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Napoleon nein!“ ERZÄHLER Es ist ein nachdenklicher, träumerischer korsischer Insulaner, der mir das erzählt. Christian Andriani. Ein Fotograf. Ein Büchermacher und Theatermann. Ein Instrumentenbauer, Musiker und Sänger, der am liebsten nur vom Tod und von der Liebe sänge. Ein Mensch vom Lande, zu Hause aber auch in Archiven und Studierstuben. Einer, der die Berge und das Meer liebt. Aber auch orientalische Sprachkultur und praktische Barmherzigkeit. Ich würde ihn gern einen aufgeklärten katholischen Kultur- Philosophen nennen wollen. Aber er kommt mir zuvor: O-TON Christian Andriani „Je pratique la Corse … plus que trente cinq ans.“ SPRECHER 1 Mehr als 35 Jahre lang praktiziere ich überall das ganz alltägliche Korsika. O-TON-MUSIK ERZÄHLER Aus solcher Praxis entstand bei Christian Andriani unter anderem die Liebe zur französischen Sprache bei wachsender Abneigung gegenüber Frankreich als Träger der Leitkultur. Der unaufgeregte Umgang mit der weitgehend wiedererweckten korsischen Sprache bei gleichzeitigem Misstrauen gegen die politisch Radikalen, die nach mehr als nur kultureller und linguistischer Autonomie streben. Und eben auch die Unterscheidung zwischen den Tugenden einer korsischen Familie und dem abgehobenen Leben ihres berühmt gewordenen Sohnes. O-TON Christian Andriani „Bonaparte - cela n’était pas une famille très riche … son théâtre de vie.“ SPRECHER 1 Die Bonapartes waren nicht besonders reich. Sie waren offenbar vor langer Zeit aus der Toscana zugewandert. Die Männer gingen in die Armee. Die Familie lebte seit dem 17. Jahrhundert in Ajaccio in einem Milieu, das Genueser Flüchtlinge prägten. Sie haben die städtische Gesellschaft mitgestaltet. Ein paar der jüngeren Bonapartes gehörten zur Bruderschaft von Johannes dem Täufer. Sie hatten nur wenig Landbesitz; es war eine kleinbürgerliche Familie. ER aber war ein verrücktes Energiebündel. Ein unglaubliches Phänomen. Er schlief nur wenig. Er war der Kleinste. Ein bisschen mickerig. Ein Schwächling. Aber als er nach Ajaccio kam, bewies er bereits große Charakterstärke. Man redet ihn gern klein – ach, dieser Napoleon, dieser Bonaparte! Aber man redet anders von ihm, wenn man das Milieu kennt, aus dem er kam. Dann ahnt man, wie sein Theater des Lebens gespielt hat. O-TON-MUSIK ERZÄHLER Dennoch: Napoleon hat auf Korsika kaum mehr als die Militarisierung gemäß den Vorstellungen des französischen Generalstabes hinterlassen, wenn man mal von jenem romantischen Satz absieht, der häufig und gern zitiert wird: ZITATOR Meine Insel kann ich mit verbundenen Augen erkennen. So unverwechselbar ist der Duft ihrer wilden Kräuter. ATMO Fähre ERZÄHLER Der Rest ist Ironie: ZITATOR Napoleon Bonapartes einziges nachhaltiges Verdienst um Korsika liegt darin, dass er auf der Insel… geboren wurde. ATMO Fähre ERZÄHLER Ende des Vorspiels auf dem bonapartistischen Theater des Lebens. ATMO Fähre ZITATOR Am Geruch will Napoleon „sein“ Korsika erkannt haben, bevor die Küste am Horizont sichtbar wurde. Ganz an den Haaren herbeigezogen ist diese Vorstellung nicht. Denn bei günstigem Wind kann der Reisende, der mit der Fähre nach Korsika kommt, Napoleons Wahrnehmung im Selbstversuch überprüfen – und wenn er im Frühjahr fährt und einen dunstigen Tag erwischt, kann es gut möglich sein, dass ihm der über das Meer wehende Duft von Millionen blühender Dornensträucher der Macchia eher in die Nase steigt als sein Auge die Konturen des Inselgebirges erkennen kann. ATMO Heftiger Regen ZITATOR Fast berauschend intensiv wird der Geruch nach einem abendlichen Regenschauer im Frühjahr, wenn die Sonne wieder auf die undurchdringliche Macchia scheint und das Regenwasser verdunsten lässt. Denn dann steigen mit dem Duft der Blüten viele ätherische Öle auf, die die Landschaft mit einem dichten Parfumschleier überziehen. ERZÄHLER So „berauscht“ sich der Berufsreisende Wolfgang Kathe an Korsika. Der Berufsanimateur Daniel Charavin kann sich jedoch ähnlich begeistern. O-TON Daniel Charavin „La Corse diffère … destination touristique.“ SPRECHER 1 Schon durch seine Natur unterscheidet sich Korsika von anderen Landschaften. Wir sind eine Insel, und wenn man eine Insel definieren will, dann meint man doch nicht nur Tourismus. Wir leben hier in einer anderen Dimension und die heißt eben nicht Touristik, sondern „Reise“. Wenn man uns besuchen will, muss man eine Reise machen. Man muss anderen Menschen begegnen wollen. Das beginnt schon damit, dass man ein Flugzeug oder ein Schiff braucht, um hierher zu kommen. Man muss sich also in die Welt der „Reisenden“ begeben, indem man ein Billet kauft. Man wechselt in ein anderes System über, und darum sind die kulturellen Vermittler so wichtig. Das ist auf dem Festland so nicht der Fall. Sie fahren zu Hause los, in irgendeine Region Frankreichs, und irgendwann steigen Sie aus. Mit dem Auto dauert das höchstens einen Tag. Dann verbringen Sie irgendwo Ihr Wochenende. Zu all dem brauchen Sie nicht notwendigerweise einen Vermittler: Kein Reisebüro. Keinen, der Ihnen eine Unterkunft reserviert hat. Man kann das alles noch während der Fahrt direkt regeln. Nein, Korsika ist etwas, das man wohl „Bestimmungsort einer Reise“ nennen sollte. ERZÄHLER Besonders die Reisenden des 19. und 20. Jahrhunderts prägten emotional gefärbte Schlagworte wie „Gebirge im Meer“ oder „Granitinsel“, um Korsika zu fassen. ZITATOR Wie ein wuchtiges Schiff aus schwerem Stein, ein mit vielen Furchen durchzogener, massiver Granitblock, liegt die Insel im Meer. Wegen seines vielfältigen Reliefs und dem besonderen Mikroklima spricht man manchmal auch von einem „Mikro- Kontinent“. O-TON Daniel Charavin SPRECHER 1 Die Italiener sagen von uns, wir seien eine ganz Welt auf einer Insel! MUSIK Caramusa CD II/4, „A muntanera“ ERZÄHLER Folgt nun die erste von vielen Begegnungen mit den bodenständigen Bewohnern der „Schönen“, wie die Korsen selbst oft und durchaus zutreffend ihre Insel nennen. „A Kallisté, Insel der Schönheit riefen schon die alten Griechen, als sie hier zunächst fruchtbares Ackerland und später politisches Exil suchten und fanden. Und Holz für den Schiffbau, weswegen das Eiland noch einen weiteren Namen bekam: „Kyrnos – von Wald bedeckt“. O-TON Antoine Foata „Je suis Corse … vers le 10 septembre.“ SPRECHER 2 Ich bin Korse. Schafzüchter und Käser. Den Käse mache ich zusammen mit meinem Freund. Der Besitzer hat uns eine Herde von 400 Tieren anvertraut – der Rasse nach alles „Korsen“. Die Tiere fressen nur frisches Grünzeug. Na ja, manchmal auch Mais. Wir haben schönes Weideland, über zweihundert Hektar Wiesenkräuter und Unterholz. Das fressen die Tiere gern. Und sie geben Milch von ganz besonderer Qualität. Den Winter über bleiben wir hier unten. Anfang Juli gehen wir dann in die Berge, ins Hochgebirge, 1600 Meter hoch. Wir bleiben mehrere Wochen bei unserer Herde, bevor wir um den 10. September herum wieder ins Flachland absteigen. ERZÄHLER Das erzählt der 72-jährige Antoine Foata, während seine viel jüngere Frau - eine Afrikanerin - Rotwein und kühles Quellwasser einschenkt. O-TON Antoine Foata „J’ai toujours vécu … à la ferme.“ SPRECHER 2 Ich habe immer mit den Tieren zusammen gelebt, wie mein Großvater, der war auch Hirte. Und meine Eltern auch. Ich habe alles getan, was sie getan haben. Nicht zu vergessen meine Frau, die aus Kamerun kommt. Sie arbeitet gern hier, in der Käserei. Meine erste Frau dagegen arbeitete lieber mit mir zusammen auf dem Hof. ERZÄHLER Monsieur Antoine bekommt feuchte Augen. Das Erinnern macht ihn traurig. Seine vier Kinder haben ihn und das Dorf verlassen. Er schaut hinauf in das hier so bedrohlich wirkende Hochgebirge, das auf den Hirten mit seinen vielen Tieren wartet. Aber die Erinnerungen lassen ihn noch nicht wieder los: O-TON Antoine Foata „À 21 ans … c’était une guerre!“ SPRECHER 2 Mit 21 Jahren haben sie mich zum Wehrdienst eingezogen. 33 Monate bin ich Soldat gewesen. Das war während des Algerienkrieges. Als ich nach Hause kam, habe ich bei meinen Eltern die gewohnte Arbeit als Hirte, Melker und Züchter wieder aufgenommen. Algerien – das war ein Krieg, ich hatte damals schließlich einen Wehrpass. Mittlerweile hat sogar unser Verteidigungsminister zugegeben, dass es ein Krieg war; fünf, sechs Jahre Krieg! 20 000 junge Leute sind in Algerien gefallen. Zwanzigtausend! Das waren nicht bloß „Ereignisse“. Das war ein Krieg! ERZÄHLER Soweit die Erinnerungen. Und wie steht’s mit der Zukunft? O-TON Antoine Foata “Il y a cinq ans … la force.“ SPRECHER 2 Seit fünf Jahren lebe ich jetzt hier und habe immer was zu tun. Der Käse. Die Schafe. Die Lämmer. Meine Schweine. Meine Ziegen. Aber mittlerweile merke ich auch, dass ich älter geworden bin. Ich habe zwar den guten Willen weiterzumachen. Aber ich habe keine Kraft mehr. MUSIK Caramusa CD II/12 „A traviata“ ERZÄHLER Die Insulaner sind seit Jahrhunderten fest davon überzeugt, dass alle Korsen gleich sind – egal, wie weit sie es gebracht haben auf der Jagd nach Rang oder Respekt oder Ruhm oder Reichtum. Das sagt auch Christian Andriani. O-TON Christian Andriani … pas parlé.“ SPRECHER 1 Sobald man im Dorf einer Bruderschaft beitritt, ist man allen Brüdern gegenüber gleich. Darum tragen wir auch einen Kapuzenmantel, der den gesamten Körper bedeckt. Man soll die Leute nicht kennen - oder wiedererkennen. Und vor allen diejenigen nicht, die reich geworden sind. Alle Menschen sollen gleich sein, vollkommen gleich im Umgang miteinander. Da gibt es diejenigen, die Korsika verließen, um es draußen weiter zu bringen, die verantwortungsvolle Posten bekleideten, in der Politik, in der Gesellschaft. Die beruflichen Erfolg hatten und Staat „gemacht“ haben. Solange sie woanders lebten, haben sie dort ihre sozialen Beziehungen gepflegt. Aber sobald sie in ihr Dorf heimkehren, sind sie wieder diejenigen, die einst weggingen. Sie sehen um einen Tisch herum ein paar Kartenspieler. Der eine ist vielleicht ein Industrieller mit Vermögen, und neben ihm sitzt jemand, der sein Dorf nie verlassen hat – sie spielen zusammen, sie singen zusammen. O-TON-MUSIK Einfache Polyphonie a cappella ERZÄHLER Die Bruderschaften - Les confréries - haben viel zum Erhalt der kulturellen Eigenheiten beigetragen. Ihr Geschäft ist die Sorge um die Identität von Mensch und Land auf korsische Art. ZITATOR Das religiöse Brauchtum. Die korsische Sprache. Die a cappella gesungene Polyphonie. Die Hochgebirgsschäfereien. ERZÄHLER Die Selbstjustiz mit dem Dolch dagegen, die „Vendetta“, gehöre nicht mehr dazu. Sagt man. Beteuert man. Beklagt man sogar, wenn’s um Ehrenhändel geht. O-TON-MUSIK Polyphonie MUSIK Tino Rossi „Oh Corse ile d’amour“ ERZÄHLER Zusammengehalten wird das Ganze durch eine deutliche Abgrenzung gegen die Nachbarinsel Sardinien, gegen Italiener und Franzosen vom Festland. ZITATOR Die Franzosen vom „Kontinent“ haben ein Bild von Korsika, zu dem ein Kaiser, Napoleon I., ein beliebter Sänger, Tino Rossi, hervorragende Verwaltungsbeamte, Politiker, Militärs und einige wahrhaftige Banditen gehören. Zu diesen Elementen gesellt sich die Neigung, den Korsen ein paar kleine Fehler nachzusagen: Nachlässigkeit, Empfindlichkeit, übersteigerter Patriotismus und Cliquenwirtschaft sowie eine Vorliebe für Steuerhinterziehung und Wahlfälschung. MUSIK Tino Rossi „Oh Corse ile d’amour“ O-TON-MUSIK Polyphonie ERZÄHLER Verständlich, dass sich die Korsen selbst ganz anders sehen. ZITATOR Korsen zeigen sich eher herb und ernst, gelegentlich mediterran überschwänglich, haben Sinn für Humor und Schlagfertigkeit. Außerdem zeichnen sie Qualitäten wie Nüchternheit, Tapferkeit, Familiensinn, Ehrgefühl, Treue in der Freundschaft und Zuverlässigkeit aus. O-TON-MUSIK Polyphonie ERZÄHLER „Kontinentalfranzosen“ zeigen besonders großen Respekt gegenüber den Bruderschaften, die sich als Garanten der traditionellen Werte Korsikas verstehen und auch so benehmen. Über 70 solcher Männerbünde wirken auf der Insel. Im Norden sind es weniger, im Süden mehr. Ich habe Bonifacio und dort einen älteren Herrn besucht, der fünf Bruderschaften vorsitzt: Maître Joseph di Simoni. Er lädt zu einer Zeitreise, die im 14. Jahrhundert beginnt. O-TON Maître Joseph „A l’origine … la famille.“ SPRECHER 2 Entstanden sind die Bruderschaften anfangs aus Berufsgruppen und Ständen. Ihr wichtigster Zweck war, den Ärmsten der Armen zu helfen. Also Menschen, die nicht einmal das Nötigste zum Leben hatten. Sie bedurften der Unterstützung durch uns und unsere Bruderschaften. Die erste war die Confrérie vom Heiligen Kreuz. Sie wurde von hohen und höchsten Persönlichkeiten der Stadt Bonifacio gegründet: Bürgermeister, Steuereinnehmer, Richter, Arzt. Also, alles Leute, die eine Rolle spielten in Bonifacio. Das war damals noch viel wichtiger als heute. Unter deren Leitung war es dann die Aufgabe der Bruderschaft, den Ärmsten Trost und Hilfe zu bringen in ihrer Verzweiflung und ihrem Elend, wenn sie zum Beispiel einen lieben Menschen verloren hatten, oder wenn ein Familienmitglied schwer erkrankt war. ERZÄHLER Und dann berichtet Maître Joseph von der lange Zeit vornehmsten Aufgabe der Bruderschaften, der Leichenbestattung. O-TON Maître Joseph „Je vous prend le cas … à la famille.“ SPRECHER 2 Die Beisetzungsfeierlichkeiten wurden damals ausschließlich von den Bruderschaften geleitet. Sobald wir erfuhren, dass ein Familienangehöriger aus einer Bruderschaft gestorben war, schauten wir nach, ob der Verstorbene auf einer Liste der Bruderschaften stand; denn ihnen galt es beizustehen, ohne dass sie auch nur einen Groschen dafür zu zahlen hatten. Wenn Mitglieder der Bruderschaft erfuhren, dass einer von ihnen verstorben war, begaben sie sich umgehend zur Trauerfamilie und fragten, welche Unterstützung sie benötigen. Wie es bei uns Brauch ist, wachten wir eine Nacht lang und beteten den Rosenkranz, um der betroffenen Familie zu zeigen, wie sehr wir uns dem Toten und den Hinterbliebenen verbunden fühlten. ERZÄHLER Maître Joseph geriet beim Reden so richtig in Fahrt; die Erzählung von der Beisetzung in einer der vielen Sargkammern wurde mehr und mehr zu einer kleinen tragikomischen Szene im Theater des korsischen Lebens. O-TON Maître Joseph „Nous allions … voyez!“ SPRECHER 2 Wir nahmen den Sarg unten an den Leitern auf und stiegen damit in die erste, die zweite, die dritte Etage. Manchmal hatten wir einen Kilometer zu laufen. Und dann waren wir es – wir! -, die den Leichnam in seinen Sarg legten. Wir waren es, die den Verstorbenen einbetteten. Wir waren es, die ihn auf unserem Rücken zur Kirche trugen. Und wenn wir einen Kilometer zu laufen hatten, dann liefen wir eben diesen Kilometer, denn ein Auto gab es noch nicht. So war das. O-TON-MUSIK/ATMO Prozession ERZÄHLER Auch der Bischof von Korsika bemüht erst die Vergangenheit, um die Bruderschaften dann einzuordnen in gegenwärtiges Christentum. O-TON Bischof „Les confréries étaient aussi … société pluraliste.“ SPRECHER 1 Anfangs gab es zum Beispiel eine Bruderschaft der Schreiner und Tischler. Eine Bruderschaft der Müller. Heute hat sich da vieles entwickelt und sehr geändert. Heute sind die Bruderschaften eine Art brüderlicher Zement für die korsische Gesellschaft. Denn in ein und derselben Bruderschaft kann man einem arbeitslosen Jugendlichen begegnen und einem Kardiologen, der Chefarzt einer Klinik ist. Das ist das eine. Das andere ist das besondere soziale Erscheinungsbild der Brüder. Gegenüber der Vereinzelung der Menschen in ihrer beruflichen oder sozialen Umgebung gibt es hier einen Geist gegenseitiger Brüderlichkeit. ERZÄHLER Ist es Barmherzigkeit oder der Versuch eines gerechten Lastenausgleiches? O-TON Bischof SPRECHER 1 Sie sorgen für soziale Sicherheit. Sie sorgen für die Kommunikation innerhalb der Gemeinde. Sie begleiten große Vorhaben. Sie bestellen Kunstwerke für die Barockkirchen. Oft besuchen sie dazu Werkstätten und Ateliers in der Toscana und anderswo. Man kann also sagen, und das ist außerordentlich wichtig, die Geschichte der Bruderschaften gleicht einem mehrschichtigen Abbild der bäuerlichen Gesellschaft Korsikas… ERZÄHLER …in dem sich die drei vornehmsten Aufgaben aller Bruderschaften widerspiegeln. ATMO Prozession, Büßerglöckchen ERZÄHLER Erstens: Aus tiefer religiöser Überzeugung „parteilich“ zu sein für den christlichen Glauben und den Erhalt des christlich-sozialen Wertekatalogs. ATMO Büßerglöckchen ERZÄHLER Zweitens: Durch eine kulturelle und künstlerische Jugendarbeit Elemente der lebendigen republikanischen Tradition weiterzugeben. ATMO Büßerglöckchen ERZÄHLER Und drittens: Durch die Förderung von Kirche und Küche, Sprache und Musik daran mitzuwirken, dass korsische Kultur nicht zu touristisch orientierter Folklore verkommen. O-TON Bischof „On ne fait pas du folklore … un plaisir.“ SPRECHER 1 Wir machen keine Folklore. Wir halten nicht um jeden Preis an der Vergangenheit fest. Die jungen Leute kommen mit Vergnügen zu uns. Das harmonische Zusammenleben, die Toleranz macht ihnen Spaß. Man lernt, einander zuzuhören. Dafür ist der Gesang eine fabelhafte Übung. Man verändert sich durch seine eigene Stimme. Im Singen erneuert man sich. Beim Singen bekommt man ein anderes Bewusstsein. Das macht Vergnügen. Gesang ist Freude. O-TON-MUSIK ERZÄHLER Gesang ist Freude. Und damit ist das geistliche Singen der Bruderschaften ebenso gemeint wie das Singen und Musizieren der Korsen im Arbeitsalltag oder bei den vielen Festen und Feiern. Zur religiösen Tradition auf der Insel gehören jedoch auch ein paar mystische mittelalterliche Bräuche, die insbesondere in den Bruderschaften erhalten geblieben sind. Darunter vor allem die zahllosen Prozessionen, vom Begehen von Saat und Ernte über die Verehrung der Ortsheiligen bis zu individuellen Bußübungen in öffentlicher Anonymität. Öffentlich und anonym zugleich. In Sertè und Corti spielen in der Prozession des Catenacciu der „Rote Büßer“, ein schweres Holzkreuz und eine Eisenkette die Hauptrollen. Diese Prozession ist über die Insel hinaus berühmt, aber auch umstritten. Gerade christliche Kritiker sehen darin eine Verherrlichung des Sündenbocks aus dem Alten Testament. Die Bruderschaften bestehen auf der Zeremonie, weil die Prozession an die zwei wichtigsten Aspekte korsischer Frömmigkeit erinnert: An die Identifikation mit dem gedemütigten Jesus und dem gekreuzigten Gottessohn. ATMO Prozession mit Gesang und Büßerglöckchen ZITATOR Angeführt wird der Zug von dem Großen Büßer, der Catenacciu genannt wird… ERZÄHLER Der Name leitet sich vom italienischen und korsischen Wort Catena - Kette - ab. Catenacciu bezeichnet also einen mit Ketten gefesselten Übeltäter. ZITATOR Dieser hat die Nacht und den Tag zuvor im Gebet in einem Kloster verbracht und am folgenden Karfreitagabend in der Marien-Kirche ein schweres Kreuz auf die Schulter genommen. In der Regel hat sich der Catenacciu schon Jahre voraus beim Ortspfarrer um die Ehre beworben, auf diese strikt anonyme und kein zweites Mal zu wiederholende Art Buße für sich selbst und stellvertretend auch für die ganze Gemeinde zu tun. Erst nach sorgfältiger Prüfung durch drei Geistliche vom Festland wurde er auf die Liste der Erwählten gesetzt. Jetzt – auf der Prozession – identifiziert er sich mit Jesus Christus. In ein rotes Gewandt gehüllt, den Kopf unter einer Kragenkapuze versteckt und barfuß, macht er sich völlig anonym auf seinen mehrstündigen schweren Gang. Eine um das Fußgelenk gelegte, 14 Kilo schwere Eisenkette, die über das Pflaster schleift, und dazu ein hohes Eichenkreuz von mehr als 30 Kilo auf seiner Schulter lassen den Büßer wanken. Dreimal bricht er zusammen, wie es das Neue Testament auch von Jesu Weg nach Golgatha berichtet. Und dreimal kommt ihm ein weißer Büßer zu Hilfe wie Symon von Kyrene in dem biblischen Bericht. Ist das nicht der reine Masochismus, fragt sich mancher in der Menge. Die filmt und fotografiert unermüdlich. Bis ein weißhaariger Priester raunzt, hier sei weder Karneval angesagt noch ein Filmdreh, sondern eine heilige Prozession. Nur dem Ortspfarrer ist als Einzigem die wahre Identität des Catenacciu bekannt. In den meisten Fällen wollen verurteilte Verbrecher mit diesem Bußgang Sühne leisten. Und andere, deren Taten unerkannt geblieben sind, möchten auf diese Weise ihr Gewissen entlasten. Übrigens ist es ein beliebter Sport, Wetten abzuschließen, wer der Catenacciu sei und ob man ihn erkennen könne. Erkennbar sind nur die Art des Ganges – aber verfälscht durch das Gewicht von Kreuz und Kette – und die Form der nackten Füße, die als einziges sichtbar bleiben. ERZÄHLER Korsikas Bischof verteidigt sich, die Bruderschaften und den schweren Gang des Catenacciu gegen den Vorwurf, hier ginge es lediglich um Folklore und schlecht verborgene heidnische Frömmigkeit. O-TON Bischof „Le catenacciu … authentique.” SPRECHER 1 Vor der Prozession zieht sich der Büßer drei Tage lang zurück. Er trifft sich mit dem Priester, der die Zeremonie leitet, und legt ein umfassendes Glaubens- und Sündenbekenntnis ab. Die strikte Anonymität ist die Garantie, dass dies alles nur den Herrgott und ihn ganz persönlich angeht. Das ist und bleibt ein privates Vorhaben. Und oft antworte ich denen, die sich beschweren und sagen, alle diese Bruderschaften, alle diese Prozessionen seien doch nichts als Folklore… Denen entgegne ich ziemlich nachdrücklich, dass ich immer wieder entdecke, wie ein solches Vorgehen der Brüder und der Büßer von tiefster authentischer Spiritualität zeugt. ERZÄHLER Im Verlauf eines kleinen Gesprächs skizziert der Oberhirte von Korsika, der Père evêque, wie er sich selbst nennt, der Vater Bischof, seine Perspektive von der engagierten Mitwirkung der Brüder in Kirche und Gesellschaft. O-TON Bischof „Les confréries … dans la société.“ SPRECHER 1 Die Bruderschaften habe ich vor drei Jahren, als ich hier ankam, für mich entdeckt. So etwas gab es bei uns in Nordfrankreich nicht. Anfangs war ich ein bisschen überrascht, wie viele Menschen auf Korsika den Bruderschaften angehören. Insgesamt sind es jetzt wohl 74, davon vier, die erst nach meiner Ankunft gegründet wurden. Ich gebe zu, dass mich die ersten Begegnungen mit diesen Leuten überraschten. Diese Prozessionen in Kutte und Kapuze, die alle Träger gleich aussehen lassen. Aber dann habe ich begriffen, dass die Bruderschaften Menschen mobilisieren, denen bewusst geworden ist, welche Rollen und Aufgaben sie zu übernehmen haben. Zunächst in der Kirche. Aber auch in der Gesellschaft. ERZÄHLER Bereits im Mittelalter gab es auch entlang des Rheins und seiner Nebenflüsse in fast jeder Stadt spirituelle Zusammenschlüsse dieser Art. Doch hatten sie, abgesehen von der Pflege und Sicherung des Totengedenkens, noch nicht so stark karitative, kulturelle und gesellschaftliche Aufgaben übernommen. ZITATOR Am Beginn des Bruderschaftswesens standen die von den Klöstern ausgehenden „Gebetsverbrüderungen“, bei denen die Mitglieder durch freiwillig übernommene Gebetsketten miteinander verbunden waren. Sie waren die wichtigste gemeinschaftsbildende Kraft für die Laien. ERZÄHLER Entlang der Mittelmeerküsten ist auch davon noch manches übrig geblieben, wobei die Tradition der Gebetsketten auf Korsika heute in den Ketten des polyphonen A cappella Gesanges fortgesetzt wird. Bereichert um viele „weltliche“ Tätigkeiten. Der Bischof erzählt: O-TON Bischof „J’ai entrepri… la culture.“ SPRECHER 1 Ich habe meine Arbeit mit den Bruderschaften mit drei Schwerpunkten begonnen, über die wir miteinander und die Bruderschaften auch untereinander nachgedacht hatten. Der erste Schwerpunkt ist das gesamte liturgische Leben. Die Brüder bemühen sich sehr um die liturgische Polyphonie und um die Wechselwirkungen zwischen der Liturgie und der Insel-Kultur. Diese Arbeit werden wir ganz bestimmt fortsetzen, um eine geistliche Musik zu schaffen, die es den Korsen erlaubt, zum Herrgott zu kommen, ihn zu loben, zu ihm zu beten aus dem ganzen Reichtum der bodenständigen Kultur heraus. O-TON-MUSIK ERZÄHLER Die kritische Einstellung Luthers und anderer Reformatoren hatte die Bruderschaften fast völlig zum Erliegen gebracht. Reste der überkommenen religiösen Brauchtümer gab man nur noch innerhalb kirchlicher Gruppen und Vereine weiter. Erst Ende des 17. Jahrhunderts und in den Fußstapfen der Gegenreformation erlebten die Bruderschaften einen neuen Aufschwung. O-TON Bischof „Nous avon lancé … construire.“ SPRECHER 1 Wir haben im Bistum ein Jahr der praktischen Barmherzigkeit durchgeführt, was natürlich in der Hauptsache das Leben und Wirken der Bruderschaften betrifft. Wir haben zunächst und immer wieder versucht, Menschen zu finden, die in Schwierigkeiten sind. Dabei geht es keineswegs nur um wirtschaftliche Not, sondern auch um Gefühlsarmut, seelische Not, Isolation, sogar in den Bergdörfern. Zu solchen Menschen, die auch schon von ihrem Äußeren her durch Armut und Not gezeichnet waren, sind wir dann wieder und wieder gegangen, um gemeinsam mit ihnen herauszufinden, welche neue Formen der Solidarität, des miteinander Teilens, wir schaffen könnten. MUSIK Caramusa CD I/4 „Mazulka di guagnu“ ERZÄHLER Arbeitsschwerpunkt Eins: Die Musikkultur von der gottesdienstlichen Liturgie bis zum Tanzen nach Melodien auf dem Akkordeon. Arbeitsschwerpunkt Zwei: Unter dem Vorzeichen der Armutsbekämpfung nach neuen Mitteln und Wegen zu schauen, um aus praktischer Barmherzigkeit reale Solidarität entstehen zu lassen. O-TON Bischof „Et enfin troisième formation … un cas de spiritualitée.“ SPRECHER 1 Der dritte Arbeitsschwerpunkt schließlich ist Bildung und Weiterbildung in einem christlichen Milieu. Ich bin in der glücklichen Lage, festzustellen, dass viele Jugendliche den Bruderschaften beitreten. Wobei die Motive dafür sehr unterschiedlich sein können. Für die einen ist es der polyphone Gesang. Andere haben andere Gründe. So habe ich unlängst einen Jungen gefragt: Kommst du in die Bruderschaft, weil du korsisch singen willst? Der antwortete prompt: Vater Bischof. Wenn ich nur solche geistliche Musik singen wollte, dann könnte ich in einen Gesangsverein eintreten. Davon gibt es auf Korsika nämlich viele. Wenn ich zu einer Bruderschaft gehe, dann suche ich etwas anderes! Unsere jungen Leute suchen nach dem, was wir Spiritualität nennen. Nämlich ein bisschen Sinn für ihr Leben. ATMO Prozession ERZÄHLER Diese Meinung scheinen offenbar die Confrères zu teilen, denn viele beteuerten mir gegenüber Ähnliches. Aber wie koordiniert man Sporttraining und Üben polyphoner Harmonien? Der Bruderschaftspräsident aus Bonifacio erzählt, wie er das Problem buchstäblich „werblich“ löste. Der praktizierende Korse aus Propriano, Christian Andriani, erinnert sich gern daran, wie er Generationen jüngere Leute in die Musik gelockt und mit der Musik versöhnt hat. O-TON Christian Andriani „Il y a des enfants … transmettre.“ SPRECHER 1 Es gibt 15-Jährige, also eigentlich noch Kinder, die genau wissen, dass man alles weitergeben muss. O-TON-MUSIK/ATMO ERZÄHLER Was bleibt? Diese Frage stellen sich Korsen überall und oft – ganz gleich ob sie zu den 250 000 gehören, die ständig auf ihrer Insel geblieben sind. Oder ob sie mit 600 000 anderen auf dem französischen Festland, in London oder gar in Kanada leben. Was bleibt von der steinzeitlichen Zivilisation? Von den Besatzern aus Pisa, Genua und Frankreich? Von den griechischen Flüchtlingen und Einwanderern? Von den Briefen und Schriften angesehener französischer Literaten, die Mitte des 19. Jahrhunderts als Beamte auf die Insel geschickt wurden. Diejenigen, die heute nach allem Ausschau halten, was zum nationalen Kulturerbe gehören mag, schleppen ständig ein Problem mit sich herum: Die Menschen wissen gar nicht, was sie alles wissen. Und was sie tatsächlich wissen, das finden sie zumeist nicht wert, weiterzugeben. Vom Käsemachen und Kastanienbierbrauen über toskanische Wörter und griechische Begriffe bis zur mündlich überlieferten Literatur und zu mittelalterlichen Melodien. Der professionelle Themen-, Bilder- und Musik-Sammler Christian Andreani sagt: O-TON Christian Andreani „Les gens faisait … détruire.“ SPRECHER 1 Das Leben der Leute war vielseitig. Der Landwirt war zugleich Tierzüchter mit ein paar Schafen, ein paar Kühen, ein paar Schweinen. Er salzte und räucherte Fleisch. Er pflegte seinen Garten. Er wusste etwas von der Harmonie der Natur. Und er hatte beschlossen, nichts davon zu zerstören. MUSIK Caramusa CD II/8, „Mazurka di u pughjali“ ERZÄHLER Und mehr noch: Für den Erhalt und die Weitergabe des regionalen Kulturerbes suchten die Alten nach passenden Mitteln und Werkzeugen. O-TON Christian Andreani „Et puis … avec vous.“ SPRECHER 1 Sie lebten in Familien, zu denen auch Sänger und Musiker gehörten. Seither konnte man Lieder hören, die unvergesslich wurden, ihr ganz Eigenes wurden, bis heute. So tragen die Menschen ihr Kulturerbe ständig mit sich herum. ERZÄHLER Und da offenbar der banale Satz, dass Musik keine Grenzen kenne, doch zu stimmen scheint, ließ sich das regionale oder sogar lokale musikalische Erbe dann auch nutzen zur individuellen Entdeckung der Welt. O-TON Christian Andreani „Moi j’ai beaucoup… SPRECHER 1 Ich bin durch die ganze Welt gereist. Ich habe in der ganzen Welt Kontakte bekommen durch meine Musik. Das war in den Ländern des Mittleren Osten genauso wie in ägyptischen Kirchen. Bei asketischen Mönchen wie bei Leuten, die im Wohlstand lebten. ERZÄHLER So wurde die Welt zum Sammelgebiet, im gegenseitigen Austausch von Texten, Rhythmen und Melodien – und manchmal sogar im Nachbauen von Instrumenten. O-TON Christian Andreani „Ce qui me … culture chrétienne.” SPRECHER 1 Was mich ganz besonders interessiert, ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen dieses gemeinsame Eintauchen in Musik auch für die geistliche Musik gilt; denn unsere Musik ist Teil unserer geistlichen Kultur, die wiederum eine christliche Kultur ist. O-TON-MUSIK „Oh Salutaria“ ERZÄHLER Womit wir wieder zur Rolle der Bruderschaften für das musikalische Gedächtnis Korsikas zurückgekehrt wären. O-TON Christian Andreani „Les confréries … la chapelle.“ SPRECHER 1 Die Bruderschaften nehmen Aufgaben für das kulturelle Ganze wahr: Singen, traditionelle kulturelle Animation. Dazu kommt der liturgische und geistliche Bereich. Man darf ja nicht vergessen, dass es auf Korsika tausend Kirchen und Kapellen gibt. Und dass die Leute sich in ihrer eigenen kleinen Kapelle auch wiederfinden wollen und sollen. ERZÄHLER Damit sind wir beim letzten Kapitel angelangt – vermutlich dem wichtigsten für diejenigen, die aus der Anonymität und der konsequent gelebten Gleichheit der Brüder viel von ihrer Identität beziehen. Und für die es größtes Glück ist, als Söhne einer harmonischen, wenngleich wilden Natur zwischen Berg und Meer, ihre Erfahrungen weiterzugeben. O-TON Christian Andreani „Au jour d’hui … l’oralité.“ SPRECHER 1 Das Wichtigste ist die mündlich überlieferte Weitergabe von Kultur! ERZÄHLER Was heute noch immer schwer fällt und früher erst recht schwer gefallen ist, als Korsika keine eigene kulturelle Identität besaß und keine Schriftsprache kannte. Immerhin gibt es rührige Helfer bei der Weitergabe des regionalen Kulturerbes und der Wiederentdeckung des Korsischen als einer gleichberechtigten Sprache: Die Bruderschaften und die zweisprachigen Schulen. ZITATOR Die korsische Sprache wurde lange Zeit nur mündlich überliefert. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entsprach daher die Schriftsprache der des italienischen Festlandes. Also zunächst des mittelalterlichen Toskanisch und danach der Texte Dantes. Das Französische begann sich ab 1840 durchzusetzen, vor allem durch die Einführung der Pflichtschule Ende des 19. Jahrhunderts. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges schließlich verschwand das Korsische aus dem öffentlichen Leben und wurde zum Idiom der Wohnküchen, der bäuerlichen Großeltern und der Dorf-Bars. MUSIK Caramusa CD II/5, „O Lu Mio“ ERZÄHLER Mittlerweile ist, vor allem durch den politischen Streit mit der Pariser Zentralregierung um mehr Autonomie und unverwechselbare regionale Identität, das Korsische die anerkannte Minderheitensprache. In allen Schulen auf der Insel lernen Schülerinnen und Schüler Korsisch als Fremdsprache. Einige Schulen sind darüber hinaus zweisprachig, Französisch und Korsisch, was übrigens den radikalen politischen Bewegungen immer noch zu wenig ist. Ich habe mich also in Sachen Sprache und Identität umgehört und ein paar zitierfähige Sätze eingesammelt. Zum Beispiel bei einem Lehrer in einer zweisprachigen Schule. O-TON Lehrer „Alors actuellement … du coeur.“ SPRECHER 1 Heutzutage braucht so gut wie niemand mehr das Korsische. Aber alle wollen es sprechen. Früher war das genau umgekehrt. Alle sprachen Korsisch, aber viele zogen das Französische vor, denn das war die Sprache für den Broterwerb und das Korsische die Sprache des Herzens. ERZÄHLER Und wie hat das der Lehrer in seiner Familie gehalten? O-TON Lehrer „…je les avait.“ SPRECHER 1 Meine Großeltern sprachen Korsisch. Meine Eltern überhaupt nicht. Das heißt: Die engere Familie hat es mir nicht beigebracht. Gelernt habe ich die Sprache erst in der Schule. Genauer im Collège, also ab der sechsten Klasse. Das war in den achtziger Jahren, als man Korsisch als zweite Schulsprache wählen durfte. Und bei der Gelegenheit habe ich dann gemerkt, dass ich sprachbegabt bin. ERZÄHLER Dem Schulrat geht es um mehr als nur um Sprachbegabung oder Sprachunterricht. O-TON Schulrat „On veut simplement … plus grande.“ SPRECHER 2 Man will einfach für Korsika, und das ist jetzt politisch formuliert, dass unsere eigene Identität auch als solche anerkannt wird. Es geht also um Autonomie, nicht um Unabhängigkeit. Die will so gut wie niemand mehr. Wir wollen unsere Autonomie, aber eine größere als die derzeitige. ERZÄHLER Bleibt zum Schluss der Insel-„Praktiker“ Christian Andreani. Dem geht es zwar auch um die Wiederbelebung der Inselsprache. Aber viel wichtiger ist ihm die Weitergabe des unaufgeschriebenen Lebens der Inselbevölkerung, die oft gar nicht weiß, was sie alles weiß. O-TON Christian Andreani „C’est très courant … petit pays.” SPRECHER 1 Das kommt sehr oft vor, dass in vielen Bereichen, von der Botanik über die Geschichte bis zur Archäologie, die Leute gar nicht wissen, was sie alles wissen! Nur an Weniges von dem, was sie in Tausenden von Jahren getan haben, können sie sich wirklich erinnern, können damit sogar bewusst umgehen. Und da wissen sie auch, was sie wissen. ERZÄHLER Doch wozu letztlich der Aufwand, wozu den Menschen zeigen, wie sie Erinnerung wecken und das Erinnerte dem Wissenssammler weitersagen können? O-TON Christian Andreani „Ca permet … en Corse.“ SPRECHER 1 Weil es den Dingen erlaubt weiter zu leben, auch wenn sie schon tot sind. Denn Worte bleiben. Nicht was man aufgeschrieben, sondern was man gesprochen hat, bleibt. Wem das Wort Ausdruck verliehen hat, bleibt. Die Computer kennen heute viele Wörter – aber keines in Korsisch! MUSIK Caramusa CD I/12, „U Corbu E A Volpe“ ERZÄHLER Nach einem langen Abend des Schwatzens, des Feierns und Singens habe ich mir schließlich ein Herz gefasst und meinen neuen Freund Christian gefragt, ob es überhaupt noch etwas gebe, was er fürchte. Ob er zum Beispiel den Tod fürchte. Mit seiner Antwort, die ich so oder zumindest so ähnlich erwartet hatte, sagten wir uns dann „Adieu“! O-TON Christian Andreani „Les Corses n’aiment pas … on n’a pas peure.“ SPRECHER 1 Die Korsen lieben den Tod nicht. Aber die Korsen haben auch keine Angst vor dem Tod. Heutzutage hat jeder Angst vor dem Tod. Warum sollte ich mich vor dem Tod fürchten? In meinem Alltag lebe ich mit Toten, mit Menschen, die ich gekannt habe und die mich bereichert haben. Das Erinnern macht mich stark. Bei uns gibt es ein Sprichwort: Der Tote bereichert den Lebenden und erlaubt ihm zu wachsen. Der verwesende Leib wirkt befruchtend; er gleicht einem Dünger. Also braucht man doch keine Angst vor dem Tod zu haben! MUSIK Caramusa CD I/12, „U Corbu E A Volpe“ 1