Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 29.Juli 2013, 19.30 Uhr Aussteigen, um anzukommen - Von Menschen, die ein neues Leben wagen Von Monika Köpcke O-TON 1 Alex Wenn man morgens aufsteht und man ist gesund, dann hat man schon ganz viel erreicht. Und wenn ich dann für mich ein gutes Gefühl habe, egal, was ich tue, dann ist das für mich ein zufriedenes Leben. SPRECHER VOM DIENST: Aussteigen, um anzukommen - Von Menschen, die ein neues Leben wagen. Ein Feature von Monika Köpcke. O-TON 2 Alex Es gibt nur leider immer weniger, die morgens zufrieden aufwachen. Die mögen ganz viele materielle Dinge um sich haben und sind dennoch unzufrieden, weil sie den Sinn nicht mehr erkennen, weil sie ihn vielleicht nie gefunden haben. AUTORIN: 'Menschen mit Wirkung' heißt die Agentur von Carsten Alex. Der ehemalige Manager, der vor einigen Jahren seine Karriere kurzerhand über Bord warf, um auf Weltreise zu gehen, also durchaus Ausstiegs-erfahren ist, coacht heute Menschen, die ihrem Leben ebenfalls eine neue Richtung geben möchten. O-TON 3 Alex Ja, er braucht Veränderung, aber der Mensch hat verdammt viel Angst vor Veränderung. Viele halten an dem Status quo fest, solange es geht. Und merken nicht, wie da so Le- bensfreude, Lebenslust, auch Energie verloren geht, immer weniger wird. Ja, die Men- schen haben Angst vor dem Morgen, vor der Unsicherheit. Und meine Arbeit geht in die Richtung, den Menschen diese Angst zu nehmen. AUTORIN: Raus aus dem Hamsterrad, alles hinschmeißen - wer hat daran noch nie gedacht? Doch wagen tun es nur die Wenigsten. Ein neuer Lebensort, ein neuer Broterwerb, eine neue Haltung - es gibt viele Möglichkeiten für einen Neubeginn. Was in jedem steckt, ist die vo- rausgehende Gewissheit: SPRECHER: So wie es ist, soll es nicht bleiben oder Die Macht der Gewohnheit. O-TON 4 Pokrandt Ich habe immer an Motorrädern gebastelt, so diese Technik, das hat mich schon interes- siert. Schon bei der Einstellung wurde gesagt, dass ich nicht nur theoretisch etwas mache, sondern auch praktisch. Dass ich mit Öl an den Fingern nach Hause komme und das hat mir natürlich Spaß gemacht. Dachte ich, das ist es jetzt. AUTORIN: Mit 27 Jahren fängt Christoph Pokrandt als Entwicklungsingenieur bei einem großen Automobilunternehmen in Köln an. Sein Traumjob, dazu noch gut bezahlt und sicher. Doch die Anfangseuphorie verfliegt bald. O-TON 5 Pokrandt Nach einigen Jahren diese Routine, es ging einfach nicht mehr weiter. In so einem Ent- wicklungszentrum mit 3000 Ingenieuren, man sitzt in nem Meeting mit 20 Personen und man kommt Tagesordnung-Punkt 16b dran. Man hat zwei Sätze zu erzählen. Dann sitzt man 2 bis 3 Stunden, bis Tagesordnungspunkt 16b kommt und man sagt dann diese zwei Sätze. Das war so uneffektiv teilweise. AUTORIN: Die Entscheidungsabläufe sind schwerfällig und bieten wenig Spielraum. Viele Projekte verlaufen im Sand. Christoph Pokrandt sieht sich zusehends an den Rand gedrängt. O-TON 6 Pokrandt Und dann kam so ne Art Umstrukturierung, Outsourcing, dass man Entwicklung rausge- geben hat an Lieferanten. Dann wurde ich dann auch grantig, zu son kleinen Quertreiber dann sagte ich: Setzt doch einfach ne Pappfigur von mir hierhin, da könnt ihr doch viel Geld sparen. Warum sitze ich denn noch hier, wenn ich überhaupt keine Entscheidungen fällen kann, wenn ich noch nicht mal Zeichnungen für mein Bauteil habe, um den Lieferan- ten zu kontrollieren? Viele andere Ingenieure und ich wurden zu Statisten abgestempelt. Das war wirklich sehr, sehr unbefriedigend. O-TON 7 Rohde Ich bin immer, im Sinne von emanzipiert, lebendig, frei gewesen, hab mehrfach geheiratet, hab alle meine Ehen beendet und die Scheidungen selbst bezahlt. Ich bin viel gereist, hab einen kleinen Sohn gehabt - jetzt ist er groß - und mein Leben war sehr ausgefüllt. Ich hab ne sehr gute Buchhandlung gehabt, die einen sehr guten Ruf hatte. Ja, ich war eine prima, gesunde, fröhliche Buchhändlerin in Schleswig Holstein. AUTORIN: In ihrer Freizeit engagiert sich Katrin Rohde in einem Verein, der sich um Asylbewerber kümmert, die in ihrer Heimatstadt Plön untergebracht sind. Einer von ihnen ist psychisch schwer erkrankt. Mit der klassischen Schulmedizin ist ihm nicht zu helfen. So entschließt sich Katrin Rohde nach Afrika zu reisen, um bei dessen Bruder in Burkina Faso traditionel- le Heilmittel zu besorgen. O-TON 8 Rohde Ich wurde auf Händen getragen auf dieser Reise, von einem Menschen zum anderen. Ich stieg zum Beispiel in einen Bus und sofort wurde ich umringt und gefragt wohin und wo- her, und dann sagte ich da und da will ich hin, ja, kein Problem, da hab ich ne Schwester, da bring ich Dich hin, da kannst Du schlafen und dann bringt die Dich morgen in nen ande- ren Bus. Es war die ganze Zeit so. Das Gegenteil war der Fall von dem, was alle Leute mir sagten. Ich wurde mit offenen Armen empfangen, fröhlich begrüßt und weitergeleitet von einer schützenden Hand in die nächste, ja. AUTORIN: Nach einigen Wochen kehrt Katrin Rohde mit der afrikanischen Medizin im Gepäck zurück nach Deutschland. Der erkrankte Asylbewerber gilt schon bald als geheilt. Für Katrin Roh- de beginnt nun wieder der Alltag in ihrer Buchhandlung. Doch das Erlebnis Afrika lässt sie nicht mehr los. O-TON 9 Rohde Es war für mich ein Herz- und Augen-Öffner. Denn dort habe ich Menschen gesehen, die weder lesen noch schreiben können und von einem Lebensglück erfasst waren, einem inneren Glück, dem ich nicht folgen konnte. Ich konnte das nicht glauben, dass jemand so arm war und so viel Freude am Leben hatte. Und das hat mich sehr beschäftigt zu der Zeit, ja. O-TON 10 Kneifel Ohnmacht war so ein Grundgefühl, das mir das Leben vor die Füße legt, ja, ausgeliefert zu sein. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die ich mir nicht ausgesucht habe, die ich mir auch nicht ausgesucht hätte. Ja, mich benachteiligt gesehen habe, mich für das ge- schämt habe, für die Krankheit meiner Eltern, für die Armut. Ich hab irgendwie einen Weg da rausgesucht, aber lange Zeit keinen gefunden. AUTORIN Johannes Kneifel ist ein schwieriges Kind: In der Schule still, zu Hause aggressiv. Der Va- ter ist fast blind, die Mutter wegen multipler Sklerose an den Rollstuhl gefesselt. Beide sind arbeitsunfähig, das Geld ist immer knapp. Das Unglück wird stumm ertragen, man spricht nicht miteinander. Mit 15 sieht Johannes Kneifel endlich einen Ausweg. Er lernt in seiner Heimatstadt Eschede eine Gruppe Skinheads kennen und rutscht ab in die alkoholge- tränkte rechte Szene. O-TON 11 Kneifel In ner Lebensphase, wo ich mich alleine gefühlt habe, Leute zu haben, die sagen, Du bist nicht allein, Du gehörst zu uns, das hat mir ein Zugehörigkeitsgefühl gegeben. Ich hab Leute getroffen, die gesagt haben, wir sind nicht ohnmächtig, wir kämpfen für das, was uns wichtig ist. Und wenn Du zu uns gehörst, kannst Du mitkämpfen, kannst was tun, dass sich Dinge ändern, dass sich Dein Leben ändert. AUTORIN Am Abend des 9. August 1999 dringt Johannes Kneifel mit einem Freund, beide sturzbe- trunken, in die Wohnung von Peter Deutschmann ein. Sie wollen dem 44- Jährigen einen Denkzettel verpassen, weil er ihre rechte Gesinnung kritisiert hat. Johannes Kneifel schlägt den Mann so schwer zusammen, dass er später im Krankenhaus stirbt. Wegen Körperverletzung mit Todesfolge wird er zu fünf Jahren Jugendhaft verurteilt. Er ist 17 Jah- re alt. O-TON 12 Kneifel Ja, das war für mich, ja ich hab erst mal den Boden unter den Füßen verloren. Ich hab zu diesem Zeitpunkt ja ganz andere Vorstellungen von der Zukunft gehabt. Ich war auf dem Gymnasium, wollte mein Abitur machen, hab zu dem Zeitpunkt gerade meine erste große Liebe erlebt. Und es war schon so, dass ich gesagt habe, eigentlich macht's auch für mich jetzt keinen Sinn mehr, weiterzuleben. AUTORIN Vor einer Veränderung tauchen Risse am gewohnten Leben auf. Der Anlass kann eine besondere Begegnung sein oder eine dramatische Wendung: Krankheit, Trennung, Tod. Der Zweifel beginnt an dem zu nagen, was zuvor selbstverständlich war. O-TON 13 Pokrandt Die Unabhängigkeit, zu wissen am Monatsende, man hat noch was, man kann sich was leisten, endlich mal was kaufen, was nicht gleich kaputt geht, das war anfangs ganz, ganz toll. Aber mit den Jahren hat man sich daran gewöhnt, an das Geld und das ist dann im- mer mehr in den Hintergrund gerückt. Da waren dann andere Dinge wichtiger. Da macht man sich Gedanken. Soll das den Rest meines Lebens so weitergehen? O-TON 14 Rohde Zwei, drei, vier Tage wusste ich überhaupt nicht, was ich machen sollte. Ich hab in meiner Buchhandlung gestanden und hab gedacht: Das ist es nicht, es kann nicht sein, dass auf einem ganz anderen Stern ein ganz anderes Leben ist, und Du stehst hier und erlaubst Dir den Luxus, schöne Bücher zu verkaufen und jeden Tag zu essen, was Du möchtest, ne, das kann nicht Dein Leben gewesen sein! O-TON 15 Kneifel Das waren erst mal Gedanken, die um mich selber gekreist sind, aber dann auch verarbei- ten müssen im Laufe der Zeit: Was heißt das eigentlich sonst noch? Für das Opfer der Straftat, Peter Deutschmann? Was heißt das für meine Angehörigen? Das waren Sachen, die sehr schmerzhaft waren, mit denen ich sehr alleine war in meiner Zelle. Und das war natürlich brutal für mich selber, mir eingestehen zu müssen, wie falsch mein bisheriger Lebensweg war, welche Konsequenzen er hatte, und natürlich daran zu denken, wenn ich mal früher so nüchtern mein Leben betrachtet hätte, wie ich es jetzt tun muss. O-TON 16 Alex Weil sich Menschen dann verändern, weil sie Abstand bekommen zu dem normalen All- tag, zu ihren Endlosroutinen und- schleifen, stellen sie auf einmal Dinge in Frage, die sie vorher nicht in Frage gestellt haben. Das heißt, das Gleichgewicht im engeren Umfeld ver- ändert sich. Das heißt, die Menschen nehmen wahr, dass sich die Menschen verändern. AUTORIN Ausstiegs-Coach Carsten Alex. O-TON 17 Alex Ja, die Menschen nehmen ein Stück Abstand, weil da jemand etwas tut, was andere nicht tun. Was man vielleicht aber auch gerne tun würde, es aber nicht tut. AUTORIN Es braucht viel Mut, sein altes Leben zu verlassen. Birgt doch all der Ballast, an dem man so verzweifeln kann, auch Tröstliches: Sicherheit, Vertrautheit, ein fester Platz in dieser Welt. Die einseitige Aufkündigung kann erst mal einsam machen. Die Kraft, das auszuhal- ten, kommt aus der Zuversicht: SPRECHER So wie es sein soll, entscheide ich oder Und jedem Abschied wohnt ein Zauber inne. O-TON 18 Pokrandt Ich werde nie vergessen, als ich in das Flugzeug gestiegen bin, da kamen auf einmal Schweißperlen auf meine Stirn. Da kam so ne Angst vor der eigenen Courage. Was hast Du eigentlich gemacht? Du hast Deinen Job aufgegeben! Du fliegst jetzt weg! Hättest Du nicht ein Sabbatical-Jahr machen können? Musste das so extrem sein? Das war so ein kurzer Moment. Aber als ich dann in Lima ankam, da hat sich das schnell verflogen. AUTORIN Eine Abfindungsaktion gibt den Startschuss: Nach 12 Jahren kündigt Christoph Pokrandt. Er trennt sich von seiner Freundin, verkauft Auto und Wohnung. Er ist 39 Jahre alt und will fortan durch die Welt reisen - ohne das gewohnte feste Einkommen und ohne Rück- flugticket. Von zu Hause begleiten ihn nicht nur gute Wünsche. O-TON 19 Pokrandt Im engen Freundeskreis nicht, aber so im Bekanntenkreis. Da kamen schon so Spitzen durch. Die haben schon die Einstellung: Ab 40 musst Du doch den Ball flachhalten und warten bis zur Rente. AUTORIN Durch Asien und Südamerika führt Christoph Pokrandts Reise. Er braucht nicht viel: Seine Habe passt in einen Rucksack, er übernachtet in einfachen Pensionen oder bei Einheimi- schen. Sein altes Leben wird ihm immer fremder. O-TON 20 Pokrandt Ich war ja auch in Ecuador im Regenwald, hab dort bei Einheimischen gewohnt und wir sind da mit dem Buschmesser durch den Dschungel gewandert. Wir hatten ein Blasrohr und haben damit im Regenwald gespielt, das war klasse, das war weit weg von allem. Und da hab ich auch meine Arbeit in Frage gestellt als Entwicklungsingenieur für Kraftfahrzeu- ge und hab mir überlegt, was ich da eigentlich gemacht habe und wie man ohne materielle Dinge gut leben kann. O-TON 21 Rohde Das hab ich erst gemerkt als ich von unten zurückkam, dass ich das nicht begriffen habe. Warum so viele Kinder so leiden müssen, warum so viele Kinder weglaufen und alleine auf den Straßen leben. Das hab ich erst später im Kontext des westafrikanischen Denkens begriffen: Wenn sie weglaufen, ist das so ähnlich wie früher hier im Mittelalter, dass man auf Wanderschaft geschickt wird und dann kann man heiraten oder so. Man macht sich um Jungs keine Sorgen, die weggehen. Aber natürlich musst Du Dir in einer Großstadt wie Ouagadougou ungeheure Sorgen machen, weil alle in die Drogen fallen. Und dann hab ich gedacht, wenn keiner was tut, dann tu ich was. AUTORIN Nach einigen Jahren des quälenden Abwägens ist die Entscheidung gefallen: Mit 47 Jah- ren verkauft Katrin Rohde ihre Buchhandlung und ihr Haus, um in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos, ein Waisenhaus für Jungen aufzubauen. O-TON 22 Rohde Das letzte Weihnachten war ganz schön hart, da sind meine Eltern zu mir gekommen. Das Haus war leergeräumt, da stand nur noch eine Couch drin, ich hatte keinen Tannenbaum, nichts, nur ein Meer von Kerzen auf dem Fußboden verteilt. Und so saßen wir an diesem Weihnachten da. Und da kam plötzlich von draußen ein fremder Hund rein und setzte sich zu uns. Das war ... da hat meine Mutter sehr geweint. Ich hatte immer meinen Eltern ge- sagt, wenn einer von Euch nicht mehr da ist, dann kommt der andere zu mir. Und das konnte ich jetzt nicht mehr bewahrheiten und ich halte sonst alle meine Versprechen. Das hat mir immer, immer sehr wehgetan. AUTORIN Der Anfang in Ouagadougou ist hart. Katrin Rohde lebt allein und unter einfachsten Ver- hältnissen. Sie ist häufig krank. Das Klima, das Essen, die Mentalität, die Bürokratie - alles ist fremd und nicht nach den vertrauten mitteleuropäischen Maßstäben berechenbar. O-TON 23 Rohde Einfach so hingehen und helfen geht auch nicht, ich hab's auch bitter, bitter gelernt, lange, lange. Viele Nächte geweint, weil ich was falsch gemacht hab. Also das ist nicht so ein- fach, das Helfen. Das muss man schon sehr bescheiden anfangen und das muss man lernen mit viel Hingabe von den Menschen dort. O-TON 24 Kneifel Im Gefängnis war es so, ich kann keinem vertrauen und mir selber vertraut auch keiner. Ich war zu dem Zeitpunkt eigentlich ein sehr harter Mensch, ich hab ja niemanden an mich rangelassen. Nach außen schön meine Fassade aufgebaut, darauf geachtet, dass mir niemand zu nahe kommt. AUTORIN Johannes Kneifel, muskelbepackt und unnahbar, hat sich in der Knasthierarchie einen gu- ten Platz erobert. Alle sozialpädagogischen Maßnahmen prallen an ihm ab. Er gilt als schwer resozialisierbar. Eine vorzeitige Entlassung ist nicht in Sicht. Die Gedanken an seine Schuld quälen ihn. Nur mit den Mitgliedern einer christlichen Ge- meinde, die sich ehrenamtlich um Häftlinge kümmern, spricht er über seine Tat. O-TON 25 Gerade in dieser Phase ist mir vermehrt von Christen gesagt worden, dass es bei Gott immer auch die Möglichkeit gibt zum Neuanfang, dass das Angebot für jeden Menschen gilt, auch für mich, und dass ich ihn um Vergebung bitten kann und losgelöst von meiner Schuld ein neues Leben anfangen kann. Und das war dann tatsächlich so, dass ich das in einem Gefängnisgottesdienst nicht nur so als bloßen Gedanken mit dem Verstand erfasst hab, sondern ich hab in diesem Gottesdienst gemerkt, da spricht jemand direkt in mein Herz. Alle Mauern, die ich so aufgebaut habe, die sind für ihn scheinbar nicht existent. Ich hab auch gespürt, dass das kein Überfall ist, sondern das hat sich gut angefühlt, warm angefühlt. Und ich hab gemerkt, dass da jemand zu mir spricht, dem ich vertrauen kann, ja vielleicht der einzige ist, dem ich Vertrauen entgegenbringen kann. AUTORIN Zum Zeitpunkt dieses Erlebnisses hat Johannes Kneifel bereits drei Jahre seiner Strafe abgesessen. In den zwei Jahren, die ihm noch bevorstehen, kann er zum ersten Mal ohne Hader und Angst sein Leben betrachten. O-TON 26 Kneifel Ich hab meinen Frieden gefunden und konnte dann auch friedlich mit den anderen Men- schen umgehen. Ich hab mich nicht mehr bedroht gefühlt von anderen. Ich konnte lächeln, was ich vorher konnte, aber eigentlich nie gemacht habe, weil ich auch keinen Anlass da- für gesehen habe. Und ich hab auch Hoffnung gehabt, weil ich gemerkt habe, dass dieser Kontakt mit Gott mich so stark verändert hat, und infolgedessen die Gewissheit gehabt, dass, wenn Gott mich so intensiv verändern kann, dann kann er auch meine äußeren Um- stände verändern. Und das hat mir Optimismus gegeben, den ich vorher nicht hatte. Ich hab schon noch viele Schwierigkeiten gesehen, aber ich wusste, es wird gut ausgehen. AUTORIN Aussteigen als Sinn- oder Werteverlagerung, ob in der Fremde oder am gewohnten Ort, birgt immer auch das Risiko des Scheiterns. Freiheit, Sinn, Liebe - dieses Dreigespann des idealen Lebens weckt hohe Erwartungen an einen Neuanfang. Eine Garantie, dass das neue Leben keinen Zweifel, keine Leerstellen kennt, gibt es natürlich nicht. O-TON 27 Pokrandt Nach Monaten der Reise, nach Monaten ständig wieder in den Bus, rein, raus, ins Flug- zeug rein, wieder raus, neues Hostel rein, Hostel raus - hat man irgendwann das Bedürf- nis, auch mal wieder irgendwo anzukommen, ne Aufgabe zu haben. O-TON 28 Rohde Ich hab mich mein Leben lang nicht ganz hingegeben, denke ich. Und alle meine Aktionen waren eigentlich Re-aktionen auf das, was mein Umfeld wollte, und auf das, was ich dach- te, was sie von mir wollen. Und jetzt habe ich damit Schluss gemacht. Und diese Aktion war dann gleich ganz, in den Augen der anderen, knallhart Alles verkaufen und weggehen. Aber das war meine erste eigene Aktion. So alt musste ich werden, um das zu tun. O-TON 29 Kneifel Ich hab ja im Gefängnis, lange bevor ich zum Glauben gekommen bin, hab ich ja gelernt, mit meiner Schuld zu leben. Und das war sogar fast noch ein einfacherer Weg, weil ich meine Schuld da überhaupt nicht thematisieren musste. Da ist dieser Weg, den ich einge- schlagen habe, wo ich über Schuld sprechen muss, um über Vergebung reden zu können, ist da doch deutlich der schwerere Weg. O-TON 30 Alex Für jeden ist Sinn etwas anderes. Und auch wenn es schwer ist, die Kinder durchzubrin- gen, die Ausbildung zu finanzieren, das gibt verdammt viel Sinn. Es geht auch darum, ein- fach mal den Blick zu schärfen, den haben viele verloren, dass sie manche Dinge erken- nen, die Sie nicht mehr zu wertschätzen wissen. AUTORIN Vor dem radikalen Ausstieg empfiehlt Carsten Alex die Auszeit - ob sie nun mehrere Mo- nate, Wochen oder nur wenige Stunden dauert. O-TON 31 Alex Wer geht von uns in den Zoo alleine? Wer geht von uns ins Museum? In die Bibliothek? Also, es gibt die Auszeiten. Die Wenigsten können nur damit was anfangen. Und das heißt nicht, dass sie es nicht verstehen. Sie sind nur nicht bereit dafür, sie sind nicht offen dafür. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass das irgendetwas mit ihnen tut und macht. AUTORIN Ob Auszeit oder Ausstieg oder ob alles so bleibt, wie es ist - entscheidend ist, mit Blick auf sein Leben sagen zu können SPRECHER So wie es ist, so soll es sein oder Das Leben findet täglich statt. O-TON 32 Pokrandt Ich hab dann Klavierunterricht genommen, ich hab Kurse für Steinbildhauerei genommen, so richtig, wofür ich sonst keine Zeit hatte. Aber ich hab festgestellt irgendwann, nach Mo- naten, dass das auch nicht gereicht hat. Das war toll. Ich kam dann aber an einem Punkt Ich muss jetzt wieder was machen. Aber auf keinen Fall wollte ich wieder zurück an den Schreibtisch und Papier von links nach rechts schieben. Also das war für mich die Grund- bedingung. AUTORIN Als Christoph Pokrandt nach zwei Jahren des Umherreisens wieder nach Deutschland zurückkehrt, kann er es sich leisten, nicht zu wissen, wie es nun weitergehen soll. Unter- wegs hat er nicht viel gebraucht, seine Ersparnisse sind noch nicht aufgezehrt. Irgend- wann beginnt er, heruntergekommene Wohnungen zu kaufen, die er saniert und dann wieder verkauft. Mal laufen die Geschäfte gut, mal schlecht. O-TON 33 Pokrandt Durch dieses antizyklische Leben ist es so, ich kann zu keiner Bank gehen und mir ne Fi- nanzierung besorgen für ein Immobilienprojekt, weil ich kein hohes regelmäßiges Ein- kommen habe. Deswegen bin ich auf Freunde, auf gute Freunde, angewiesen, die da mit- investieren, die an mich glauben, an meine Projekte. Und es ist ja bisher auch immer gut gegangen. AUTORIN Heute ist Christoph Pokrandt 49 Jahre alt. Er reist noch immer viel, vor allem nach China, wo er seine Frau kennengelernt hat. Mittlerweile haben die beiden einen Sohn. Auch mit diesem Mehr an Verantwortung möchte er nicht wieder zurück in ein festes Arbeitsverhält- nis. O-TON 34 Pokrandt Ich hab für mich festgestellt, glücklich zu sein, ist, diesen Mittelweg zu finden. Nicht nur extrem Karriere zu machen, nur extrem zu arbeiten, 12, 14 Stunden am Tag, oder auch nur um die Welt zu reisen oder in den Tag hineinleben. Für mich jedenfalls, dass ich so mehrere Dinge habe Zeit zu reisen, Zeit für Arbeit, Zeit für Freunde, Zeit, auch mal zu fau- lenzen. Vielleicht hab ich durch diesen Schnitt in meinem Leben die Zeit gehabt, darüber nachzudenken und festzustellen, dass weniger mehr ist. Bis heute brauche ich nicht viel zum Leben und das ist auch wichtig. O-TON 35 Rohde Ich kann diese Ratlosigkeit, dieses völlige Sich-Selbst-Aufgeben, weil kein Rat da ist, eine Mutter mit einem schwerkranken Kind - Mütter sind es nicht gewohnt aufzustehen und zu rufen Hilfe, mein Kind stirbt. Sie tun es einfach nicht, weil man es ihnen nie erlaubt hat im Leben. Und meine Waisenkinder in Ampo, die können das, die können aufstehen auch für andere, weil sie das gelernt haben inzwischen. Das sehen sie bei mir, wie man das macht. Aber so ne Mutter, die wartet einfach nur, bis das Kind tot ist. Sie hat nicht die Möglichkeit, den Arzt ans Revers zu fassen und zu brüllen: Hilfe, es ist soweit. Und in diesen Dingen will ich Hilfestellung geben, weil es notwendig ist zum Überleben. AUTORIN 18 Jahre sind mittlerweile seit Katrin Rohdes Umzug nach Ouagadougou vergangen. Zu dem Heim für Straßenjungen sind in dieser Zeit zahlreiche Hilfsprojekte hinzugekommen. Unter dem Namen Ampo - Das Gute geht nie verloren - sind sie alle zusammengefasst: Ein Waisenhaus für Mädchen, eine Landwirtschaftsschule, eine Krankenstation, ein Mehr- generationenhof, eine Mädchen-Beratung und eine Unterkunft für Aids-kranke Mütter. Bei Katrin Rohde laufen alle Fäden zusammen. Arbeitstage von 14 Stunden sind keine Sel- tenheit. O-TON 36 Rohde Ich sitze Stunden um Stunden in irgendwelchen Vorzimmern von Ministern oder bei Ban- ken. Ich habe in Krankenhäusern so heftig zu tun, dass man es eigentlich kaum aushalten könnte. Wir sitzen mitten in der Stadt und es ist viel Elend drum herum, was immer teilhat, auch wenn's meinen Kindern im Waisenhaus gut geht. Ständig die elendsten Fälle, mit Messer im Bauch vor der Tür liegen sie, und dann muss ich was tun. AUTORIN Im Mai, wenn die Hitze in Burkina Faso unerträglich wird, reist Katrin Rohde nach Europa. In Deutschland und seinen Nachbarländern besucht sie Schulen, hält Vorträge und sam- melt Geld für ihre vielfach ausgezeichneten Hilfsprojekte, denn Ampo finanziert sich aus- schließlich über Spenden. Bei diesen Reisen wird sie immer wieder daran erinnert, was bei allem Elend den Reichtum ihres neuen Zuhauses ausmacht. O-TON 37 Rohde Wenn Du zwei Hände hast und zwei Füße und Du weißt, dass Du bis morgen was zu es- sen hast und für übermorgen auch und Dein Schulgeld bezahlt hast für die Kinder, dann kannst Du lachen. Aber wenn ich denke, wie viele Menschen sich hier beständig Sorgen machen, die leben so was von zersorgt, über ihre Zukunft und über ihr Heute auch schon, also das ist verschwendete Zeit einfach. O-TON 38 Kneifel Ich seh meinen Platz auf jeden Fall in der Mitte der Gesellschaft. Ich dachte früher immer, ich muss mich irgendwie abgrenzen. Und am Rand gibt's sehr wenig Vielfalt, die gibt's in der Mitte, wo alles zusammenkommt und alles vermischt wird und das hab ich sehr zu schätzen gelernt. AUTORIN Nach fast fünf Jahren Haft kann Johannes Kneifel das Gefängnis verlassen. Er mietet sei- ne erste eigene Wohnung, macht das Abitur nach und findet Anschluss an eine Baptisten- gemeinde. Irgendwann wird ihm klar: Er möchte seinen Glauben zum Beruf machen. Er studiert Theologie und steht heute, mit 31 Jahren, kurz davor, seine erste Pastorenstelle anzutreten. O-TON 39 Kneifel Ich bin schon ein Stück weit missionarisch.Ich weiß aber auch, dass ich sowieso nieman- dem Gedanken oder einen Glauben aufzwingen kann. Ich möchte einladen dazu, ich möchte anderen Menschen vermitteln, was es mir bedeutet. Aber die Entscheidung muss jeder für sich treffen, so wie ich die Entscheidung damals auch treffen musste. AUTORIN Mit seiner Vergangenheit geht Johannes Kneifel offen um. Er hat ein Buch geschrieben, er ist Gast in Talkshows und spricht regelmäßig auf Veranstaltungen gegen Rechtsextre- mismus. Er muss akzeptieren, dass immer wieder jemand an seinem Wandel zweifelt und seine Schuld nicht vergessen will. O-TON 40 Kneifel Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Ich habe damals so gehandelt, es ist endgültig. Aber ich kann mit dem, was passiert ist, jetzt die Gegenwart gestalten und die Zukunft angehen. Und das tu ich. Und das ist das Entscheidende. AUTORIN Das gute, das erfüllte Leben - es hat viele Gesichter. Sei es, wie bei Johannes Kneifel, die Hinwendung zu christlichen Werten und den Dienst an Gott. Sei es, wie bei Christoph Po- krandt, der Verzicht auf finanzielle Sicherheit, um über ein Mehr an frei gestaltbarer Zeit zu verfügen. Oder, wie bei Katrin Rohde, die Entscheidung für einen Sinn, der im praktischen Helfen liegt. Alle drei haben sich auf den Weg gemacht - und sind angekommen. Bei sich und einer Haltung, die getragen wird aus Erfahrung, Zuversicht und dem offenen Blick für das, was uns umgibt. O-TON 41 Kneifel Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der wir gemeinsam daran arbeiten, dass es besser wird. Ich glaube, da kann auch jeder seinen Teil beitragen. Die Leute, die ich im Gefängnis kennengelernt hab, natürlich haben die schwere Fehler begangen, aber das waren auch Leute, die begabt waren, die sehr positive Charakterzüge hatten. Menschen, die wir eigentlich brauchen, wenn sie es schaffen, ihre Gaben gut einzubringen. O-TON 42 Pokrandt Ich hab bis heute niemals bereut, diesen Schritt zu machen, meinen gutbezahlten Job auf- zugeben. Denn ich hab festgestellt, wenn man so eine Tür schließt, es gehen automatisch neue Türen auf. Es kommen neue Möglichkeiten, von denen man überhaupt nicht dachte, dass es solche Möglichkeiten gibt. O-TON 43 Rohde Oft wird mir hier gesagt: Oh, ich bewundere ja, was sie tun. Und dann sage ich: Nee, so schon mal gar nicht. Jeder kann was Gutes machen. Sie können hier genauso viel Gutes machen. Ich könnte doch jederzeit allen möglichen Menschen eine Hand reichen. Und diese Hand, die muss einfach von Herzen kommen. Und das können Sie bei Ihrem Nach- barn rechts und links tun, das können Sie genau vor der Tür, da wird irgendjemand sein, der braucht ne Hand. Sprecher/in vom Dienst: Aussteigen, um anzukommen- Von Menschen, die ein neues Leben wagen Ein Feature von Monika Köpcke Es sprachen: die Autorin und Julius Stucke Ton: Andreas Narr Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 1