stotterern und dass man sich also gestärkt gefühlt hat. Das wäre echt gut gewesen, wenn ich schon als Kind andere Stotterer gekannt hätte. CUT 32:. 2-A) 579-580 0:03 (Spitz) Also wenn ich so weiter rede, wie ich momentan rede, dann bin hochzufrieden. SPR. 1: Diesmal, freut sich Elisabeth Spitz, hält der Therapieerfolg bereits drei Monate an ? so solange wie nie zuvor. In einer der zurückliegenden Sprechtherapien lernte sie ihren Mann kennen. Die gemeinsame Tochter ist gerade 14 Jahre alt geworden. Stottert sie auch? CUT 33:. 2-A) 355-360 0:26 (Spitz) Es hat gestottert, als zweijähriges Mädchen hatte es richtige Symptome. Wir beide kommen eben aus der Stottererselbsthilfe und wussten ziemlich viel über das Stottern und haben uns glaube ich richtig verhalten. Vielleicht war es auch nur Glück. Wer weiß das? 2