Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 7. Oktober 2017 - 11.05 - 12.00 Uhr Slow Food, slow Italy - Wie eine Feinschmeckerbewegung die Gesellschaft umkrempelt Mit Reportagen von Kirstin Hausen Redaktion: Katrin Michaelsen Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Ton und Technik: Hendrik Manook und Katrin Fidorra (DLF 2016) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - "Liebe Erstsemester, ich begrüße euch herzlich, vor allem diejenigen, die aus dem Ausland zu uns stoßen. Ihr seid eingeladen, über die Zukunft unserer Lebensmittel, unseres Planeten zu diskutieren, und über die enge Beziehung, die zwischen der Produktion von Lebensmitteln und dem Schutz unserer Umwelt besteht." Slow Food, Slow Italy - Wie eine Feinschmeckerbewegung die Gesellschaft umkrempelt. Eine Sendung von Kirstin Hausen. REPORTAGE 1 Carlo Petrini hat seine Rede zum offiziellen Semesterbeginn an der Universität für Gastronomische Wissenschaften in Pollenzo beendet. Er verlässt das Pult und schüttelt Hände. Von Studierenden und Dozenten. Auch die von Luisa Torri. Die kleine Frau in schwarzer Hose und weißer Bluse leitet das Labor für Geschmacksanalysen. Sie ist noch ganz verzückt. "Er ist einzigartig. Jedes Jahr findet er neue Worte und Beispiele, um den Studierenden die Essenz von Pollenzo nahezubringen." Carlo Petrini genießt Kultstatus. Denn ohne ihn gäbe es diese Universität gar nicht. Petrini ist der Gründer von Slow Food, einer weltweit aktiven Bewegung für Esskultur, die vor 30 Jahren in Italien entstand. Genauer gesagt im Piemont. In einem Dorf bei Pollenzo. Hier fing alles an, und hierher kommt er jedes Jahr zu Semesterbeginn, um die Eröffnungsrede zu halten und sich mit den Erstsemestern fotografieren zu lassen. Luisa Torri darf auch aufs Bild. Sie streicht ihre Bluse glatt und steckt die blonden, halblangen Haare hoch. "Ich unterrichte seit Oktober 2007 in Pollenzo. Meinen Doktor in Lebensmitteltechnik habe ich in Mailand gemacht, aber danach wollte ich unbedingt hierher, weil ich gerne an eine junge Universität wollte und Pollenzo gibt es erst seit 2004. Ich wollte Teil dieses Projektes sein, dieser Innovation und ich teile voll und ganz die Philosophie von Slow Food, die hinter dieser Universität steckt." Essen muss gut schmecken, gesund sein und fair produziert werden - diese drei Grundpfeiler der Slow Food Bewegung werden hier gelehrt und gelebt. Bevor es ins Labor geht für die erste Lektion im Fach Geschmacksanalyse wird deshalb erst einmal - zu Mittag gegessen. Gemeinsam mit einer befreundeten Dozentin lässt sich Luisa Torri in der Mensa nieder, als Vorspeise gibt es marinierte Auberginen mit Blauschimmelkäse. Als Hauptgang Hühnchen in Orangen-Ingwersauce mit Pürée aus Topinambur, einem im Piemont sehr verbreiteten Knollengemüse. Mit Genuss tunken zwei Studentinnen am Nebentisch ihre Brotstücke in die Bratensauce. "Wir führen hier ein schönes Leben, werden verwöhnt und in all die Dinge eingebunden, die später mal zu unserem Beruf werden könnten. Kochen und Essen gehören natürlich auch dazu! Im Grunde hast du kein Leben außerhalb der Uni mehr, wenn du hier studierst." "In unserer Mensa kochen ja auch Gastköche, manche sind berühmt, manche weniger, aber alle sind für unsere Fragen offen. Und wenn du erfährst, was bei den Rezepten alles zu beachten ist, dann kannst du nur noch staunen." Luisa Torri lächelt und spießt ein Stück Huhn auf die Gabel. Bevor sie es in den Mund schiebt, schließt sie kurz die Augen und zieht seinen Duft ein. "Geschmacksanalyse ist eine ganz wichtige Disziplin an dieser Universität. Es geht hier um viel mehr als um Gastronomie, der Ansatz ist ganzheitlich. Ich unterrichte, aber ich forsche auch. Und zwar erforsche ich, was Lebensmittel in uns ansprechen, wie wir sie wahrnehmen und welche Gefühle sie in uns auslösen." Das Hühnchen weckt in Luisa Torri Erinnerungen an sonntägliche Mittagessen im Kreise der Familie. "In meiner Familie war das gemeinsame Essen ein Ritual mit gewissen Regeln, die mich als Heranwachsende genervt haben, aber die ich mit der Zeit zu schätzen gelernt habe. Heute bin ich froh, eine Esskultur mit auf den Weg bekommen zu haben, die mich gelehrt hat, den Lebensmitteln und ihrem Konsum einen Wert zu geben. Mit Sicherheit hat die Slow Food Bewegung dazu beigetragen, diese ganz spezifisch italienische Kultur zu bewahren. Sie hat ein Ideal verbreitet, das kulinarische Traditionen wertschätzt ganz so wie Kulturgüter." Um etwas wertschätzen zu können, muss man es kennen. Es studieren in seinen Einzelheiten. Das lernen die Studierenden im Fach Geschmacksanalyse. "Wir haben hier Kabinen, in denen unsere Studierenden Geschmackstests an Lebensmitteln und Getränken durchführen. Und zwar mit allen Sinnen." In der ersten Lektion an diesem Nachmittag wird noch nichts probiert. Es geht um die theoretische Basis. Welche Sinneseindrücke beeinflussen unsere Kaufentscheidungen, beispielsweise bei einer Flasche Wein? fragt sie die Erstsemester. Das Etikett, kommt zur Antwort. Und: der Preis. Luisa Torri schmunzelt. Und gibt zu bedenken, dass der Geschmack darüber entscheidet, ob ein Produkt auch noch ein zweites Mal gekauft wird. Neben Aussehen, Geruch und Geschmack sind sogar Geräusche kaufentscheidend. Kartoffelchips müssen knistern. Aber das wichtigste sind die geschmacklichen Eigenschaften. Und um die wird es in den nächsten Wochen im Labor für Geschmacksanalyse gehen. Für heute lernen die Studierenden, dass Schärfe kein Geschmack ist, sondern eine Schmerzempfindung auf der Zunge. Und dass es neben süß, sauer, bitter, salzig noch einen fünften Geschmack gibt. Umami. Das ist japanisch und bedeutet so viel wie herzhaft. Es beschreibt den typischen Brühwürfel-Geschmack und wird durch Glutaminsäure hervorgerufen, die in proteinreichen Lebensmitteln steckt. Künstlich hergestelltes Glutamat macht fast jedes Essen herzhafter. Die menschlichen Geschmacksknospen lieben es. Und Luisas Studierende sollen es aus jedem Lebensmittel herausschmecken können. Am nächsten Morgen steht Luisa Torri nicht vor fleißig mitschreibenden Studierenden, sondern vor englischen Touristen, die in Turin Schinken und Wurst kaufen wollen. Bei ihr sind Martina und Laura aus dem dritten Semester an der Universität für gastronomische Wissenschaften. Sie spielen heute Personal Shopper. Nicht für Kleidung oder modische Accessoires, sondern für Rauchspeck und Bratwurst. Gutgelaunt schleppen sie das Paar aus Brighton von Stand zu Stand, empfehlen Ihnen Speck von schwarz-weiß gefleckten Schweinen, einer lokalen Rasse. Sie machen mit den Touristen eine Geschmacksprobe, ganz so wie bei Luisa Torri gelernt. Vor dem Hineinbeißen kommt das Schnuppern. "Was ich als erstes rieche, ist das Aroma des Räucherns, erst danach entfalten sich die feineren Aromen, beispielsweise eine nussige Note, wobei ich zwischen Walnuss und Haselnuss schwanke." Die Dame aus England ist beeindruckt. Mit spitzen Fingern hält sie sich die Schweineschwarte vor die Nase, ihr Mann kaut bereits. Laura beeilt sich, mitzuhalten. "Viele der Aromen, die wir schon mit der Nase wahrgenommen haben, treffen wir jetzt wieder. Deutlich heraus schmeckt man den salzigen Anteil. Sauer oder bitter darf der Speck natürlich nicht schmecken, das ist ein Qualitätsprodukt, die Schweine fressen heimische Kräuter und Gräser, eben das, was die Natur bietet." Höfliches Nicken. Von Slow Food haben Herr und Frau Bradling noch nie gehört, aber dass so junge Frauen so viel verstehen von Speck, Schinken und Schweinen, das finden sie gut. Carlo Petrini: "Wir haben es mit einem Produktionssystem zu tun, das in großen Teilen der Erde Leid erzeugt und uns eine Milliarde unterernährte Menschen beschert, während wir gleichzeitig zwei Milliarden Menschen haben, die an Krankheiten leiden, die durch zu viel Essen entstehen. Irgendetwas läuft in diesem System falsch. Essen ist Teil unseres Lebens. Wir leben, weil wir essen. Unser Ziel muss also sein: zu essen und gleichzeitig mit der Natur in Einklang zu sein, mit den Produkten, die die Erde uns schenkt. Es geht darum, ein gerechteres System zur Produktion von Lebensmitteln zu schaffen. Ein System, das allen Menschen genug zu essen garantiert. Und Platz lässt für Freude, für Gemeinsinn, für Miteinander..." REPORTAGE 2 Der Großmarkt für Obst und Gemüse in Sarno im Hinterland von Neapel. Marktstände gibt es hier nicht, aber jede Menge altersschwache Pickups, die Kisten mit Tomaten, Paprika, Kartoffeln, Spinat und grünen Bohnen herankarren. Ware, die die Bauern heute Morgen geerntet haben und jetzt an Zwischenhändler verkaufen. Morgen wird dieselbe Ware auf den Großmärkten in Mailand, Basel oder München weiterverkauft. "Pilze, ganz frisch, riechen Sie mal!" fordert ein Landwirt die Männer mit Stift und Bestellblock auf, die zwischen den Kisten herumgehen. Kritisch beäugen sie die knallroten, duftenden Tomaten, streichen über ihre glatte Schale und ziehen missbilligend den Finger zurück. Alles nur, um die Preise zu drücken. Die Bauern halten dagegen, schlagen das erste und zweite Angebot empört aus. Aber dann nicken sie, ihre Schultern fallen herab, der kämpferische Blick weicht Resignation und die Kisten werden rasch verladen. Eine Frau schaut ihrem Basilikum nach, als frage sie sich, ob es die Mühe wirklich lohne. Dann hellt sich ihr Blick auf. Sie winkt erfreut einem Mann von Mitte 30 zu und zeigt auf ihre Petersilie und die Frühlingszwiebeln. Pietro Parisi nickt. Der Koch und Restaurantbesitzer handelt nicht lange, sondern kauft einfach. Auch Spinat, Kürbis, Tomaten und Granatäpfel lädt er in seinen Lieferwagen. "Wir gehen entweder auf den Markt oder kaufen direkt beim Bauern." Zum Beispiel bei Vittorio. Geschwollene Hände, krummer Rücken, das Baumwollhemd ist verblichen und schlottert ihm um die Schultern. Ein kleiner, bescheidener Mann. Vittorio ist 64 Jahre alt, sein Mund fast zahnlos. Vor fünf Jahren verkaufte er ein Stück Land an einen Bauunternehmer. Der ging Pleite, das Skelett des geplanten Mehrfamilienhauses ragt neben Vittorios Kartoffelacker in den Himmel. Sein Geld hat der Bauer bis heute noch nicht bekommen, die Gerichte sind zu beschäftigt. 45 Cent zahlt Pietro Parisi pro Brokkoli. Er kauft dem Landwirt die komplette Ernte ab und bezahlt sofort. Eine halbe Stunde später liegen die Brokkoli in der winzigen Küche der Osteria "Le cose buone di Nannina". Nannina war Pietros Großmutter, von ihr hat er das Kochen gelernt. "Wenn ich hier durch die Tür trete, fühle ich mich wieder wie der kleine Junge, der zu seiner Großmutter in die Küche kommt. Die Liebe fürs Essen, die typischen Gerüche von damals - es ist wie eine Rückkehr in meine Kindheit. Dagegen habe ich mich in den Luxus-Küchen der Sterne-Restaurants, in denen ich früher gearbeitet habe, wie in einem Gefrierschrank gefühlt. Da geht es ja nur darum, sich wichtig zu machen und Gerichte zu kreieren, die nichts mit dir selbst zu tun haben." Es waren nicht irgendwelche Sterne-Restaurants, in denen Pietro Parisi als junges Talent anheuerte. Es waren die heiligen Hallen von Alain Ducasse in Paris und Gualtiero Marchesi, weltweit bekannten Spitzenköchen. 12 Jahre hat der Mann, der jetzt Brokkoli hackt und mit Rosmarin gewürzte Fleischbällchen anbrät, im Ausland gearbeitet. Zuletzt als Küchenchef in einem Sieben-Sterne-Hotel in Dubai. Das Gehalt war üppig, das Ambiente raffiniert. Doch Pietro Parisi kehrte in sein Heimatdorf im Hinterland von Neapel zurück, um sein eigenes Restaurant zu eröffnen. "Ducasse hat mir gesagt, ich verschwende mein Talent, weil die Leute hier niemals etwas von gutem Essen verstehen würden. Aber das sogenannte Arme-Leute-Essen ist doch meist das Beste. Und oft genug kreativer als die sogenannte Gourmetküche. Im Rückblick kann ich sagen, dass meine Entscheidung richtig war. Die Spitzenköche, die im Moment "in" sind, kehren jetzt auch zur Einfachheit zurück und zu dem, was der Boden ihnen bietet." Der Boden ist für Pietro Parisi die Basis jedes Gerichtes. Und für die Bauern, die ihn bearbeiten, empfindet er Respekt und Dankbarkeit. "Deshalb kaufe ich das, was sie anbieten und suche nicht nach dem, was ich für ein ganz bestimmtes Rezept brauche. Die Erde beschenkt uns und muss sich nicht nach unserem Geschmack richten. Wenn ich mir die Gesichter ins Gedächtnis rufe, die hinter diesem Gemüse stehen, dann kann ich gar nicht anders, als es zu lieben. Weil sie mit ihrer Arbeit nicht nur für sich und ihre Familien sorgen, sondern auch für die Erde, für diese Gegend, in der wir leben. Die Produzenten, bei denen ich kaufe, haben nicht mehr als zwei, drei Hektar Land." Drei Bleche Pizza, mit Gemüse, Schinken und Käse reichlich belegt, sind fertig. "Le cose buone di Nannina" ist eine Osteria, wo man mittags für acht Euro die typisch neapolitanischen Gerichte bekommt wie Oma Nannina sie kochte, aber auch Take-away mit Pizzastücken und belegten Brötchen. "Wir bieten gesundes Essen, von guter Qualität und zu einem fairen Preis. Einfache Gerichte, die richtig gut schmecken und uns nähren." Es geht auf Mittag zu. Drei Jungs in Trainingsanzügen, die Haare betont widerspenstig frisiert, kommen aus der Schule gegenüber herein und setzen sich mit ihren Pizzastücken an einen der Holztische. Sie werden nicht genötigt, ein Getränk zu bestellen, sie dürfen einfach dasitzen. "Für die Heranwachsenden ist das hier ein Treffpunkt geworden. Mich freut das, sie sollen sich fühlen als kämen sie zu ihrer Oma nach Hause. Ich mag die einfachen Leute, ich bin ein Koch des Volkes. Sonst hätte ich mein Leben nicht so radikal umgekrempelt. Ein Restaurant ist für mich ein Ort des Miteinanderseins, wo Kultur weitergegeben wird. Esskultur, die gerade den jungen Leuten etwas über ihre Wurzeln erzählt, etwas darüber, wer wir sind." Für die Kinder der nahegelegenen Grundschule gibt es jeden Morgen ein ganz besonderes Angebot: ein frisches Brötchen mit magerem Schinken und eine kleine Flasche Wasser zum Mitnehmen für einen Euro. "Das hat erstmal für Wirbel gesorgt und vielen nicht gefallen. Wir würden die Preise kaputt machen, hieß es. Ich wurde für verrückt erklärt. Aber mir geht es dabei vor allem um Solidarität. Das schönste ist: Inzwischen wird das verbilligte Schulbrot auch woanders angeboten. Das heißt, ich habe mit meiner Aktion etwas in Gang gebracht und davon profitieren die Kinder." Pietro Parisi hat selbst eine kleine Tochter und er will der nächsten Generation etwas mitgeben, in punkto gesunder Ernährung und Nachhaltigkeit. "Carlo Petrini und Slow Food engagieren sich für den Erhalt der Artenvielfalt und saisonale Küche. Sie haben fast 300 Köche auf der ganzen Welt in einem Netzwerk zusammengeschlossen, die sich mit diesen Zielen identifizieren und ich bin auch dabei. Ich habe aber Zweifel, ob das der richtige Weg ist. Wenn ich erfahre, dass jemand aus dem Netzwerk im Dezember Zucchini auf der Speisekarte hat, dann frage ich mich, was das Ganze soll. Statt einer Mode nachzulaufen, ist es doch besser, seinem Herzen zu folgen" In den Verkaufsregalen der Osteria stapeln sich Marmeladengläser, Weinflaschen mit handgeschriebenen Etiketten, recyclte Coca-Cola-Flaschen mit eingekochter Tomatensauce, Nudeln aus einem lokalen Betrieb, Kaffee, der im Frauengefängnis von Neapel geröstet und abgepackt wird. Und ständig weitet Pietro das Sortiment aus. "Wir ermutigen so unsere Kleinbauern, weiterzumachen und vor allem auch ihre Söhne und Töchter, die Arbeit ihrer Väter fortzuführen. Das ist sehr wichtig, weil es heute weniger angesehen ist, auf dem Feld zu arbeiten als in einem Büro als Manager. Aber vielleicht sind die Bauern ja die Manager der Zukunft. Wir werden wieder zum einfachen Leben zurückfinden." Pietro Parisi hat ein Buch geschrieben, in dem er seine Vision vom Essen der Zukunft beschreibt und sein Leben erzählt. Die Filmrechte sind bereits verkauft. Das Geld hat er nebenan investiert, in ein heruntergekommenes Ladenlokal, aus dem er eine "Pescheria" machen will, ein Fischgeschäft alten Stils. Stillstand gibt es für Pietro Parisi nicht. Aber zu schnell wachsen will er auch nicht. Die Dinge brauchen Zeit, um sich zu entwickeln, und sie sollen Freude machen, meint er. REPORTAGE 3 "Questa non è la mozzarella vostra?" Ein Hofladen in Susegana, Provinz Treviso, ganz im Nordosten Italiens. Die Kundin, eine adrett gekleidete Dame aus der Stadt, weiß was sie will. Ein Filetstück vom Büffel und von der Schweinswurst nach traditionellem Rezept soll es sein. "Büffelfleisch ist sehr gesund. Und Schwein, das kaufe ich nur, wenn ich weiß, woher es stammt." Aus dem Stall nebenan stammt es. Wobei die Schweine, die hier in die Wurst kommen, tagsüber draußen herumlaufen und sich im Dreck suhlen dürfen, soviel sie wollen. Schon steht der nächste Kunde vor Lorena, die die Fleischtheke mit frisch abgepackten Koteletts und Gehacktem im Vakuumbeutel auffüllt. Joghurt aus Büffelmilch haben wir erst morgen wieder, sagt Lorena und schiebt die Ärmel ihres weißen Kittels energisch über die Ellenbogen. Der Kunde hat Verständnis, und kauft einen großen Beutel Mozzarellakäse. "Diese Nähe zum Produzenten gibt mir Sicherheit und wenn etwas mal nicht so gut war, dann kann ich das hier jemandem sagen. Die Büffelmilch-Erzeugnisse sind wirklich gut und ich kann hier sehen, wie die Tiere gehalten werden. Bei Lebensmitteln, die von weit her herbeigekarrt werden, habe ich immer meine Zweifel. Ich kaufe so lokal wie möglich ein, und nicht nur Lebensmittel, sondern auch Möbel und andere Produkte." Büffel in der Provinz Treviso, die vor allem für ihren Prosecco, den herrlich sprudelnden Weißwein, den die halbe Welt zum Aperitiv trinkt, bekannt ist. Das ist ungewöhnlich, aber erfolgreich. Die Idee dazu hatte Contessa Ninni, Nachfahrin eines uralten Adelsgeschlechts. Sie wohnt im Schloss auf dem Hügel und parkt ihren Range Rover wie fast jeden Morgen auf dem Kies vor dem Gutshof, um hier nach dem Rechten zu sehen. "Bis vor kurzem hatten wir keinen Direktverkauf. Aber wir haben gemerkt, dass die Leute immer mehr wissen wollen über die Nahrungsmittel, die sie essen und gerne direkt beim Erzeuger kaufen. Früher haben wir unsere Rinder an die umliegenden Metzgereien verkauft, heute sind wir bemüht, das Fleisch selbst anzubieten, in unserem Hofladen, ohne Zwischenhändler, so bleibt uns auch eine etwas höhere Marge. Ich bin sehr stolz, unsere Produkte jetzt unter unserem eigenen Namen zu verkaufen. Beim Wein ist das schon lange so, aber jetzt klebt unser Etikett auf allen Produkten. Es ist ein Zeichen für Qualität und zwingt uns, diese auch zu gewährleisten." Gräfin Maria Trinidad von Collalto - kurz: Contessa Ninni. Eine Gräfin in Gummistiefeln. Und doch eine elegante Erscheinung in ihrer auf Taille geschnittenen Wachsjacke und den eng anliegenden beigefarbenen Hosen. Blond gesträhnte Kurzhaarfrisur, aufrechter Gang. Sie stapft Richtung Kuhstall, wo eine Herde schwarzfelliger, zotteliger Büffelkühe mit weit gebogenen Hörnern und einem garstigen Aussehen mit den Hufen scharrt. "Die Büffelkühe sehen aus wie Stiere, da gibt es keine Unterschiede im Aussehen, es sind Tiere mit Charakter. Sie sind sehr neugierig. Unsere Büffel fressen, was auf unseren Feldern wächst und hier werden sie gemolken, zwei Mal am Tag. Sie trotten jetzt gerade in den Melkraum. Die Milchproduktion ist gering. Während eine normale Milchkuh 35 bis 40 Liter Milch am Tag gibt, gestehen mir diese Damen hier 6 bis 7 Liter Milch am Tag zu. Es sind noch ursprüngliche Tiere, die nicht nach ihrem Nutzwert für den Menschen ausgewählt und vermehrt wurden." Die Büffel haben das Gut der Gräfin in ganz Venetien bekannt gemacht. Statt Büffelmozzarella aus den süditalienischen Regionen Kampanien, Latium und Kalabrien zu kaufen, kommen die Feinschmecker aus Venetien hierher, um sich einzudecken. Denn das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. 250 Gramm Mozzarella kosten 3 Euro 80. Das Rinderfilet schlägt mit 34 Euro pro Kilo zu Buche. Vor allem aber ist der Hofladen eine Anlaufstelle für die Menschen aus der Umgebung. Das freut die Gräfin sehr. Sie war eine der Ersten, die die Schweineställe geöffnet hat, um den Tieren Auslauf zu erlauben, und begann, Rinder frei über die Weiden ziehen zu lassen. "Wenn es das Geschlecht der Collalto und ihre Ländereien heute noch gibt, dann weil sie immer in die Zukunft geblickt und Visionen entwickelt haben. Ich bewundere meine Vorfahren sehr. Ende des 19. Jahrhunderts war das hier ein riesiger Betrieb mit Pionierfunktion. Er verband Landwirtschaft und Industrie. Ziegelsteine wurden hier gebrannt, es gab Strom und Telefon und für die Kinder der Angestellten einen Hort wo sie morgens hingingen. Tausende Menschen haben hier gearbeitet, das muss eine Wahnsinnsorganisation gewesen sein." Das ist es auch heute noch. 1200 Hektar Grundbesitz. Die Hälfte wird bewirtschaftet, die andere Hälfte besteht aus Wald und Wiesen, durchzogen von Wegen und Saumpfaden. Contessa Ninni hat eine Wanderkarte anfertigen lassen, die kostenlos im Hofladen ausliegt. Lorena füllt bereits wieder auf. Die Filetstücke sind inzwischen ausverkauft. "Früher haben die Leute alles gegessen, heute sind sie wählerisch. Sie bestellen Roastbeef, suchen nach den besonders zarten Stücken. Und was machen wir mit dem Rest?" Einschweißen und verkaufen. Solange Herz und Leber noch im Kühlregal liegen, gibt es kein Filet - so läuft das hier. "Ein Metzger schlachtet ja nicht selbst, er sucht sich die Fleischstücke im Schlachthaus aus. Wir aber wollen das gesamte Tier verwenden und deshalb ist nicht immer alles da." Was die Kunden keineswegs vergrault. Im Gegenteil. Genau das macht den Charme des Hofladens aus. Denn es wird nichts verschwendet, und es ist alles frisch. Superfrisch, erklärt Lorena und verschwindet im Raum nebenan, wo zwei Männer mit Beilen rote Fleischberge in handliche Portionen verwandeln. Die Gräfin bespricht unterdessen mit ihrem Schwager die Mozzarella-Bestellungen der umliegenden Restaurants. Sein Geländewagen steht direkt vor dem Stall. Er trägt ein weißes Hemd und Sakko, dazu dunkle Jeans. "Vor 15 Jahren wurde uns klar, dass sich die Produktion von Kuhmilch nicht mehr lohnt. Jedenfalls nicht unter den Bedingungen, unter denen wir sie produzieren wollen. Deshalb haben wir auf Büffel umgestellt. Mozzarella aus Büffelmilch war plötzlich kein elitäres Produkt mehr, sondern allgemein der Renner. Jede Pizzeria hat heute Pizza mit Mozzarella aus Büffelmilch im Angebot, früher war es nur eine unter zehn." Lodovico Giustiniani ist davon überzeugt, dass es den Büffeln in Norditalien besser geht als im Süden. "Büffel leiden mehr unter Hitze als unter Kälte. Sie halten sich gerne nahe am Wasser auf und kühlen sich ab. Ihre Haut ist empfindlich, deshalb müssen sie sich vor der Sonne schützen. An das kältere Klima hier im Norden haben sie sich sehr gut gewöhnt, es tut ihnen gut. Vergessen wir nicht, dass der Büffel im 16. und 17. Jahrhundert in ganz Norditalien bis nach Venedig sehr verbreitet war, weil er auch ein gutes Arbeitstier ist." Kunden des Hofladens bringen manchmal ihre Kinder mit, um ihnen die Büffel zu zeigen. Und um mit eigenen Augen zu sehen, wie sie gehalten werden. "Sie wollen ethisch korrekt konsumieren. Das Tier wird als Lebewesen wahrgenommen und nicht als bloßer Lieferant von Lebensmitteln. Und immer mehr Landwirte wollen ethisch korrekt produzieren! Das war bis vor ungefähr zehn Jahren noch anders. Damals wurden die strengeren Richtlinien für Nutztiere von meinen Kollegen belächelt und als Eingriff in ihre Arbeitsweise verstanden. Heute haben auch die Landwirte mehr ethisches Bewusstsein, das Tierwohl ist Teil der Mentalität einer neuen Generation von Landwirten." Contessa Ninni lächelt verschmitzt. In wie weit auch ihr Schwager selbst von diesem Mentalitätswandel betroffen war, verrät sie nicht. Stattdessen lässt sie noch Heu für die Kälber nachfüllen. Sie sollen es gut haben. Carlo Petrini: "Nur durch Verschiedenheit entsteht Kreativität. Kreativität ist die perfekte Einheit von Fantasie und Sinn fürs Konkrete. Nur Fantasie allein führt zu nichts. Denn die Welt lässt sich nicht allein mit Träumen ändern, sondern mit Träumen und Utopien, die Wirklichkeit werden." REPORTAGE 4 Auf der Piazza Carignano in Turin steht ein Mann mit langem Bart und orangefarbenem Turban. Dalgit Singh, geboren und aufgewachsen im Norden Indiens, seit mehr als 30 Jahren lebt und arbeitet er in Italien. Angefangen hat er als Stallknecht, heute ist er Verantwortlicher für die Milchkühe in einer Käserei in der Provinz Cuneo, hat vier Mitarbeiter aus Indien und Marokko. Jemand steckt ihm ein Mikrophon an. Dann läuft die Kamera. "Im Süden wird weniger bezahlt und viele arbeiten schwarz, weil die Chefs die Sozialabgaben einsparen wollen. Im Norden ist der Anteil der Schwarzarbeiter geringer, aber auch hier gibt es welche. Manche Landwirte bezahlen weniger Stunden als tatsächlich gearbeitet wurde. Wenn ein Helfer vom Gesetz her acht Stunden arbeiten darf, dann steht er in Wahrheit 12 Stunden im Stall, wird aber nur für acht Stunden bezahlt, so läuft das. Und das Problem ist, das sich diese meist ausländischen Arbeiter nicht beschweren können, weil sie von irgendetwas leben müssen. Hinzu kommen die Sprachprobleme. Sie kennen ihre Rechte nicht, sondern sind gezwungen das zu tun, was ihnen gesagt wird." Dalgit Singh will das ändern. Gemeinsam mit anderen Immigrantengruppen aus ganz Italien hat sein Verein in Rom vor dem Landwirtschaftsministerium für gerechtere Löhne demonstriert. Was hat das gebracht? will der Interviewer wissen. "Es hat zu einem inoffiziellen Mindestlohn von 5 Euro 50 geführt, auf den wir uns geeinigt haben. Unsere Mitglieder haben sich verpflichtet, nicht für weniger zu arbeiten. Aber im Süden, da sind so viele ohne Papiere, die wissen nicht, was sie morgen essen sollen, die gehen auch für 4 oder 3 Euro 50 arbeiten." Dalgit Singh will Druck auf die Politik machen, indem er das Thema in die Öffentlichkeit bringt. Deshalb gibt er Interviews. Der Reporter des lokalen TV-Senders klappt sein Notizbuch zu. Die Kamera wird eingepackt, das Mikrofon vorsichtig vom Hemdkragen entfernt. Ein Lächeln, ein Händedruck, das Fernsehteam hat es eilig. Dalgit Singh nicht. Die Kühe, die er zu versorgen hat, sind noch bis heute Nachmittag auf der Weide. "In Indien ist die Kuh heilig. Wir haben Respekt vor ihr. Wenn eine Kuh zu alt ist, um noch Milch zu geben und stirbt, dann essen wir ihr Fleisch nicht, wie das hier in Europa geschieht. Wir beerdigen sie voller Dankbarkeit, weil sie ihr Leben lang für uns gearbeitet hat, uns mit ihrer Milch ernährt hat. Ich achte die Kühe, die ich versorge und das spüren sie. Ich behandle sie gut und sie sind gut zu mir. Sie treten mich nicht und geben eine sehr gute Milch. Bei uns im Stall geht es ruhig und entspannt zu." Das schätzen nicht nur die Kühe, sondern auch ihre Besitzer, die mit Vorliebe Inder im Stall anstellen. Hunderttausende arbeiten inzwischen in ganz Italien und geben sich mit ihren orangefarbenen Turbanen als Angehörige der Sikh-Religion zu erkennen. Auch Dalgit Singh zieht die Blicke auf sich, mitten im Stadtzentrum von Turin. Zwei ältere Damen rücken die Brillen zurecht, als er an ihnen vorbei geht. "Wenn die Leute meinen langen Bart sehen, dann denken sie sofort an Bin-Laden. Früher haben mir das die Kinder hinterher gerufen, heute weniger. Aber es kommt immer noch vor, dass mich jemand Bin-Laden nennt, natürlich als Scherz." Dalgit Singh steuert eine Espresso-Bar an. Die typisch italienische Gewohnheit, in der Geschäftigkeit des Alltags innezuhalten und einen Kaffee trinken zu gehen, hat er übernommen. Jedenfalls fast. Er bestellt einen Cappuccino, ohne Milchschaum. Der Barkeeper zieht die Augenbrauen hoch angesichts dieses Frevels, sagt aber nichts. "Ich trinke gerne Cappuccino, aber es muss auch Milch drin sein. Wenn die Milch aufgeschäumt wird, dann ist es mehr Luft als Milch. Wir Sikh sind Vegetarier und trinken viel Milch, uns schmeckt Milch eigentlich besser als Kaffee." Er fühle sich wohl in Italien, versichert Dalgit Singh. Seine Familie, mitsamt Eltern und Schwiegereltern ist ihm ins Piemont gefolgt, und etlichen Freunden aus Kindertagen hat er Anstellungen auf Höfen in der Umgebung verschafft. Wer gute Arbeit leistet, soll auch gut bezahlt werden - das ist ihm ein Anliegen. "Ich selbst habe keine schlechten Erfahrungen gemacht, meine Arbeitgeber haben mich immer korrekt bezahlt." Aber das sei nicht alltäglich, sagt sein Blick. Jetzt will er den Marktstand besuchen, der den Käse seines Betriebes verkauft. Sein Chef hat ihm die Adresse des Wochenmarktes auf einen Zettel geschrieben. Dalgit Singh kommt nicht oft nach Turin. Er fragt einen Mann in Anzug und Krawatte nach dem Weg. Die Straße weiter hinunter bis zum Fluss Po müsse er gehen, sagt der Mann und wünscht dem Inder einen "nice trip" obwohl der in fließendem Italienisch gefragt hatte. Dalgit grinst. Er besitzt seit kurzem die italienische Staatsbürgerschaft. Eine halbe Stunde später erreicht er den Markt und findet den Stand. Sein Chef erklärt einer Kundin mit Einkaufsnetz gerade die verschiedenen Käsesorten. "Das ist der Käse, den wir produzieren, Castelmagno, eine lokale Spezialität, die durch ein strenges Qualitätssiegel geschützt wird. Wir verwenden ausschließlich die Milch unserer Kühe, alle Produktionsschritte finden bei uns im Betrieb statt. Natürlich machen wir auch noch anderen Käse, diese zwei Varianten hier sind mit Trüffeln veredelt." Die Dame kauft von jedem Käse ein Stück und Dalgit Singh strahlt vor Stolz. Dann schaut er auf die Uhr. Er weiß, dass seine Kühe jetzt rufen. Sie wollen pünktlich in den Stall gebracht und gemolken werden. Mit einer kleinen Verbeugung verabschiedet er sich und verschwindet im Menschenmeer Richtung Bahnhof. Sein orangefarbener Turban wird kleiner und kleiner. Carlo Petrini: "Die Aufgabe, vor der wir alle stehen, ist nicht mehr das produzieren, produzieren, produzieren. Sondern das kreativ sein. Wie geht das, das kreativ sein? Man braucht Zeit zum Träumen, zum Denken, zum Lesen. Zeit auch für Muße und Nichtstun." REPORTAGE 5 Die Piazza Gae Aulenti in Mailand. Autofrei, mit Wasserspielen in der Mitte, Schaufenstern einiger Edelboutiquen, und sorgsam gruppierten Kaffeehaustischen. Der neuste Platz der Stadt, eingeweiht im Dezember 2012. Ein Platz, wo vorher nichts als Sand und Dreck war. "Das war mehr als 60 Jahre Brache. Zwei Generationen von Rechtsanwälten haben sich hier ihr Brot verdient, denn es war natürlich viel Spekulation dabei." Bis ein amerikanischer Großinvestor das gesamte Areal um den Stadtteilbahnhof Garibaldi aufkaufte. 290.000 Quadratmeter Fläche. Da begann das Planen, Skizzieren, Entwerfen und Verwerfen von Ideen. 30 Architekten aus 8 Ländern. Mit dabei: der Deutsche Andreas Kipar, geboren in Gelsenkirchen. Mitte 50, hochgewachsen, jungenhaftes Aussehen, voller Energie. Mit raumgreifenden Schritten nimmt er die Piazza in Besitz. Sie liegt sechs Meter über dem Niveau der Straße, erreichbar mit Aufzug oder über eine Rampe. Unten fließt der Verkehr, oben fahren Mütter ihren Nachwuchs im Kinderwagen spazieren. Sehr modern, sehr großstädtisch. Die Härte des Granitbodens wird nur durch die verspielten Linien der Wasserfontänen gemildert. "Der Mailänder steht halt gerne auf Stein. Das muss man wissen. Dass man ihm diese Sicherheit des festen Untergrundes nicht nimmt. Da kommen ja archaische Ängste auf, wenn er auf einmal nur auf Sand und auf Grünwegen gehen soll. Deswegen ist diese Dialektik zwischen dem Gebauten, dem Steinernen und dem Weichen, dem Wachsenden, dem Natürlichen, das ist ja gerade das Spannende an dieser Stadt. " Als Landschaftsarchitekt arbeitet Andreas Kipar seit 30 Jahren in Mailand. Eigentlich hätte er nach seinem Studium gerne in Florenz gewirkt, aber die Stadt brauchte ihn nicht. Mailand dagegen brauchte dringend einen grünen Daumen. "Es war eine Betonwüste, es war so grau, das hab ich gut in Erinnerung, es war ganz ganz schnell und es war voll. Und diese Dichte, die wir in der Dimension in anderen europäischen Städten kaum kennen, dass auf wenigen Quadratmetern so viele Menschen sich bewegen, miteinander kommunizieren und das auch gleichzeitig tun, das hat dem Ganzen doch eine Art Stresscharakter gegeben." Ein Stadtwanderer ist er. Mailand hat er sich erwandert, an langen Wochenenden, die die meisten Einwohner nutzen, um aus der Stadt zu fliehen. Ans Meer, in die Berge. Kipar nicht. Er geht aufmerksam durch die Straßen, immer auf der Suche nach toten Winkeln, die man mit wenig Aufwand beleben könnte. Seine Vision für die Stadt sind die "Grünen Strahlen", Fuß- und Radwege, kleine grüne Oasen, die sich vom Domplatz ausgehend bis an den Stadtrand verbreiten, ein Netzwerk aus bestehenden Wegen, die geschickt miteinander verbunden werden. "Und siehe da, es tut sich jetzt ein Strahl auf, wo die ehemaligen Gleisanlagen ausliefen." Über eine Treppe geht es abwärts, links neue Bürogebäude aus verspiegeltem Glas, rechts alte Eisenbahnerhäuschen aus Backstein. In der Mitte ein Trampelpfad durch Pampasgras. Es raschelt leise, ein Kaninchen. "Und da sehen wir auch die ruhigen Ecken, wo sich auf einmal nicht nur Flora breit macht, sondern auch Fauna breit macht. Das ist ja das neue Thema, dass unsere Städte auf einmal wieder Natur produzieren." Die "Grünen Strahlen" sind Andreas Kipars Meisterstück. Sie entschleunigen eine Stadt, die in der eigenen Betriebsamkeit wie in einem Hamsterrad gefangen war. Jahrelang gab es sie aber nur im Kopf des Landschaftsarchitekten. "Ich hatte mir immer wieder am Wochenende Zeit genommen, um das zu verfeinern. Und dann hab ich Menschen um mich gehabt, die das mit mir getan haben. Aber so richtig passierte da nichts. Bis dann ein Bau- und Planungsdezernent zu uns kam und erst später merkten wir, dass Letizia Moratti, die damalige Bürgermeisterin, ihren Dezernenten schickte, um dieses Thema der Grünen Strahlen im Bewerbungspaket für die Expo 2015 als zentrales Thema zu positionieren." Der Durchbruch. Andreas Kipar kann es selbst kaum glauben, wie schnell die Grünen Strahlen Wirklichkeit wurden. Sie treffen den Nerv dieser Stadt. "Da kam auf einmal eine Finanzierung. Man durfte eine Machbarkeitsstudie machen. Und dann war dieser Plan der Grünen Strahlen so etabliert, dass er jetzt sogar gesetzlich verankert im neuen Flächennutzungsplan der Stadt Mailand ist und das macht uns besonders froh." Die Strahlen breiten sich in ganz Mailand aus. Und sie werden angenommen. Zwei Radfahrer nehmen den Aufzug hoch zur Piazza, oben setzen sich Büroangestellte zur Kaffeepause auf eine Bank. "Man schaut natürlich wie werden die Rampen, die Gärten, die Treppenanlagen, die Orte, wie werden sie angenommen. Aber was mich tatsächlich überrascht ist, dass es mittlerweile Reisebusse gibt, die dieses Viertel hier ansteuern, die kommen aus Parma, Piacenza, Cremona, also aus der bitterschönen Provinz Italiens. Und es ist einfach zu schön, wenn man diesen Menschen zusieht, die sich vielleicht noch nie im Leben über Städtebau, Landschaft, Architektur Gedanken gemacht haben, dass sie hierher kommen, um den sogenannten neuen Mailänder Domplatz kennenzulernen." Mailand ist im Wandel. Die Stadt, die im Winter so oft unter einer Glocke aus Smog erstickt, atmet freier. Denn inzwischen können die autoverliebten Mailänder auch zu Fuß gehen. "Sie können sogar sehr gut zu Fuß gehen, sie können schnell und langsam gehen, sie können auch Fahrradfahren und sie tuns ja auch, wenn man ihnen dazu die Möglichkeit gibt. Und der Luxus, den wir heute in unseren Städten benötigen, das ist Raum, Raum und noch einmal Raum." Das waren Gesichter Europas: Slow Food, slow Italy - wie eine Feinschmeckerbewegung die Gesellschaft umkrempelt. Eine Sendung von Kirstin Hausen. Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern. Ton und Technik: Hendrik Manook und Katrin Fidorra. Redaktion: Katrin Michaelsen. 1