COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Michael Lange 20.09.11 DeutschlandRadio Kultur Forschung und Gesellschaft Red.: Kim Kindermann Sendung: 29.9.2011 Sprecher: Ein Blauwal wiegt bis zu 200 Tonnen und taucht bis in eine Tiefe von 100 Metern hinab. Mammutbäume ragen bis zu fünfzig Metern in die Höhe. Und winzige Bakterien gedeihen in heißen Tiefseequellen ebenso wie in konzentrierten Salzlösungen. Geräusche hoch Sprecher: Das alles funktioniert nach ein und demselben Konstruktionsprinzip. Alle Baupläne des Lebens sind geschrieben in DNA, oder zu Deutsch DNS: Desoxy-ribo-Nukleinsäure. Ein langer dünner Faden im Innern der Zellen. Er dient als Informationsträger. Gespeichert in den vier Buchstaben des genetischen Codes: A - Adenin - T - Thymin - G - Guanin und C- Cytosin. Die Reihenfolge dieser so genannten Basen bestimmt den Aufbau aller Lebewesen auf der Erde. Geräusche Ende Seit gut fünfzig Jahren weiß der Mensch, wie man biologische Baupläne liest. Er lernte den Code des Lebens zu entziffern, und er lernte die biologischen Buchstaben neu zusammen zu setzen. O-Ton 01 iGEM 24´´ Rhythmischer Applaus Darüber Sprecherin: Das Schreiben genetischer Buchstaben beginnt mit Kritzel- Übungen. Immer wieder die gleichen vier Buchstaben: A T G C. Fast ein Kinderspiel oder zumindest ein Studentenwettbewerb. Einmal im Jahr präsentieren über hundert Studententeams aus aller Welt in Boston ihre biologischen Kreationen: Lebewesen, die sie selbst geschaffen haben, aus Fertigbauteilen - zur Verfügung gestellt vom Massachusetts Institute of Technology, dem MIT. Jedes Jahr im November werden in Boston die Sieger ermittelt. Die besten Biobaumeister der Welt. O-Ton 02 iGEM 20´´ Stürmischer Applaus für die Sieger Darüber Sprecherin: Unter dem Beifall von über tausend Studenten stürmt das Team aus dem britischen Cambridge auf die Bühne. O-Ton 03 iGEM 4´´ We made violet, green, red orange and brown. Sprecherin: Violett, grün, rot orange und braun. Das sind die Farben der Bakterien, die die Studenten aus England konstruiert haben. O-Ton 04 iGEM 08´´ We try to make colored bacteria and then use it in an environmental sensor to sense toxic substances in the environment. Sprecherin: Die Bakterien weisen giftige Substanzen nach und ändern dann ihre Farbe. So entstand eine Art Umwelt-Sensor, erklärt einer der erfolgreichen Studenten. Auch das Team aus Freiburg hat es ins Finale geschafft. O-Ton 05 iGEM 16´´ Wir haben auf jeden Fall mindestens vier Monate fünf bis sechs Tage die Woche, am Schluss auch jeden Tag in der Woche im Labor gestanden und superviel gearbeitet, teilweise 12, 13, 14 Stunden am Tag. Schön, dass wir gesehen haben, dass etwas dabei herumgekommen ist und wir ins Finale gekommen sind. Sprecherin: Der Teamchef Kristian Müller von der Universität Freiburg ist stolz auf seine Mannschaft. Das Konzept des Wettbewerbs hat ihn überzeugt. O-Ton 06 iGEM 14´´ Es geht darum, dass man biologische Systeme modifiziert und im Prinzip von unten aufbaut. Also wir bauen kleine genetische Elemente, die nennen wir Teile, aus diesen Teilen bauen wir größere Systeme zusammen, und vielleicht in ferner Zukunft dann auch ganze Organismen. Sprecherin: Das ist wie bei einem Legobaukasten. Die Bausteine werden von einem öffentlichen Register zur Verfügung gestellt, und die Studenten können daraus unterschiedliche Bakterien zusammenbauen, mit den Methoden der Gentechnik. Dahinter steckt die Idee, dass sich einfache Lebewesen am Reißbrett, oder besser gesagt am Computer, konstruieren lassen. Das nennt sich zwar "Synthetische Biologie", aber die Studenten erzeugen natürlich keine rein synthetischen oder künstlichen Lebewesen. Noch nicht. Walgesänge und/oder Tierstimmen (aus Archiv) Sprecher: Laut Bibel dauerte die Schöpfung gerade einmal sechs Tage. Am siebten Tage ruhte Gott, denn er sah, dass es gut war. Nach dem Kenntnisstand der Naturwissenschaften brauchte die Entwicklung der heutigen Artenvielfalt fast vier Milliarden Jahre. So lange existiert der Planet Erde und seitdem entwickeln sich neue Lebensformen. Aus einfachen Lebewesen wurden immer kompliziertere. Und die Entwicklung ist nicht zu Ende, sie geht immer noch weiter. Der Wissenschaftler Craig Venter brauchte nach eigenen Angaben 15 Jahre, bis er der Welt den ersten menschgemachten Organismus präsentieren konnte. Ein winziges Bakterium. Geräusche Ende Sprecherin: Craig Venter und ist der bekannteste Genforscher der Welt. Vor zehn Jahren entzifferte er als Privatunternehmer das menschliche Genom, und jetzt baut er künstliche Lebewesen. O-Ton 07 Venter 29:07 - 29.18 7´´ If we make a totally synthetic chromosome, then that would be completely synthetic organism. Sprecherin: Wenn man ein absolut künstliches Chromosom herstellt, mit anderen Genen als in der Natur, dann kann man laut Venter von einem synthetischen Organismus sprechen. 2010 hat er tatsächlich ein künstliches Erbmolekül in ein Bakterium geschleust, und dessen natürliches Erbgut entfernt. Das künstliche Erbmaterial übernahm das Kommando. Das Mini- Bakterium der Gattung Mycoplasma lebte und bewies so den Erfolg des Schöpfers. Allerdings war das künstliche Erbmolekül keine menschliche Erfindung, sondern ein detailgetreuer Nachbau der Natur. Craig Venter - genau genommen - kein genialer Schöpfer sondern ein Kopist. O-Ton 08 Venter 25:15 - 25:27 12´´ Nature is efficient for developing genomes for things to survive in nature, which is very different from things to survive under specified conditions in the laboratory. Übersetzer: Die Natur ist gut darin, Erbmoleküle zu entwickeln, die dem Überleben in der Natur dienen. Aber die Bedingungen dort sind anders als in einem Labor. Sprecherin: Natürlich erkennt Venter die Leistung der Natur an. Aber bestimmte Dinge kann die Biotechnologie besser als die Natur - so glaubt er. Venters Theorie: Im Labor braucht ein Organismus nur wenige Gene, um zu überleben. Deshalb will er einen Minimal- Organismus schaffen, wie ihn die Natur nicht kennt. O-Ton 09 Venter 28:35 - 28:43 8´´ What set of genes is really essential? And the only way we can answer that right is through this new field of synthetic biology. Übersetzer: Welche Gene sind wirklich notwendig? Wenn wir diese Frage beantworten wollen, brauchen wir die synthetische Biologie. Sprecherin: Dann kommen noch ein paar Gene hinzu, die dem Organismus besondere Fähigkeiten verleihen. Zum Beispiel die Fähigkeit, nützliche Chemikalien oder Biokraftstoffe herzustellen. Auch andere Wissenschaftler beschreiten diesen Weg. Eine Firma in Kalifornien kann bereits erste Produkte der synthetischen Biologie präsentieren. O-Ton 10 Amyris 15 4´´ Geräusch: Öffnen einer Schiebeür. Sprecherin: Jack Newman öffnet einen Glasschrank. Darin die wichtigsten Produkte, die die Firma Amyris in Emeryville bei San Francisco herstellt. Besonders stolz ist der Forschungschef auf ein Mittel gegen Malaria. O-Ton 11 Amyris 17 9´´ This is the first anti malarial cure that is made with a microorganism. This is a synthetic biology project to make low cost artemisinin. Sprecherin: Mit synthetischer Biologie ist es der Firma gelungen, das pflanzliche Heilmittel Artemisinin von Mikroorganismen herstellen zu lassen. Deutlich preiswerter als das pflanzliche Produkt. Das gleiche gilt für Squalen: ein Öl, das früher aus der Leber von Haien gewonnen wurde und bei Amyris von Hefezellen produziert wird. Squalen wird heute in Hautcremes verwendet. Aber die Firma mit 300 Mitarbeitern will mehr. Sie will den Ölmarkt erobern, den größten Markt der Welt. O-Ton 12 Amyris 18 6´´ Practically everything you can imagine that comes from petroleum, you can make with a bio-based source. Sprecherin: Alles, was sich aus Öl machen lässt, lässt sich auch biologisch herstellen, verspricht Jack Newman. Aber er weiß auch, dass die Natur nicht immer genau das liefert, was der Mensch gerade braucht. Und deshalb greifen die Wissenschaftler bei Amyris der Natur unter die Arme. Sie wollen biologische Abläufe so verändern, dass Bakterien oder Hefen, genau das liefern, was sich verkaufen lässt. Dazu sitzen dutzende Bio-Ingenieure an ihren Computern und planen eine neue Biologie. O-Ton 13 Amyris 21A 10´´ You are going to write some code, you are going to run it. It is quiet good but it is not perfect. It is a lot like writing computer codes: The first time you write it, you don´t expect to have the perfect operating system. Übersetzer: Man schreibt den biologischen Code, dann probiert man ihn in einer lebenden Zelle aus. Dann ist er vielleicht ganz gut, aber nicht perfekt. Das ist ein wenig wie beim Schreiben eines Computer-Codes. Beim ersten Versuch erwartet niemand, dass das System perfekt funktioniert. O-Ton 14 Amyris Geräusche 44´´ (Geräusche im Labor von Amyris) Sprecher: Die Programmierer der Synthetischen Biologie sind keine wirklichen Schöpfer. Sie wissen zwar, was sie wollen. Aber sie kennen nicht den besten Weg, um an ihr Ziel zu gelangen. Deshalb verlaufen sie sich immer wieder. Sie probieren aus, sie spielen mit den Programmen, die sie aus der Biologie kennen. Sie setzen sie neu zusammen und warten, was passiert. Und irgendwann finden sie den Weg. Geräusche Ende O-Ton 15 Amyris 21A 6´´ You write the code, you run the code, you debug the code, you learn something and you do it again. Sprecherin: Du schreibst den Code, du probierst ihn aus, du reparierst den Code, du lernst etwas und versuchst es noch einmal. So lautet das Mantra der synthetischen Biologie. Jack Newman wiederholt es immer wieder. O-Ton 16 Amyris 32 5´´ Write the code, run the code, debug the code. Do it again. Sprecherin: Versuch und Irrtum. Lernen durch Fehler. Das Konzept ähnelt der biologischen Evolution. Nach deren gleichen Konzept arbeitet auch die Konkurrenz von Amyris, die Biotechnologie-Firma LS 9 in Süd- San Francisco. O-Ton 17 LS9 31 9´´ An organism catalyzes thousands of chemical reactions, just to live. Biology is probably the most sophisticated chemical engineer on the planet. Sprecherin: Ein Organismus lässt tausende chemische Reaktionen ablaufen, nur um zu leben, schwärmt LS 9-Forschungschef Stephen del Cardayre. Die Biologie ist für ihn der einfallsreichste Chemie-Ingenieur des Planeten. Der Natur nachzueifern scheint seiner Meinung nach heute aussichtslos, auch wenn die "synthetische Biologie bisweilen etwas anderes verspricht. O-Ton 18 LS9 34 36´´ Synthetic biology is our ability to synthesize and build D.N.A. cheaply and quickly .... Übersetzer: Mit Synthetischer Biologie können wir Erbmoleküle preiswert und schnell erzeugen und zusammen bauen. Wir verstehen das Leben nicht besser, aber wir können die Möglichkeiten des Lebens kennen lernen. So finden wir in der Biotechnologie schneller Lösungen. Aber wir wissen noch nicht wirklich, wie man ein biologisches System gestaltet. Nur weil wir einen Hammer schwingen können, heißt das nicht: Wir können ein Haus konstruieren. .... Just because we can swing a hammer, doesn´t mean we can design a house. Sprecherin: Die Natur bleibt unerreicht, das akzeptiert auch Jack Newman. Aber ob das immer so bleiben wird, ist eine offene Frage. Denn längst benutzen Wissenschaftler die gleiche Schrift, mit der auch die Evolution ihre Baupläne schreibt. O-Ton 19 Amyris 23 40´´ When Darwin first told us: Look, there is a process of evolution and life comes from other life ... Übersetzer: Als Darwin uns erstmals sagte: Das Leben entwickelt sich, und Leben entsteht immer aus anderem Leben, stellte er damit das Selbstbild des Menschen in Frage. Laut Darwin steht der Mensch nicht außerhalb der Natur. Damals wurde deutlich: Jegliches Leben ist verwandt. Und jetzt stehen wir wieder an einer solchen Stufe. Wir fragen uns: Ist das Leben nur Chemie? Im Grunde ja, denn die Chemie bestimmt, wie Leben aufgebaut ist. Das Leben ist Chemie und doch so viel mehr. ... it is represented by that chemistry but it is also so much more than that. Walgesänge und/oder Tierstimmen (aus Archiv) Sprecher: Für Immanuel Kant war es unvorstellbar, dass Menschen Lebewesen konstruieren können. Vor 200 Jahren äußerte er die Überzeugung, dass der Mensch durch Newtons Physik irgendwann in die Lage versetzt werde, ganze Planeten zu erschaffen, niemals jedoch auch nur einen einzelnen Grashalm. Genau das soll sich jetzt ändern. Biowissenschaftler kennen die Sprache, mit der die Natur Bakterien, Grashalme und sogar Menschen erschafft. Und seit einigen Jahren schreiben sie in der Sprache des Lebens: Der DNA. Allerdings schreiben sie noch keine schönen Gedichte oder große Romane. Es ist das Stammeln eines Babies, was aus den Labors erklingt. Ausprobieren. Spielen mit Sprache. Wie ein Kleinkind lernen die Forscher die Sprache dabei immer besser kennen. Und wie ein Kind von seinen Eltern lernt, so lernen die Wissenschaftler von ihrem Lehrmeister: der Natur. Geräusche Ende Sprecherin: In einem Labor im Biologie-Institut der Freien Universität Berlin lässt Professor Rupert Mutzel die Evolution für sich arbeiten. Denn er weiß: Besser als jeder Bio-Ingenieur am Reißbrett nutzt die Evolution die Mechanismen von Versuch und Irrtum. O-Ton 20 Mutzel Labor 11 16´´ Eintritt durch Tür - Geräusch Rührer, Klimaanlage. Mutzel im Hintergrund: Na, gehen wir mal rein. Darüber Specherin: Die Evolution findet in einem kleinen Raum gegenüber dem Labor statt. Ein Schüttler mischt Nährlösungen, die Klimaanlage rauscht. An einem Lochblech hängt ein dickes Reagenzglas. Darin wachsen Bakterien der Art Escherichia Coli. Ungefährliche Darmbakterien, wie sie in Wissenschaftslabors überall verwendet werden. O-Ton 21 Mutzel Labor 12 17´´ (zunächst freistehendes Hintergrundgeräusch) Da läuft jetzt so ein Experiment in einem Kulturapparat, wo wir jetzt Bakterien auf Wachstum bei hohen Salzkonzentrationen selektieren. O-Ton 22 Mutzel Labor 13 33´´ (freistehendes Hintergrundgeräusch) Darüber: Sprecherin: Viele Schläuche und automatisch gesteuerte Ventile, alle befestigt an dem Lochblech, liefern automatisch verschiedene Nährlösungen mit unterschiedlichen Salzkonzentrationen. Von untern blubbert Luft in das Glasgefäß. O-Ton 23 Mutzel Labor 21 24´´ (Hintergrundgeräusch) Also da sind um die zwanzig Milliliter Flüssigkeit drin. Sehr wenig, gerade einmal zwei Schnapsgläser voll. Aber die Population an Bakterien, die darin wächst, ist sehr groß. Das sind über zehn hoch zehn Bakterien, also zehn Milliarden Bakterien, mehr als die Erdbevölkerung Individuen hat. O-Ton 24 Mutzel Labor 31 31´´ (freistehendes Hintergrundgeräusch) Sprecherin Gewöhnliche E. coli-Bakterien könnten in der Salzbrühe nicht wachsen. Aber die Wissenschaftler haben ihre Mikroorganismen Schritt für Schritt hat die hohen Salzkonzentrationen gewöhnt. O-Ton 25 Mutzel Labor 41 11´´ (Hintergrundgeräusch) Die Salzkonzentration in dem Experiment ist eigentlich immer so, dass nur die am besten angepassten Varianten wachsen können. Geräusch ENDE Sprecherin: Durch die dünnen Schläuche fließt mal weniger Salz, damit die Bakterien sich erholen und vermehren können, und mal viel Salz zur Selektion. Das bedeutet: Nicht angepasste Bakterien sterben mit der Zeit ab, die besser angepassten überleben. Bei der unscheinbaren Apparatur am Lochblech handelt es sich um eine Art Evolutionsautomaten. Er erzeugt besonders salztolerante Bakterien. O-Ton 26 Mutzel 53 11´´ Die Evolution, die schaut in jedem Moment, was ist jetzt am besten angepasst und sucht die passende Variante aus. Da muss man selber gar nicht eingreifen. Sprecherin: Wie in der Natur wirken im Glas die beiden Mechanismen, die Charles Darwin bereits im 19. Jahrhundert beschrieben hat: Mutation, die zufällige genetische Veränderung, und Selektion, die Auswahl des Organismus, der am besten an den Lebensraum und die aktuelle Situation angepasst ist. Walgesänge und/oder Tierstimmen (aus Archiv) Sprecher: Die Evolution hat kein Ziel. Sie vertraut auf die Macht des Zufalls. Sie würfelt, indem sie immer wieder neue genetische Kombinationen und Variationen erzeugt. Die meisten der so genannten "Mutationen" bringen dem Träger keinerlei Vorteil. Nach kurzer Zeit oder einigen Generationen verschwinden sie wieder, fallen also der "Selektion" zum Opfer. Nützliche Veränderungen bleiben erhalten und entwickeln sich weiter. Die Natur erhält so immer wieder neue Lebensformen, die Lebewelt wird immer facettenreicher und komplizierter. Die gleichen Prozesse laufen überall in der Natur ab: Auf einer Blumenwiese, in der Tiefsee, im menschlichen Darm - und sogar in einem Glasröhrchen im Labor. Geräusche Ende O-Ton 27 Mutzel 41 15´´ Es gibt ein Wort, das sehr häufig verwendet wird, und das Wort ist "komplex". Und ich hasse dieses Wort, weil ich finde, dass eine Wissenschaft, die einfache Fragen stellt, sollte auch einfache Antworten geben (darüber klingeling). Sprecherin: Eine kurze Unterbrechung. Gäste aus China kündigen sich an. Anschließend widmet sich Rupert Mutzel wieder der ungeliebten Komplexität. Biomoleküle liefern nun einmal keine einfachen Antworten. Das ist das Hauptproblem der synthetischen Biologie. Verschiedene, vernetzte Komponenten müssen zusammen gebracht werden, damit zum Beispiel ein Enzym seine Aufgabe genau so erfüllt, wie vom Wissenschaftler geplant. O-Ton 28 Mutzel 62 26´´ Das Problem ist nach wie vor die Kombinatorik. Das wir nicht wissen, wie wir verschiedene Aktivitäten designen müssen. Das ist sicher etwas, was man über lange Zeit nur mit natürlicher Evolution machen kann. Und da wissen wir einfach viel zu wenig über grundlegende Prinzipien, wie solche Moleküle gestaltet werden müssen, als dass wir so etwas am Reißbrett machen könnten. Sprecherin: Die Feinarbeit überlassen die Berliner Wissenschaftler deshalb der Evolution. Sie kann unter Laborbedingungen ganz andere Richtungen einschlagen als in der Natur. Ein besonderes Ergebnis lieferte kürzlich ein Versuch, bei dem Rupert Mutzel mit seinem französischen Kollegen Philippe Marlière und dessen Firma Heurisko zusammen arbeitete. Dabei gelang es, ein Bakterium zu züchten, wie es auf der Erde bislang nicht vorkommt. Statt der üblichen vier Basen - Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin - speicherte dieses Bakterium seine Erbinformation in einem anderen Code. Statt Thymin verwendete es einen ähnlichen Stoff namens 5-Chlor-Uracil. Ein Lebewesen, fast wie von einem anderen Stern. O-Ton 29 Mutzel 34 26´´ Ich denke, es ist berechtigt so etwas zu sagen, weil es auf diesem Planeten, auf der Erde keine andere Zelle gibt, die 5-Chlor-Uracil statt Thymin in ihrer DNA. hat Auf der anderen Seite ist es genau so entstanden, wie alle anderen Organismen auf der Erde, durch darwinistische Variation und Selektion. Insofern ist es auch etwas Natürliches und definitiv auf der Erde entstanden. Sprecherin: Damit sich die seltsamen Bakterien entwickeln konnten, haben die Wissenschaftler vorgegeben, in welche Richtung sie sich entwickeln sollten. Dazu schalteten sie zunächst die Thymin-Produktion der Bakterien aus. O-Ton 30 Mutzel 52 32´´ Wir müssen genau wissen, was wir wollen, und wir müssen quasi ein Drehbuch schreiben über den Versuch, der da laufen soll. Wir müssen uns irgendwie vorstellen: Was kann da passieren? Um ein Beispiel zu geben: Wir mussten den Stoffwechselweg für das Thymin ausschalten, denn sonst hätte das nie funktioniert. Es gibt immer eine Phase, in der man sich das Experiment ausdenkt, quasi ein Drehbuch schreibt, dann gibt es eine zweite Phase, in der man den Organismus so ausstattet, dass tatsächlich das passieren kann, was passieren soll. Sprecherin: Zunächst erhielten die Bakterien noch ein wenig Thymin, damit sie ihre Erbmoleküle aufbauen und wachsen konnten. Dann wurde das Thymin künstlich knapp. Die Bakterien im Glas waren dem Untergang geweiht. Doch dann lieferten die Wissenschaftler einen Ausweg: Das 5-Chlor- Uracil. Der Stoff ist ähnlich aufgebaut wie Thymin, so dass er ebenso geeignet ist wie Thymin, um Erbinformation zu speichern. Und tatsächlich: Nach und nach lernten einige Bakterien, den neuen Stoff zu verwenden. Die, die es nicht lernten, starben ab, die anderen vermehrten sich. Bis schließlich - nach 1.000 Bakteriengenerationen oder etwa zwei Monaten - alle Bakterien im Glas 5-Chlor-Uracil verwendeten. Ein völlig neuer Organismus war entstanden mit einem Verschlüsselungs-Code, den die Welt vorher nicht kannte. Ansonsten enthalten diese Bakterien keine Besonderheiten. Nichts unterscheidet sie von natürlichen Escherichia Coli-Bakterien. In Zukunft wollen die Berliner Forscher aber auch den Stoffwechsel der Bakterien verändern. Dazu sollen die Bakterien neue Bausteine für Proteine erhalten: so genannte Aminosäuren. Gemeinsam mit Kollegen von der Technischen Universität Berlin hat Rupert Mutzel bereits mit den entsprechenden Experimenten begonnen. O-Ton 31 Mutzel 63 27´´ Nächster großer Bereich wird sein, dass wir versuchen, an das Design von Proteinen zu gehen, indem wir jetzt den genetischen Code so ändern, dass wir andere, nicht natürlich vorkommende Aminosäuren in Proteine einbauen können, und Zellen machen können, die mit solchen synthetischen Aminosäuren irgendetwas anstellen. Da kann man jetzt zum Beispiel an das Design von neuen Antibiotika denken und so weiter. Sprecherin: Mit 21 oder 22 statt 20 Aminosäuren ließen sich Proteine konstruieren, wie sie die Natur nicht liefern kann. Jeder zusätzliche Baustein für Proteine würde die Produktpalette der Biotechnologie erheblich erweitern. Deshalb werden diese Forschungsarbeiten von der Industrie mit Interesse beobachtet. O-Ton 32 Labor Geräusche 60´´ (Verschiedene Labor-Geräusche von Mutzel und Amyris) Sprecher: Der Grundgedanke der Synthetischen Biologie entwickelte sich in den USA. Einige Biotechnologen und Computer-Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology wollten aus der althergebrachten Biologie eine Ingenieurs-Wissenschaft machen. So wie Konstruktionspläne von Maschinen heute am Computer entstehen, sollten auch biologische Baupläne von Menschen an Computern erdacht werden. Grundlagenforscher erhofften sich außerdem neue Kenntnisse über die Funktionsweise biologischer Systeme. Unter dem Motto: "Nur was ich bauen kann, habe ich auch verstanden." Aber bald mussten die Pioniere eingestehen, dass die natürliche Evolution bessere Konstruktionspläne entwirft als sie. Geräusche ENDE O-Ton 33 Church 31 A 7´´ Our ability to sequence, read D.N.A. has almost improved by a million fold in the last five or six years. Übersetzer: Unsere Fähigkeit, DNA zu lesen, hat sich in den letzten fünf bis sechs Jahren um das Million-fache gesteigert. Sprecherin: George Church ist eine beeindruckende Erscheinung. Zwei Meter groß mit Bart und immer für eine provokative Zukunftsvision zu haben. Er ist Kletterer, baut Roboter und ist außerdem Professor an der Harvard Medical School in Boston - und einer der Stars der synthetischen Biologie. O-Ton 34 Church 31 B 10´´ Our ability to make synthesized DNA on chips, making raw DNA has also improved by a factor of almost a million. Übersetzer: Unsere Fähigkeit, rohe DNA auf einem Chip herzustellen, hat sich ebenfalls nahezu um den Faktor eine Million verbessert. Sprecherin: Also - schließt George Church - kann man bald das Erbmaterial vieler Lebewesen neu schreiben. Im Prinzip gilt das nicht nur für Bakterien, sondern auch für Mäuse und Menschen. Im Prinzip. O-Ton 35 Church 32 36´´ Turning these raw sequences into a complicated genome inside of a cell .... Übersetzer: Um aus einer reinen DNA-Sequenz ein Genom zu machen, das eine Zelle beherrscht, fehlen uns noch ein paar Fortschritte. Noch wäre das viel zu teuer. Aber wir können schon jetzt etwas machen, indem wir einzelne DNA-Abschnitte künstlich erzeugen und dann in natürliche Genome einsetzen. So kommen wir schrittweise voran auf dem Weg zum künstlichen Genom, das in einer Zelle oder in einem Organismus arbeitet. ... genome working in a cell or in an organism. Sprecherin: Diesen Weg haben Wissenschaftler von der Universität Baltimore beschritten. Sie präsentierten in der Fachzeitschrift Nature die erste teilweise synthetische Hefezelle. Einen Arm im Chromosom der Hefezellen ersetzten sie durch eine künstlich zusammengebaute DNA. Doch statt wie Craig Venter die natürliche Information einfach zu kopieren, bauten sie etwas Neues. Da sie aber nicht wussten, wie man eine Superhefe schafft, konstruierten sie eine Art genetische Spielwiese für die Evolution. Hier können sich Erbgut-Abschnitte einbauen lassen. Sie kopieren und verschieben sich wie von selbst. Die biologischen Informationen werden in den Hefezellen so lange neu kombiniert, bis alles funktioniert. Was nicht funktioniert wird ausselektiert. So werden irgendwann ganz neue Genome entstehen, glaubt George Church. O-Ton 36 Church 33 23´´ The biggest construct I know of is ten million base pairs ... Übersetzer: Das größte jemals verpflanzte Stück Erbmaterial bestand aus zehn Millionen Basenpaaren. Es wurde vom Menschen auf Mäuse übertragen, damit die Mäuse ein menschliches Immunsystem aufbauen. ... encodes all of the human immune system. . Sprecherin: Würde man den gleichen Schritt 300 Mal wiederholen, hätte man das Erbgut der Maus vollständig ausgetauscht. Die Maus würde dann zum Menschen. Das hat natürlich niemand ausprobiert. Aber in Zukunft will George Church beginnen das Erbgut verschiedener Organismen umzuschreiben. So könnte aus einem Elefanten ein Mammut entstehen oder aus einer Maus ein Nacktmull. Aber es soll nicht bei alt bekannten Tier- und Pflanzenarten bleiben. Um Lebewesen neu zu erschaffen, setzt George Church auf die Evolution im Labor. Im Raum gleich neben seinem Büro steht der neueste "Evolutions-Automat" seiner Arbeitsgruppe. Das Durcheinander von Schläuchen, Kabeln, Flaschen und Plastikgefäßen hat auf einem Labortisch Platz. In diesem Multiplex genannten Apparat findet eine gelenkte Evolution statt, mit Escherichia Coli Bakterien. Mit Hilfe von elektrischen Schocks können die Forscher immer wieder neue DNA- Abschnitte in das Erbgut der Bakterien einbauen. So schafft der Automat ständig neue Lebewesen. Angeblich erledigt er in wenigen Tagen die Arbeit, für die ein Dutzend Gentechnik- Laboranten Jahre bräuchten. O-Ton 37 Church 43 23´´ Many ecological and evolutionary studies point to the importance of diversity. ... Übersetzer: Viele ökologische und evolutionsbiologische Studien zeigen, wie wichtig die biologische Vielfalt ist, damit ein Ökosystem überlebt. Wir brauchen Vielfalt in allen Bereichen. Und wenn wir weiter dafür sorgen, dass immer mehr Arten aussterben, sollten wir schnell lernen, wie man ausgestorbene Arten zurückholt oder neue Arten schafft. ...or creating new ones. Walgesänge und/oder Tierstimmen (aus Archiv) Sprecher: Im 21. Jahrhundert startet eine neue Evolution - nach den gleichen Gesetzen, wie die Natur sie seit Milliarden Jahren kennt. Der Mensch sieht sich dabei als Herrscher über die Evolution. Wieder einmal macht er sich die Erde untertan. Er verändert die Welt, in der er lebt, nach seinen Vorstellungen. Ende offen. ENDE 1