COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur "Aus Forschung und Gesellschaft" Testobjekt Mensch - Gefährliche Versuche für bessere Medikamente? von: Uwe Springfeld Redaktion: Kim Kindermann O-Töne: Inga Maria Grandt, Probandin Prof. Roland Martin, Neurologe, Direktor des Instituts für Neurologie und MS-Forschung am Universitätsklinikums Eppendorf Prof. Christian Pestalozza, Jurist, FU-Berlin, Mitglied der Ethikkommission Berlin Prof. Frank Wagner, Medizinischer Leiter der Charité Research Organization, Berlin Musik: Meredith Monk "Chinooks whispers" Sprecherin: Das Jahr 1996. Im nordnigerianischen Bundesstaat Kano grassierte eine Meningitis-Epidemie. Hirnhautentzündung. Der weltgrößte Pharmakonzern Pfizer versorgte über 200 Kinder mit seinem Antibiotika Trovan. Aber nicht aus Menschenfreundlichkeit, nicht uneigennützig. Der Konzern wollte vielmehr nachweisen, sein heute in Europa verbotenes Experimetal-Antibiotikum sei wirksamer als ein Konkurrenzprodukt. Das Experiment ging schief. Elf Kinder starben. 189 erlitten schwere Hirnschäden, sind heute teilweise gelähmt, blind oder taub. Knapp 15 Jahre später, im Juni 2010, hat das oberste Gericht der Vereinigten Staaten die Klage der betroffenen Familien auf Entschädigung zugelassen. Sprecher: Selten werden Menschen so schonungslos zum Testobjekt für gefährlich Versuche gemacht. Im Prinzip erinnert diese Geschichte an den Herbst 2009, als die Impfmittel gegen die Schweinegrippe auf den Markt kamen. Impfmittel, von denen die Kritiker sagten, sie seien zu wenig erprobt. Eine Massenimpfung käme einem gigantischen Menschenversuch gleich. Mit ungewissem Ausgang. Musik: Meredith Monk "Chinooks whispers" Sprecherin: Wirklich gesundheitsgefährlich kann ein Menschenversuch werden, wenn ein Unternehmen die Nebenwirkungen kaum bekannter, experimenteller Substanzen erforscht. Beispielsweise, welchen Einfluss solch eine Substanz auf die Spermienproduktion hat. Oder wie ein neuer chemischer Wirkstoff zur Behandlung psychischer Erkrankungen oder chronischer Schmerzen auf vollkommen gesunde Menschen wirkt. Oder wenn, wie jetzt in Hamburg, eine neue Therapie zur Behandlung von Multipler Sklerose ausprobiert wird. Take 1. (Atmo Vogelgezwitscher mit Spatz) Sprecher: Universitätsklinikum Eppendorf. Eine Stadt in der Stadt. Über 100 Gebäude auf der grünen Wiese verstreut. Alte hanseatische Klinkerbauten, gemischt mit Würfelarchitektur der Siebziger Jahre. Kaum Lieferverkehr auf den schmalen Zufahrten zwischen den Gebäuden. Ruhige Gehwege mit gemächlich herumspazierenden Patienten und Besuchern. Spatzen zwitschern über der zentralen Auskunft im Hauptgebäude. Take 2. Bitte als Atmo, nicht als O-Ton einsetzen, dabei das HERVORGEHOBENE BITTE HÖRBAR (Atmo Frage nach Frau Grandt; Wortlänge: 0:16) (Helferin): mhm- Tastaturklappern. (Helferin): Frau Grandt ist in der MS- Sprechstunde. Die Patienten sind nicht hier. Im Gebäude W34 befinden die sich. - (Autor): Wo ist das bitte? (Helferin verstehbar): Sie gehen raus, komplett raus, über den Kreisverkehr sozusagen, über den Kreisverkehr - da ist ein Flachbau. Im Erdgeschoss. W 34 links. (Autor): Alles klar. Danke schön - (auf Linoleum quietschende Schritte) Sprecher: Überm Auskunftstresen prangen auf einer schwarzen Tafel drei weiße Kreidebuchstaben. C und M und B. Sie zeugen vom Besuch der Sternsinger, die Anfang Januar die Initialen der der heiligen drei Könige, Caspar, Melchior und Balthasar zurückgelassen haben. Sie stehen für die Segensbitte "Christus mansionem benedicat". Christus segne dieses Haus. So flehen Katholiken in aller Welt um Gottes Schutz vor jedwedem Unglück. Diesen Schutz wünscht man auch Inga Maria Grandt. Testperson eines Menschenversuchs, der im Mai 2010 hier gestartet wurde. Take 3. (Grandt-15; 0:17) Das war in einem Gespräch mit einer MTA und einem Arzt und dann sag ich: Ich hab das so verstanden, dass das in Amerika auch an Patienten - Nee, nee. Das waren Mäuse. Wir sind die ersten hier am Menschen ausprobieren. Ach so sag ich. Na Okay - Sprecher: Inga Maria Grandt. Die burschikose Fünfzigjährige mit den blonden Haaren ist selbstbewusst, laut, lacht viel. Sie ist gern unter Menschen, ein Kumpeltyp. Auch körperlich wirkt sie nicht so, als müsse sie bei jedem schweren Karton einen Mann um Hilfe bitten. Dabei fällt es ihr heute schwer Kartons zu tragen. Auf der EDSS-Skala, mit der "Multiple Sklerose"-Patienten den Grad ihrer Behinderung messen, steht Inga Maria Grandt auf Stufe vier. Was bedeutet: Sie kann keinen ganzen Kilometer mehr laufen. Am rechten Fuß hat sie eine Hebeschwäche, sie hinkt kaum sichtbar. Sie kann sich nicht mehr auf zwei Sachen gleichzeitig konzentrieren und ist permanent müde. Fatigue-Syndrom nennen das die Ärzte, die in Inga Maria Grandts Leben eine immer größere Rolle spielen. Der für sie wichtigster Arzt fragte sie dann auch, ob sie an einem Versuch teilnehmen würde. Take 4. (Grandt-14; 0:17) Als ich bei dieser Studie zugesagt hatte, wurde mir auch gesagt, dass das in Amerika schon erprobt ist. Aber dann habe ich herausgekriegt, dass das an Mäusen erprobt ist. Dass ich weltweit der erste Mensch bin, bei dem das gemacht worden ist. Sprecher: Als gesunde Frau hätte sie vermutlich abgelehnt. Nicht so nach ihrer Erkrankung. Jetzt sieht sie im Menschenversuch ihre Chance auf Stillstand der Erkrankung. Getrieben von Hoffnung auf ein besseres Leben vertraut sie den Ärzten und deren Methoden. Christus mansionem benedicat. Christus segne dieses Haus? Musik: Meredith Monk "Chinooks whispers" Sprecherin: Wissenschaftler setzen in ihrer Arbeit nicht auf göttliche Offenbarungen. Wie bei all ihren Experimenten gehen die Forscher auch bei Menschenversuchen von mehr oder minder gesicherten, wissenschaftlichen Annahmen aus. Sie planen Menschenversuche als exakt umrissene, wohldefinierte Eingriffe in die körperliche oder geistige Gesundheit der jeweiligen Versuchspersonen. Vom Experiment erwarten sie Daten, die sie als Indizien für oder gegen ihre Annahme interpretieren. Aus den Resultaten hoffen die Wissenschaftler, auf neue Erkenntnisse über den Menschen schließen zu können. Sprecher: Bestandteil eines Menschenversuchs ist die willentliche und wissenschaftliche Beeinflussung der beteiligten Versuchspersonen. Daher ist nicht jede wissenschaftliche Untersuchung schon deshalb ein Menschenversuch, nur weil daran Menschen beteiligt sind, sagt der Christian Pestalozza, der als Jurist in der Berliner Ethikkommission sitzt. Take 5. (Pestalozza-2-kurz; 0:25) Der Teilnehmer muss einwilligen. Er darf zur Teilnahme nicht gedrängt werden. Er muss einsichtsfähig sein, um seine Einwilligung überhaupt erteilen zu können. Es muss eine Versicherung bestehen, die auch dann eintritt, wenn Schäden entstehen im Laufe der klinischen Prüfung, wenn der Antragsteller nicht haften würde, wenn die kein Verschulden haben. Sprecher: Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke beispielsweise arbeiten an einer internationalen Studie mit, die Aufschluss über einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Krebserkrankung liefern soll. Dafür beobachten sie die Studienteilnehmer direkt in deren Alltag. Sie registrieren, was die Menschen im normalen Leben essen und welche Krankheiten bei ihnen irgendwann auftreten. Die Wissenschaftler nehmen jedoch keinen kontrollierten Einfluss auf die Lebensführung dieser Menschen. Die Studie selbst ist kein kein Menschenversuch. Anders jedoch eine Studie aktuelle der Europäischen Raumfahrtagentur ESA. Sie lässt sechs Personen über 500 Tage in einen Container einschließen. Als Vorbereitung auf einen mehrjährigen Marsflug wollen die Wissenschaftler Verhaltensänderungen der Versuchspersonen in abstumpfender Umgebung studieren, wie zum Beispiel Änderungen der Aggression, der Sexualität und im Umgang mit Autorität. Der weitaus größte Teil der Menschenversuche wird heute zu medizinischen Zwecken durchgeführt. Im Zulassungsverfahren neuer Medikamente sind Menschenversuche nicht nur von eminenter, wissenschaftlicher Bedeutung. Sie sind sogar gesetzlich vorgeschrieben. Sprecherin: Die Pflicht zu Menschenversuchen versteckt sich in den zahlreichen Verweisen auf Verordnungen der europäischen Gemeinschaft, wie beispielsweise der Verordnung 1901/2006. Dort heißt es, ein Humanarzneimittel müsse umfassende Studien, einschließlich vorklinische und klinische Prüfungen, durchlaufen haben. Was in der Praxis nichts anderes bedeutet als: bevor experimentelle chemische oder biologische Substanzen zu möglichen pharmakologischen Wirkstoffen werden, müssen sie am Menschen ausprobiert werden. Erst dann dürfen sie als Medikamente auf den Markt kommen. So soll gewährleistet werden, dass Arzneimittel sicher, von hoher Qualität und in der Zielgruppe wirksam sind. In Paragraf 22 des Arzneimittelgesetzes ist wiederum geregelt, welche Unterlagen für die Zulassung eines neuen Arzneimittels eingereicht werden müssen. Dazu gehören die Ergebnisse chemischer, biologischer und sonstiger Prüfungen, Ergebnisse pharmakologischer und toxischer Versuche, sowie die Ergebnisse klinischer Prüfungen oder sonstiger ärztlicher Erprobung. Also auch wieder: Menschenversuche. Musik: Meredith Monk "Chinooks whispers" Sprecher: Was treibt einen Menschen dazu, sich als Versuchsobjekt für ein Experiment zur Verfügung zu stellen? Für gesunden Menschen findet man die Antwort in einschlägigen Internet-Foren. Dort wird zuerst nach der Aufwandsentschädigung und dem Honorar gefragt. Und ob das Geld zu versteuern, respektive ob es auf das Arbeitslosengeld zwei anzurechnen sei. Anders bei Inga Maria Grandt. Sie wird von Hoffnung getrieben. Die Zuversicht, dass die Multiple Sklerose, an der sie 2004 erkrankte, doch noch zum Stillstand kommt. Sprecherin: Multiple Sklerose ist eine Autoimmunkrankheit, bei der das körpereigene Immunsystem die Zellen des zentralen Nervensystems bekämpft. Für die Erkrankten sind die Folgen katastrophal. Sie leiden unter Lähmungserscheinungen, Sehstörungen, und einer unerklärlichen, tiefen Müdigkeit, die auch nach langen Schlafstunden nicht vergeht. Verschlimmert sich die Krankheit, können Sprachstörungen und unkontrolliertes Zittern bis zur Bettlägerigkeit dazukommen. Eine Heilung gibt es bis heute nicht. Take 6. (Grandt-10; 0:23) 2007 war ich Spritzenmüde. Ich musste jeden Tag spritzen. Und mir tat schon meine ganze Haut weh. Und ich hab so Quaddeln gekriegt und so Löcher in der Haut und im Grunde genommen, als sich auch mein Privatleben geändert hatte, als klar wurde, dass ich mich von meinem Mann trennen muss. Hab ich dann nur noch Medikamente genommen wegen meiner Müdigkeit. Aber ansonsten nichts. Sprecher: In dieser Situation traf Inga Maria Grandt auf den Mediziner Roland Martin. Der schlanke Mittfünfziger mit den grauen, kurzen Haaren hatte schon sein halbes Forscherleben das Immunsystem erforscht. Viele seiner Erkenntnisse hatte er aber nicht direkt am Menschen gewonnen, sondern an Mäusen. Erkenntnisse, wie zum Beispiel dort eine ähnliche Form der Multiplen Sklerose verläuft und sogar, wie man diese unheilbare Krankheit eventuell stoppen kann. Doch die Erkenntnisse lassen sich nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Take 7. (Martin-6; 0:20) Vielleicht der wichtigste Schritt, der häufig unterschätzt wird, ist, dass am Menschen wirklich vieles anders ist als im Tier und wir eine Reihe von Untersuchungen auf den Menschen zuschneiden mussten, erst natürlich im Reagenzglas in vitro testen mussten, bevor man zur Übersetzung an den Menschen gehen kann. Sprecherin: Das Immunsystem schützt den Körper vor Krankheitserregern wie Bakterien und Viren. Wird eine Körperzelle von einem Eindringling befallen, pflanzt sie gewissermaßen eine Flagge auf ihre Oberfläche. Die signalisiert dem Immunsystem: Hier ist ein Eindringling. Allerdings haben alle möglichen Zellen aus vielen Gründen alle möglichen Flaggen gehisst. Das kann das Immunsystem verwirren und zu Autoimmunkrankheiten führen. Sprecher: Dem Immunsystem von Mäusen kann man heute schon den Unterschied zwischen richtigen und falschen Flaggen beibringen. Stirbt eine Zelle im Organismus einen natürlichen Zelltod, wird sie vom Immunsystem ignoriert. Präsentiert man im Fall der Mäuse-Multiplen-Sklerose dem Immunsystem nun viele abgestorbene Nervenzellen, attackiert es nach einiger Zeit auch keine lebenden Zellen mehr. Die Folge: Die Krankheit schreitet nicht mehr fort. Sie ist zum Stillstand gekommen, sagt Roland Martin. Take 8. (Martin-7; 0:30) Bei der Studie, die wir jetzt durchführen, handelt es sich um eine so genannte Phase eins Studie oder first in man - es ist also das erste mal, dass diese Therapie am Menschen eingesetzt wird, und während der Phase eins würde man das Medikament an gesunden, freiwilligen Personen prüfen - Mit der Therapie, die wir untersuchen, müssen wir das an Patienten durchführen, und wir testen momentan die Verträglichkeit möglicher Nebenwirkungen dieses Verfahrens in einer sehr sorgfältigen und vorsichtigen Dosissteigerung am Menschen in einer Phase eins. Sprecher: Welches Risiko eine Versuchsperson wie Inga Maria Grandt bei solchen Menschenexperimenten eingeht, kann niemand genau sagen. Der wissenschaftliche Ansatz klingt für sie plausibel. Und dann ist da noch die Zuversicht, dass ihr Immunsystem endlich aufhört an ihrem zentralen Nervensystem herumzunagen. Take 9. (Grandt-11; 0:25) Dann klang das für mich ganz schlüssig. Weil: es ist mein eigenes Blut, ich muss mich nicht spritzen - und vor allen Dingen es soll erreichen, dass der Ist-Zustand bliebt, und dann würde das für 12 Monate halten. Dass man keinen Schub kriegt. Das wäre genial. Und das leuchtete mir so ein in dem Moment, dass ich sagte: ja. Das, das würde ich gerne machen. Take 10. (Atmo) Fußgängerschritte auf Asphalt, übergehen in Linoleum-Quietschen. Sprecher: Schlüssig und erfolgversprechend sind Menschenversuche immer. Vorher. Auch der vom Montag, den 13. März 2006 am Northwick-Hospital in Nord-London. Das Nothwick Hospital ist kein Krankenhaus, sondern eine ganze Krankenstadt mit Märkten und Einkaufszentren, Restaurants und Cafés, Kirchen und sogar einem Hindu-Schrein. Kilometerlange Korridore und Straßen verbinden die unterschiedlich großen Waschbetonwürfel. Die vom britischen National Health Service betriebene Anstalt ist so groß, dass man spielend leicht auch ein kleines privates Unternehmen irgendwo darin wegstecken kann. Am Ende eines Ganges im siebten Stock des Hauptgebäudes. Dort, wo es Teppichboden statt Linoleum gibt, Tapeten statt abgekratzter Ölfarbe an den Wänden, Polstergarnituren statt Plastikstühlen. Hier sind die Zimmer mit den 36 Betten der Parexel International Ltd. Sprecherin: Parexel ist kein wissenschaftliches Forschungsinstitut, sondern ein privater Dienstleister. Eine sogenannte CRO, eine Contract Research Organization. CRO's führen für Pharmaunternehmen Experimente mit Menschen durch. Sprecher: Aber der Unterschied ist nicht von Belang. Denn der Menschenversuch, der an diesem Märzmontag des Jahres 2006 direkt zur Katastrophe führte, war auch in Deutschland genehmigt. In England konnte er nur schneller durchgeführt werden. Sprecherin: Wie im Hamburger Experiment ging es auch hier um ein neues Medikament gegen Multiple Sklerose und andere Autoimmunkrankheiten. Diesmal war die Idee, per experimenteller Substanz das über- oder unteraktive Immunsystem der Patienten auf ein Normalmaß zu regulieren. Sprecher: Es dauerte knapp eine viertel Stunde, da rissen sich sechs der acht Versuchspersonen vor Schmerz die Hemden vom Leib. Sie schrien und einige glaubten, ihr Kopf könnte explodieren. Andere übergaben sich, dritte brachen bewusstlos zusammen. Bei einem der Versuchspersonen zeigten sich sechs Monate später die Symptome eines Lymphdrüsenkrebses. Bei einem anderen, dem Installateur Ryan Wilson, wurden die Finger und Fußzehen schwarz und mussten amputiert werden, wie er der BBC sagte und man heute noch im Internet hören kann. Take 11. Sofort draufgehen, grottenschlechte Qualität (Wilson-1; 0:15) That go round ... I hope it's not a lot. Sprecher 2 (als voice over): Ein Stück vom Ziegefinger muss amputiert werden, ein Stück vom Mittelfinger und auch ein stück von Ringfinger. Zusätzlich muss noch jede einzelne Fußzehe amputiert werden, ja. die Ärzte wissen aber noch nicht, wie viel sie mir zusätzlich vom Fuß wegnehmen müssen. Take 12. (Atmo Charité research Organization - Ankunft kurz) Sprecher: Wie jede Katastrophe ist auch das Londoner Experiments ein undenkbarer Ausnahmefall mit minimaler Wahrscheinlichkeit, sagen die Experten. Mit welchen Risiken Wissenschaftler kalkulieren, erfährt man in Berlin. Im zwanzigsten Stock des Bettenhauses ist eine Ausgründung der Charité untergebracht, die Charité Research Organization. Als Gesellschaft mit beschränkter Haftung führt sie für private und öffentliche Auftraggeber Menschenversuche durch. Frank Wagner ist ihr medizinischer Leiter. Wenn er das Risiko für die Versuchspersonen beschreibt, spricht er lieber von Medikamenten statt von experimentellen Substanzen, die im Menschenversuch ausprobiert werden. Take 13. (Wagner-13; 0:27) Was kann man relativ häufig eigentlich bei solchen Medikamenten erwarten? Das sind im populärwissenschaftlichen Sinne allergische Reaktionen - Solche Nebenwirkungen leichterer Art haben auch wir schon gesehen - Um es kurz zu machen: Haben wir hier schon mal ein schwerwiegendes Ereignis gehabt im Zusammenhang mit einer Studie, die wir durchgeführt haben? Das kann ich klar verneinen. Musik: Meredith Monk "Chinooks whispers" Sprecherin: Wissenschaftler schätzen die Risiken unter anderem aus Erfahrungswerten ein. Sie ahnen, welche Folgen die Einnahme bestimmter Substanzklasse haben kann. Hinzu kommen konkrete Erfahrungen aus vorangegangenen Tierversuchen. An ihnen ermittelt man beispielweise die letale Dosis, ab welcher Menge pro Kilogramm Körpergewicht das Tier an Vergiftung stirbt. Gleichzeitig gewinnt man erste Erkenntnisse darüber, wie verträglich der Stoff ist und ob er wie gewünscht die Krankheit bei einem Tier heilen kann. Auf molekularbiologischer Ebene unterscheidet sich jedoch der Körper eines Tiers stark von dem des Menschen. Wenn man über bestimmte Krankheiten von Menschen wie beispielsweise der Multiplen Sklerose so viel wüsste wie über die Modell-Multiplen- Sklerose einer Maus, könnte man die Krankheit selbst als nahezu besiegt betrachten. Hinzu kommt der Risikofaktor Mensch. Take 14. (Wagner-12; 0:23) Man weiß aus den weltweiten Registern, dass das größte Risiko tatsächlich ist, dass ein Proband oder Patient eine vorhandene Begleiterkrankung verschweigt. Oder dass ein Proband oder Patient eine Medikation, die er einnimmt, verschweigt. Oder dass zum Beispiel ein Proband oder Patient unerkannt Drogen einnimmt. Sprecher: Im Fall der experimentellen Substanz von London hatten alle Sicherungen versagt. Die Erfahrung der Wissenschaftler sagte: OK. Im Experiment an Menschenaffen hatten sich auch keine Auffälligkeiten gezeigt. Deshalb hielten die Wissenschaftler und Genehmigungsbehörden die Risiken eines Menschenversuchs für vertretbar. Doch vertretbar bedeutet: Der Menschenversuch ist nicht ohne Risiko, sagt Frank Wagner und nennt jetzt den Menschenversuch politisch korrekt Arzneimittelstudie. Take 15. (Wagner-10; 0:23) Hat eine Arzneimittelstudie ein Risiko für die Entwicklung eines neuen Medikamentes? Ja. Selbstverständlich bleibt ein Restrisiko. Jeder Mensch trägt ein Lebensrisiko, und es ist keine Frage, dass eine singuläre Intervention, nämlich die Einnahme eines neuen Medikamentes, ein Risiko bedeutet. Dieses Risiko ist aber sehr klein. Sprecher: Bei aller Kritik ist eines sicher. Man braucht Menschenversuche. Experimente an Menschen sind notwendig. Sie gehören zum Fortschritt in der Medizin. Es ist naiv, etwas anderes zu glauben. Man muss an wenigen Freiwilligen die Sicherheit und Wirkungsweise experimenteller Substanzen testen, wenn man neue und wirkungsvolle Medikamente herstellen will. Versuche an Zellkulturen oder an lebenden Tieren können solche Experimente nicht ersetzen. Deshalb führt an solchen Versuchen mit freiwilligen Testpersonen heute kein Weg vorbei. Doch der Schutz der Versuchsperson muss auf jeden Fall gewahrt blieben, sagt Christian Petalozza, der Jurist. Selbst auf Kosten wirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Interessen. Take 16. (Pestalozza-14; 0:25) Das wichtigste Augenmerk der Ethikkommission ist der Schutz der Teilnehmer. Wenn es einen Konflikt gibt, geht der Schutz der Teilnehmer vor. Das sagt das europäische Recht ganz glasklar. Das ist das primäre Interesse: Der Teilnehmer muss geschützt werden auch wenn es auf Kosten einer an sich gut vertretbaren Forschung geht. Dann muss die Forschung zurückstehen. Sprecherin: Medikamente gegen Autoimmunkrankheiten sind momentan wirtschaftlich besonders interessant. Laut Arzneimittelreport waren 2009 die Kosten der größten deutschen Krankenkasse, der Barmer GEK, für Medikamente gegen Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose, aber auch Rheuma, um satte 25 Prozent gestiegen. Allein das umsatzstärkste Rheumamedikament kam auf 360 Millionen Euro Umsatz. Das umsatzstärkste Medikament gegen Multiple Sklerose machte noch 190 Millionen Euro. Sprecher: Selbst wenn Neuentwicklungen laut Lobbyvertretung der forschenden Arzneimittelhersteller zwischen 500 bis 800 Millionen Euro kosten, fällt es nicht schwer, sich angesichts solcher Zahlen eine Goldgräberstimmung in diesem Bereich vorzustellen. Welche Gesundheitsrisiken hält man angesichts solcher gigantischer Geldsummen im Menschenversuch für sachlich begründet, tragbar und zumutbar? Musik: Meredith Monk "Chinooks whispers" Sprecherin: August 2001: Die Firma Bayer ruft den Cholesterinsenker Lipobay zurück. September 2004: Die Firma Merck nimmt das Rheumamedikament Vioxx vom Markt. November 2007: Wieder muss die Firma Bayer ein Medikament zurückrufen. Diesmal ist es Trasylol, das bei Herzoperationen angewandt wird. Alle drei Medikamente führten zu schweren, mitunter lebensbedrohlichen Nebenwirkungen. Sprecher: Bei der Entwicklung von Medikamenten geht es daher in den ersten, risikoreichen Experimenten eindeutig um eine Sachfrage. Man will herausbekommen, ob die experimentelle Substanz tatsächlich auf ein späteres Medikament hoffen lässt. Im Pragmatikerdeutsch der forschenden Unternehmen: Man dringt auf eine Go- oder No-Go-Entscheidung. Auf weitere Forschungen mit weiteren Menschenversuchen oder auf die Einstellung der Experimente. Sprecherin: Ist die Substanz öfter an Menschen ausprobiert und sinkt entsprechend das Risiko, tritt die Sachentscheidung langsam in den Hintergrund. Dafür zeigen Menschenversuche starke Elemente des Marketings. Die Unternehmen berichten darüber im verquasten Wirtschaftsdeutsch für Finanzmarkt-Analysten. Glaubt man zudem einer Untersuchung, die die Bundesärztekammer unter dem Titel "Finanzierung von Arzneimittelstudien durch pharmazeutische Unternehmen und die Folgen" 2010 publizierte, werden Experimente auf ein positives Ergebnisse hin designt. Sprecher: Dass solche Versuche selbst dann nicht risikofrei sind, wenn die experimentelle Substanz nach Herstellerangaben bereits an 50.000 Versuchspersonen gestestet wurde, zeigte sich während der Meningitis-Epidemie 1996 in Nigeria. Der Menschenversuch des Pharmakonzerns Pfizer, das eigene Experimental-Antibiotikum gegen ein Konkurrenzprodukt hinterließ 189 behinderte Kinder und kostete elf sogar das Leben. Vergleichswirkstoff, Placeboeinsatz, auswertende Statistik - alles dient häufig nur, die Wirksamkeit der eigenen Substanz herauszustreichen und entsprechend zu publizieren. Blieb trotz aller Anstrengungen das positive Ergebnis aus, wird nur selten publiziert. Take 17. (Pestalozza-6; 0:23) Es gibt keine allgemeine Publikationspflicht. Also gleichgültig, wie die Studie ausgeht, ob sie vorzeitig abgebrochen werden muss oder dem Sponsor vorzeitig das Geld ausgeht oder ob die Studie erfolgreich ist - Nichts davon muss veröffentlicht werden, so dass man nicht von Haus aus umfassend informiert ist und zugreifen kann. Gucken wir mal, ob das nicht schon von dem und dem erprobt worden ist. Sprecher: Der Jurist Christian Pestalozza befasst sich auch in der Berliner Ethikkommission mit Menschenversuchen. Einer Ethikkommission müssen alle Anträge auf Menschenversuche vorgelegt werden. Gegen die Ablehnung der Ethikkommission darf kein Menschenversuch durchgeführt werden. Take 18. (Pestalozza-14; 0:25) Das wichtigste Augenmerk der Ethikkommission ist der Schutz der Teilnehmer. Wenn es einen Konflikt gibt, geht der Schutz der Teilnehmer vor. Das sagt das europäische Recht ganz glasklar. Das ist das primäre Interesse: Der Teilnehmer muss geschützt werden auch wenn es auf Kosten einer an sich gut vertretbaren Forschung geht. Dann muss die Forschung zurückstehen. Sprecherin: Die Ethikkommission lehnt einen Menschenversuch beispielsweise dann ab, wenn eine experimentelle Substanz zwar ein neues Medikament und eine erfolgreiche Therapie verspricht, die Risiken der Versuchspersonen in den vorangehenden Experimenten jedoch unzumutbar groß erscheinen. Oder wenn eine neue experimentelle Substanz zu einem Leiden am Menschen getestet werden soll, das heute schon gut medikamentös behandelbar ist. In diesem Fall sind selbst relativ geringe Risiken für die Versuchspersonen nicht hinnehmbar. Sprecher: Hamburg, Universitätsklinik Eppendorf. Die Behandlung der Multiplen Sklerose der Mäuse war abgeschlossen. Die Wissenschaftler um Roland Martin hatten die Therapie auf den Menschen übertragen. Take 19. (Martin-10; 0:22) Wir erwarten, dass man durch diese Behandlung sehr langfristig blockiert. Momentan werden wir Patienten ein Jahr nachbeobachten, wir rechnen aber damit, dass die Behandlung sogar länger anhält. Das heißt: Patienten würden einmal behandelt, und dann wird, und das ist die Hoffnung von uns, ohne dass wir es bisher bewiesen haben, die Entzündungsaktivität und die Autoimmunreaktion gestoppt sein. Take 20. (Atmo Vogelgezwitscher mit Spatz übergang zu Laborgeräusche ) Sprecher: Der 26. Mai 2010 war ein Mittwoch. Morgens um 8.00 Uhr war es für Inga Maria Grandt dann so weit. Der Versuch begann. Mit ihr als Versuchsperson. Take 21. (Grandt-9; 0:27) Der nächste Tag war dann der Haupttag, wo ich dann morgens um 8.00 Uhr in eine Zellabteilung gekommen worden bin. Und dann musste ich das da unterschreiben, wurde mir erklärt, was gemacht wird, was es da für Nebenwirkungen geben kann - eigentlich ist mir erst an dem Tag richtig klar geworden, dass das nicht mal eben SO ist, Ich hatte immer gedacht, das ist doch alles nicht so schlimm und dann ist mir doch ganz mulmig geworden. Sprecher: Dann wurden Inga Maria Grandt etliche Milliliter Blut abgezapft und im Nebenraum zentrifugiert. Sie selbst bekam einen Ersatzstoff. So gab es keine Kreislaufprobleme. Und einige Stunden später gab es das eigene, aufbereitete Blut wieder zurück. In einer Dosis, die nur einen Bruchteil von derjenigen war, bei der man eine Reaktion des Körpers erwarten konnte. Take 22. (Atmo): Piepen eines Monitors Sprecher: Trotzdem. Die nächsten vier Stunden verbrachte Inga Maria Grandt an Monitoren und mit einer Sitzwache am Bett. Nicht, weil etwas im Experiment an ihr schief gelaufen war. Sondern aus Routine. Falls etwas schief laufen würde. War aber nicht. Auch nicht in den folgenden Wochen, wie anschließende Untersuchungen zeigten. Take 23. (Martin-14; 0:15) Ich bin sehr optimistisch, aber in der Vergangenheit hat's immer wieder Fälle gegeben, in denen Forscher, Ärzte optimistisch waren, und dann Studien nicht unbedingt Nebenwirkungen produziert haben, aber zumindest negativ verlaufen sind. Und darauf müssen wir zumindest vorbereitet sein. Sprecher: Und wieder das Prinzip Hoffnung. Zuversicht. Gottvertrauen? Take 24. (Grandt-17; 0:24) Ich hab erstmal gedacht, dass es ganz individuell für den Einzelnen ist, dann dass es für 12 Monate hält, also dass das Drumherum sich für mich leichter in das tägliche Leben integrieren lässt, und ich hoffe: wenn das anschlägt, das wäre genial. Ich werde jetzt 50 demnächst und wenn das so bliebt wie es ist, dann kann ich damit alt werden. Sprecher: Bis Juni 2010 hatten sich bei Inga Maria Grandt keine schädlichen Wirkungen der experimentellen Therapie gezeigt. Was aber nicht heißt, dass diese Therapie das hält, was sich die Wissenschaftler von ihr versprechen. Nur eine von zehn experimentellen Substanzen schafft den Weg vom ersten Menschenversuch im Labor bis zum Medikament in der Apotheke. Wenn diese experimentelle Therapie eine davon sein sollte, hat die Welt sie auch dem Mut der Inga Maria Grandt zu verdanken. 1