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Seit dem späten Mittelalter wird in Italien die Tradition des Palio gepflegt. Beim härtesten Pferderennen der Welt in Siena stürzen viele Jockeys auch heute noch in der gefürchteten 95- Grad-Kurve von San Martino. Vielleicht werden sie von den über sie hinwegrasenden Tieren zertrampelt. Vielleicht rappeln sie sich auch schnell genug auf und bringen sich in Sicherheit. Die Athleten spielen mit dem Risiko im Kampf um die schnellste Zeit, den ersten Platz. Und gerade das erhöht die Spannung beim Publikum. Denn wie bei einem guten Theaterstück gehört auch beim Sport die Dramatik, das Spektakel dazu... ... das Kopf-an-Kopf-Rennen, der knappe Zieleinlauf, der neue Rekord, der Sieger, der die Hände in die Luft reißt. Das Publikum im Taumel. Die Rührung, wenn die Hymne erklingt. Das war schon immer so. Doch in den letzten 100 Jahren geht es in den Rennen immer schneller zur Sache. Mit dem technischen Fortschritt wurden Geräte zur Fortbewegung entwickelt, die auch im Sport zum Einsatz kamen. Schlittschuhe oder Skier, die man sich an die Füße schnallt, und Fahrzeuge, die man besteigt: Fahrrad, Motorrad, Schlitten oder Rennwagen. Usain Bolt, der schnellste Mann der Welt, erreicht derzeit aus eigener Kraft eine Maximalgeschwindigkeit von 43,9 Stundenkilometern. Auf zwei Kufen bringt es Eisschnellläuferin Jenny Wolf schon auf 57 Kilometer pro Stunde. Die Bobfahrerin Anja Schneiderheinze rast mit 140 km/h durch den Eiskanal. Und mit ähnlichen Geschwindigkeiten fliegen auch alpine Sikrennfahrerinnen wie Maria Riesch den Hang hinunter... Sebastian Vettel, der Formel 1-Weltmeister kommt mit seinem High-Tech-Boliden auf über 300 Sachen. "Du fährst mit 300 Stundenkilometern auf eine Kurve zu", so beschreibt er seine Gefühle, "dein Auge und dein Gehirn sagen dir, dass du jetzt sofort voll auf die Bremse steigen musst. Und trotzdem kannst du noch den Bruchteil einer Sekunde länger Gas geben - das musst du lernen." Hohe Geschwindigkeiten berauschen - und insgeheim ist manch einer sicher auch von der Gefahr fasziniert, die das schnelle Fahren mit sich bringt. Aber der Spaß am Speed stellt sich auch allein mit der Kraft der Muskeln ein. Berlin-Höhenschönhausen. Für die besten Eisschnellläufer der Welt auf der langen Bahn ist es der zweite Weltcup der Saison. Die Allerschnellsten sind die Sprinter. Die, die alle Kraft auf die 500 oder die 1000-Meter-Strecke legen. Nico Ihle zum Beispiel: der 25jährige gilt in letzter Zeit als die Hoffnung der deutschen Eisschnelllauf-Männer. Die Sprinter, so sagt er, haben zum Thema Geschwindigkeit ein ganz besonderes Verhältnis. "Es geht halt richtig zur Sache. Es sind so richtige Muskelpakete am Start. Ein 500-Meter-Sprinter erreicht eine Geschwindigkeit von über 60 Km/h in der Kurve - und das ist dann halt immer noch die Sache, woran man trainieren muss, um mit der Geschwindigkeit umgehen zu müssen, um sauber durch die Kurven zu kommen und überhaupt den Lauf sauber zu gestalten." "Den Lauf sauber gestalten", "die Geschwindigkeit aufsuchen", "den Druck auf's Eis bringen" - diese Formulierungen wird Nico Ihle an diesem Tag noch des Öfteren gebrauchen. Tempo: Das ist hier auf dem Eis schnörkellose Perfektion und damit auch höchste Ästhetik. Obwohl Nico Ihle schon mit 10 Jahren mit dem Eisschnelllaufen angefangen hat - seit dieser Saison ist er, so scheint es, in bisher unbekannte Geschwindigkeitsregionen vorgestoßen. Für den Laien ist das nicht erkennbar - denn es geht nur um Zehntelsekunden, die er jetzt schneller läuft. Aber: sein Körper fremdelt noch ein bisschen. "Ich bin halt, dadurch, dass ich jetzt schon so schnell laufen kann mit der 35,1, das ist ja für mich selber ungewohnt, und ich geh' mit 'ner höheren Geschwindigkeit in die Kurve, als ich sonst hatte. Und da merk' ich, dass mir da noch die Kräfte fehlen um da gegen zu wirken. Und ich glaube, in der Kurve wirkt dann auch die dreifache Körpergewichts." Und dann steht er am Start. Im hautengen Ganzkörper-Anzug. Mit Kapuze und Brille. Voll konzentriert. Im Tunnel. Schnell angehen, Geschwindigkeit aufnehmen, sauber durch die erste Kurve. Das ist das Programm. Doch gleich am Anfang kommt Nico Ihle ein wenig ins Straucheln, fast zu Fall. Trotzdem kämpft er, und wird am Ende noch Siebter - mit 35,28 Sekunden - trotz des Fast- Sturzes. Die deutsche Speed-Queen auf dem Eis ist zur Zeit Jenny Wolf. Viermal war sie Weltmeisterin, bei den Olympischen Spielen in Vancouver gewann sie Silber. Sie hält den Weltrekord über 500 Meter. Und hier, auf ihrer Hausbahn in Berlin, will sie sich von ihrer besten Seite zeigen. Das Publikum dankt es ihr mit frenetischem Beifall, während sie an der Tribüne vorbeirauscht. Jenny Wolf gewinnt auch dieses Rennen souverän mit 38,08 Sekunden. - Aber später, als sie sich den Fragen der Reporter stellt, wird schnell klar: Was für den Zuschauer wie leichtfüßiges Gleiten übers Eis erscheint, hat für Jenny Wolf viel mit Quälerei zu tun - es ist im wahrsten Sinne des Wortes der Kampf gegen die Zeit: "Naja, so genießen kann ich das nicht, weil's halt ein Haufen Arbeit ist, um die Geschwindigkeit zu erreichen. Und wenn ich die dann hab, dann bin ich schon wieder so kaputt, dass ich nur noch kämpfe um sie zu halten. Also genießen kann ich's eigentlich erst im Ziel." Auch Nico Ihle kommt jetzt den Gang unter der Eisbahn hoch. Wie ein alter Mann - völlig ausgelaugt. Den Sieg in seinem 500-Meter-Rennen haben am Ende ein Japaner und ein Niederländer unter sich ausgemacht. Der Abstand der beiden im Ziel: eine Hundertstelsekunde. "Das ist ,n Augenzwinkern im Endeffekt..." Ein Augenzwinkern. Wenige Zentimeter. Ein paar Hundertstel. Die Athleten geben alles im Kampf um Spitzenzeiten. Aber sie sind nicht die Einzigen. Denn auch unter den Entwicklern von Sportgeräten herrscht ein Wettbewerb um das beste Material. "1,1 Millimeter - darauf bewege mich" ... sagt Nico Ihle. Seine Schlittschuhe zum Beispiel sind ein technisches Meisterwerk. Mit hohem Kohlefaser-Anteil. Natürlich eine Maßanfertigung. Die Kufen hauchdünn, etwas seitlich gekrümmt, extrem gleitfähig. Viele Spitzensportler verdanken ihre Erfolge nicht nur hartem Training, sondern auch Einrichtungen wie dem Berliner FES, dem "Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten" - dort kümmert sich Michael Künzel um die Eisschnellläufer. "Ganz wichtiger Punkt ist eben, dass der Schuh, Klappsystem und Schiene, optimal auf den Athleten abgestimmt sind. Das andere ist die Aerodynamik, der Laufanzug, dass man Stoffe einsetzt, die aerodynamische Eigenschaften haben. Und dadurch die Hundertstel, die es notwendig macht, vorne zu sein. Permanent tüfteln die Entwickler an Verbesserungen des Materials. Zuletzt konnte man das im vergangenen Jahr beobachten, als die Schwimmer vorübergehend in neuen Ganzkörperanzügen an den Startblock traten: Dank des höheren Auftriebs purzelten die Weltrekorde nur so. Im Alpinski war die Einführung der Carving-Ski Anfang der 90er Jahre ein Quantensprung, der weitreichende Konsequenzen hatte. Die Abfahrtsrennen wurden dadurch zwar nicht unbedingt schneller als vor 20 Jahren - aber viel spektakulärer. Schon damals gab es Rennen, bei denen der Fahrer auf zwei Brettern mit 120, 130 Km/h die Pisten hinunterraste. Doch mit dem neuen Material kann man die Kurven viel enger und schneller fahren. Seitdem sind die Kurse anspruchsvoller und die Tore werden enger gesteckt. Gerade die hohe Geschwindigkeit in den Kurven sorgt für tolle Bilder, sagt Martin Raspe, Skiexperte des ARD-Hörfunks. Aber: "Dass dann der Körper manchmal an seine Belastungsgrenze herangeführt wird und darüber hinaus, ist natürlich logisch. Und bei Geschwindigkeiten jenseits der 100 km/h kann man sich natürlich vorstellen, dass dann die Belastungen für den Körper zu groß sind und dass dann, vor allem hat man das ja immer wieder gehört, die Knieverletzungen in letzter Zeit verstärkt aufgetreten sind." "Also, ich finds schon sehr grenzwertig."....sagt Jeannine Ohlert, Sportpsychologin an der Uni Köln: "Also, ich habe einige Rennen gesehen, das war ja wirklich so, dass die Topfahrerinnen quasi gescheitert sind. Da haben es viele gar nicht ins Ziel geschafft, weil sie gestürzt sind. Und die, die unten waren, waren fix und fertig, die waren an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und sogar darüber hinaus, die haben sich mit letzter Kraft ins Ziel gerettet." Kurzum: Die physische und mentale Belastung sind gestiegen - und damit das Verletzungsrisiko. Im Spitzensport redet man darüber nicht gerne. Lieber versucht man, die Gefahren auszublenden. Denn die Angst vor einer möglichen Blessur steht der maximalen Leistung im Wege. Sei es auf der Piste, auf dem Nürburgring oder im Bobkanal. So erlebt es auch die Bobpilotin Anja Schneiderheinze: "Angst sollte es nicht sein..... Es ist sicher ein Herzrasen dabei, und stürzen möchte keiner, ... das Ziel ist wirklich, auf vier Kufen anzukommen. Diese Aufmerksamkeit, diese Adrenalinausschüttung auch durch die Angst, die man hat, die gibt einem auch diese µ, noch munterer zu sein, dass man noch mehr aufpasst oder die Reaktion schneller ist. Kommt alles zusammen." Respekt, Angst, Aufregung oder der berühmte "Kick" - letztendlich gehe es immer um den Adrenalinspiegel am Start, erklärt die Sportpsychologin Jeannine Ohlert. Und darum, wie der Sportler damit umgeht. Deshalb spricht kaum jemand von Angst, sondern von "Herausforderung" oder "Respekt". Sportwissenschaftler benutzen den Begriff "Aktiviertheit". Jeannine Ohlert greift zum Stift, malt zwei Pfeile eines Koordinatensystems und einen parabelförmigen Kurvenverlauf hinein: Das so genannte Yerkes-Dodson-Gesetz. Der eine Pfeil beschreibt den Erregungszustand des Sportlers. Der andere die Leistungsfähigkeit. Und an der Kurve sieht man: "Das geht nur bis zu einem gewissen Grad gut, je mehr Adrenalin, desto besser die Leistung. Irgendwann kippt das, dass ich nichts mehr hinkriege. Und das ist der Punkt, wo viele Sportler scheitern, weil sie im Wettkampf zu viel Adrenalin haben, zu aktiviert sind. Und dann wird ganz viel gegen gearbeitet." Gegenarbeiten heißt: Der Sportler senkt mit Hilfe von bestimmten Entspannungsmethoden seinen Adrenalinspiegel. Damit er die volle Leistung bringt, aber auch, damit er weniger fehleranfällig ist. Denn Fehler führen zu Stürzen, zu Verletzungen. Der Haken bei der Sache: Es könnte sein, dass der Sportler auch seine natürliche Angst unterdrückt. Die innere Stimme, die ihm sagt: Hier gehst du über deine Grenzen. Winterberg im Sauerland - das ist ein Ort mit langer Tradition im Bob- und Schlittensport. Das alte Bobhaus oben auf der Winterberger Kappe ist zwar 2009 abgebrannt - aber eine Holztafel von 1910 hat man retten können. Sie hängt jetzt an prominenter Stelle - über der Bar im Nachfolge-Bau, und darauf steht: "Es gibt nur eine Sünde: Feigheit." Schon seit Anfang der Woche ist der Europa-Cup-Zirkus der Bob und Skeleton-Fahrer zu Gast. Erst zum Training, dann zu den Wettkämpfen. Und obwohl Winterberg nicht zu den schwersten Bahnen zählt - es gibt viele Stürze: in 5 Tagen kippen rund 60 Bobs um und schrappen auf der Seite ins Ziel. "Oft ist es so, wenn man einen Fehler gemacht hat, das kann schon reichen aus einer Kurve raus und es klappt nicht in die nächste rein. Dann liegt man schon." Immer schneller - die Lust an der Geschwindigkeit - und die Grenzen dessen was noch geht - sie verschieben sich notgedrungen bei jedem ambitionierten Sportler mit steigender Leistung. Und damit wächst das Risiko. "Allerdings ist es auch so, dass die Athleten, wenn sie denn gefragt werden, ja wollt Ihr denn, dass die Rennen deutlich langsamer werden? Wollt Ihr denn, dass sie deutlich weniger spektakulär werden, dass sie dann längst nicht so einig sind und mit einer Zunge sprechen. Da gibt es dann natürlich auch eine Großzahl von Athleten, die sagen: Nein, nein, der Skirennsport, er ist ein rasanter Sport, er ist ein Hochgeschwindigkeitssport, vor allem Abfahrt und Super-G, und dass soll er auch bleiben. Aber man soll eben schauen, dass man im Rahmen der Möglichkeiten die Sicherheitsvorkehrungen noch weiter verbessert." "Wenn man sich überschlägt wie mit 'nem Auto, das ist mir zum Glück noch nie passiert, wenn man da einfach mal mit 140 auf die Seite kippt, der Kopf ist noch draußen, das ist der erste Aufschlag, den muss man dann so schnell wie möglich versuchen reinzuziehen, hinten der Anschieber kämpft damit, sich überhaupt wieder mit seinen Armen in den Bob reinzuziehen, und das dann ein paar Meter runter, und der hat eigentlich nur damit zu kämpfen, dass er sich drin hält im Bob, dass da nichts weiter passiert..." ... so beschreibt Anja Schneiderheinze einen Sturz im Eiskanal. Früher war die Bobpilotin Eisschnellläuferin. Zum Bobfahren kam sie mehr oder weniger durch Zufall und kommt bis heute nicht mehr los davon. Als Anschieberin holte sie im Team mit Sandra Kiriasis unter anderem 2006 die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Turin. Inzwischen ist sie als Pilotin die Verantwortliche für ihr Team und das Gefährt. Und weiß auch: Ein Sturz ist immer drin. "Man stürzt, das gehört dazu, das ist brutal, aber das ist ein gewisser Wille und Kampfgeist des Sportlers, dann wieder hochzugehen und sich doch wieder reinzusetzen. Also nach meinem ersten Sturz hab ich gedacht: Um Gottes willen, das mach ich nie wieder! Ich möchte weiterleben! Und saß dann doch wieder drin und bin weiter gefahren." Bobfahrer sind geschützt durch die Karosserie, Ski-Fahrer tragen Helm und Rückenschutz, Formel1-Fahrer stecken in feuerfester Kleidung und haben eine spezielle Kopf- und Nacken- Stütze. An den Rennstrecken und Pisten gibt es inzwischen breite Auslaufzonen dort, wo die Gefahr gegen eine Mauer oder einen Baum zu prallen besonders groß ist. Gäbe es nicht hohe Sicherheitsstandards, die Liste der schweren oder sogar tödlichen Verletzungen in diesen Disziplinen wäre wohl wesentlich länger. Dennoch: ganz selbstverständlich spricht man inzwischen von "Risikosportarten". Wer sie ausübt, geht ein gewisses Wagnis ein und wer sich den Bobsport ausgesucht hat,... "...der muss natürlich damit rechnen, dass man gewisse Gefahrensituationen durchläuft", ... sagt Wolfgang Hoppe, Doppel-Olympiasieger und sechsfacher Weltmeister im Zweier- und Vierer-Bob. Inzwischen trainiert der einstige Ausnahme-Athlet den Nachwuchs, und er weiß, warum seine Schützlinge trotz der Stürze immer wieder in den Bob einsteigen: "Wenn man Geschwindigkeitsfanatiker ist, dann ist das eigentlich die Sportart, neben Motorrad und Formel 1 die Alternative, die auch relativ wenige Leute auf dieser Welt betreiben. Und wenn man es betreibt, dann ist man infiziert und kommt auch nicht wieder raus." ... und das Risiko, das gehört eben wie bei anderen Hochgeschwindigkeitssportarten dazu. So sieht es auch Udo Gurgel. Der Leipziger Bauingenieur hat weltweit zehn von insgesamt 14 Eiskanälen geplant - darunter sind gefürchtete Strecken, wie die im sächsischen Altenberg - und die Bob- und Rodel-Olympiastrecke von Whistler. "Jeder Rennsport hat immer gefährliche Züge. Ob Pferderennen, Rad- oder Autorennen. Das Problem des Sturzes ist immer gegeben. Und das wird sich auch nie ändern. Dann muss man den Sport abschaffen." - 29. Januar 1994: Die österreichische Ski-Weltmeisterin Ulrike Maier stirbt auf der legendären Kandahar-Abfahrt in Garmisch-Patenkirchen. Sie bricht sich das Genick, vermutlich, weil sie sie gegen eine Zeitmess-Einrichtung geprallt ist. Kurz zuvor sind bei ihrem Lauf 104 Km/h gemessen worden. - 18. Juli 1995: Der italienische Radrennfahrer Fabio Casartelli stirbt bei seiner ersten Tour de France-Teilnahme. Während einer Abfahrt wird er mit etwa 88 Km/h in einen Massensturz verwickelt und schlägt mit dem Kopf auf eine Straßenbegrenzung aus Beton. Das Rennen wird fortgesetzt. - 5. September 2010: der japanische Motorradfahrer Shoya Tomizawa kommt auf der italienischen Rennstrecke von Misano ums Leben. In der zwölften Runde des Moto- GP-Rennens verliert er bei rund 200 Km/h die Kontrolle über seine Maschine und wird von zwei hinter ihm fahrenden Motorrädern überrollt. Im kanadischen Whistler kam der georgische Rodler Nodar Kumaritaschwilli ums Leben. Im Training kurz vor Beginn der Olympischen Winterspiele Anfang 2010, flog er in Kurve 16 aus der Bahn. Da war er über 144 Km/h schnell. "Dieser Unfall hat mit der Bahn gar nichts zu tun. Das ist ... Jede Bahn, wo es einen Unfall gegeben hat, ist immer eine Zeitlang in Verruf, und das ist ja auch verständlich. Es verunsichert die Sportler auch. Das ist wie im normalen Leben, und da steht ein Kreuz an der Seite, denkt man auch: Um Gottes Willen! Aber es wird weitergefahren." Auch weil das Publikum so konditioniert ist. Nicht umsonst werden beim Ski- oder Bobrennen, oder in der Formel1 die Höchstgeschwindigkeiten an der Strecke und im Fernsehen eingeblendet. Es ist der Versuch, Speed erlebbar zu machen und eine emotionale Verbindung zu den Athleten herzustellen. So entsteht der Nervenkitzel erst: Weil man weiß, wie gefährlich das für die Sportler is. So der Entertainer Harald Schmidt im ZDF: "Es ist die Spannung: Schafft er's oder schafft er's nicht? (...) Man hat ja auch festgestellt, dass sich viele Leute bei der Formel 1 den Start angucken mit der geheimen Hoffnung, es passiert vielleicht was. Natürlich immer mit dem Zusatz, hoffentlich ist es nochmal gutgegangen. Aber ein Autorennen, in dem nicht die Möglichkeit besteht, dass irgendetwas passiert, ist eigentlich langweilig." "In Amerika habe ich die Erfahrung gemacht, wenn ein Bob gerade die Bahn runterfährt ohne Bandenberührung, dann besteht ein Desinteresse des Zuschauers. Das haben wir in Whistler erlebt. Das Spektakulärste war, dass die Kathleen Martini und Romy Logsch gestürzt sind und das Publikum fast euphorisch in Jubelschreie ausgeartet ist, als die da unten aus der Bahn wieder rausgekrochen sind...Und das kann es natürlich nicht sein. Am Ende soll derjenige der Beste sein, der am besten runterkommt und am schnellsten ist. Und nicht beklatscht wird, wenn er auf der Nase liegt." So birgt jeder Risikosport das Potenzial für eine moderne Heldenerzählung. Held ist, wer sich bewusst der Gefahr aussetzt, und sie übersteht. Und diese Erzählung will inszeniert sein: Bobbahnen müssen gefährlich aussehen, aber möglichst nicht gefährlich sein, sagt Udo Gurgel, der Ingenieur. Oft sind sie beides. In Whistler ist es der plötzliche Gefällewechsel nach einem geradezu gemütlichen ersten Bahnteil, der die Sportler besonders herausfordert, und beim Zuschauer den Kick auslöst. Auf der berüchtigten Skirennstrecke Kitzbühler Streif ist es vor allem der Zielsprung. Die Inszenierung macht einen Teil des Vergnügens aus, erhöht aber auch das Risiko. Und dabei hat auch Martin Raspe, der ARD-Skireporter, hin und wieder ein ungutes Gefühl: "Also manchmal muss ich ganz ehrlich sagen hält man schon die Luft an, wenn man die Athletinnen und Athleten da um die Kurve rasen sieht und auch sich die Hänge hinabstürzen sieht, oder spektakuläre Sprünge von 60, 70, 80 Meter Weite dann betrachtet. Solang alles gut geht, sagt jeder: Mensch, fantastisch, sieht toll aus, was für Athleten. Sobald das nicht mehr gut geht, setzt natürlich die Diskussion ein... also in solchen Momenten denkt man sich: seid ihr hier eigentlich noch alle bei Trost, dass ihr hier so etwas anbietet, dass ihr so etwas macht. Aber:... tja... the show must go on." ... auch weil es die Zuschauer inzwischen erwarten. Heute würde man doch eine Sportübertragung von vor 50 Jahren langweilig finden und sofort wegschalten, glaubt die Sportpsychologin Jeannine Ohlert. Aber wegschalten heißt auch: schlechte Quote. Und das können sich Veranstalter und Verbände nicht leisten, nicht zuletzt wegen der Werbeeinnahmen und wegen des Kampfes um kostbare Sendezeit. Andererseits: Häufen sich die Unfälle und Verletzungen, vor allem, wenn wie bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen ein Milliardenpublikum zuschaut, bringt das die Sportart auch in Verruf. Man könnte aber durchaus einen Gang runterschalten, ohne dass sich notgedrungen Langeweile beim Zuschauer einstellen müsste, findet Martin Raspe. Zum Beispiel beim Abfahrtsski. Tempo bestimmend sind das Material, der abgesteckte Kurs und der Zustand der Piste. Müssen die Pisten unbedingt vereist sein, könnten die Kurven nicht auch langsamer werden? "Ist es unbedingt notwendig, dass ein Skirennläufer mit 120 km/h um dieses Tor herumfährt. Oder reicht es nicht auch, wenn er das mit 100 km/h macht. Also ich meine, dass das Spektakel als solches auch, wenn es etwas langsamer dargestellt wird, durchaus genauso spektakulär und beeindruckend sein kann, weil der Zuschauer am Fernsehen oder auch der Radiohörer kriegt das jetzt ja so gar nicht mit, ob der Athlet jetzt mit 120 oder mit 100 um die Kurve fährt. Es sieht in beiden Fällen sehr sportlich und sehr rasant aus..." Und die Athleten? Ihnen bleiben nur zwei Möglichkeiten: die Gefahr so gut es geht ausblenden - oder aussteigen. Aber trotzdem: auch unter den Aktiven wird das Thema Sicherheit diskutiert: "Diese Stürze, was da auch der Körper verarbeiten muss, ich denke, dass man irgendwann auch mal sagen muss: es darf nicht mehr schneller werden! Es geht nicht, es ist nicht mehr fahrbar, je dicker und kälter das Eis wird, es geht nicht, man kann einfach nicht mehr lenken. Es ist einfach so: Stopp! Die Sicherheit der Sportler geht schon vor." Doch solange alles gut geht, solange werden weiter die Grenzen ausgelotet. Zwischen Geschwindigkeit und Risiko, zwischen Rausch und Gefahr und zwischen fairem Wettkampf und Spektakel. Es bleibt ein schmaler Grat, auf dem sich Sportler, Veranstalter und Medien bewegen. Kein Risikosport ohne Risiko. Aber wo bleibt die Vernunft? Im Fall des Eiskanals von Whistler, so scheint es, haben die Beteiligten ihre Lehren daraus gezogen: "Mit Whistler ist jetzt ein Punkt erreicht, wo beide Verbände das nicht mehr schneller haben wollen. Die haben jetzt eine schnelle Bahn in der Welt, und das genügt auch. ... Eine Bahn reicht."